Erwin J. Haeberle

Das Haeberle-Hirschfeld-Archiv
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Dieser Vortrag wurde für eine Tagung am 6. Mai 2013 in Berlin geschrieben. Anlass war der 80. Jahrestag
der Plünderung und Schließung von Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft.
Abgedruckt in Sexuologie, Vol. 20, 2013, No. 1-2, pp. 51-54


Wir können hier einen stolzes, rundes Jubiläum feiern: Ein Jahrhundert organisierte Sexualwissenschaft.

Vor hundert Jahren nämlich, 1913, wurde in Berlin eine Ärztliche Gesellschaft für Sexual­wissenschaft und Eugenik gegründet - von Iwan Bloch, Albert Eulenburg, Magnus Hirschfeld und anderen, zumeist ebenfalls jüdischen Kollegen. Es war die weltweit erste sexual­wissen­schaftliche Gesellschaft überhaupt. Ihr folgte allerdings bald eine zweite, denn noch im selben Jahr gründete, ebenfalls in Berlin, der jüdische Arzt und Hirschfelds Rivale Albert Moll eine konkurrierende Internationale Gesellschaft für Sexualforschung. Kurz darauf aber brach der Erste Weltkrieg aus, und so wurde der Wettstreit der beiden Gesellschaften, kaum begonnen, gleich wieder eingeschränkt.

Nach Kriegsende aber gelang es Hirschfeld schon 1921, den ersten Fachkongress in Berlin zu organisieren - eine Internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage. Tagungsort war das Langenbeck-Virchow-Haus. Fünf Jahre später, 1926,  zog Albert Moll nach mit seinem ersten Internationalen Kongress für Sexualforschung, den er sogar im Reichstag eröffnen konnte. In den Folgejahren gab es weitere konkurrierende Kongresse  - in Kopenhagen, London, Wien und Brünn. Dann aber machten die Nazis der Rivalität für immer ein Ende, nicht nur in Deutschland, sondern überall im von ihnen besetzten Europa. Hirschfeld starb schon 1935 im französischen Exil, Moll vier Jahre später entrechtet und einsam zuhause in Berlin. Ihre sexologischen Kollegen waren ins Ausland geflohen oder kamen bei  ihrer Verfolgung um. So wurde die viel versprechende Pionierphase der neuen Wissenschaft eines von vielen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Als Symbol dieser Gewalt hat sich allen Interessierten die Plünderung und Schließung von Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft eingeprägt, die heute vor genau 80  Jahren von Nazitrupps organisiert wurde  - am 6. Mai 1933.  Hirschfelds Werke wurden dann 4 Tage später, zusammen mit anderen „undeutschen Schriften“, wie etwa denen von Thomas Mann und Erich Kästner, öffentlich auf dem Opernplatz verbrannt.

Die verheerenden Folgen dieses Ereignisses für die deutsche Sexualwissenschaft aber sind bisher kaum diskutiert worden. Sie waren schlimmer, als heute den meisten bewusst ist, denn sie löschten nicht nur das öffentliche, sondern auch das kollektive akademische Gedächtnis an unsere Pioniere und ihre wissenschaftlichen und organisatorischen Leistungen aus.  Vor allem aber wurde weithin vergessen, wie international, ja global, die deutschen Sexologen damals ausgerichtet waren. Die Spätfolgen dieses Vergessens reichen bis in unsere Gegenwart hinein und werden uns sehr wahrscheinlich auch noch unserer Zukunft berauben.

Da ich hier eingeladen bin, um über ein Archiv zu sprechen, das ich selber gegründet habe, erlauben Sie mir bitte, meine Sorge an diesem Beispiel zu illustrieren.

Im Jahre 1994 habe ich, ermuntert von der Leitung des Robert Koch-Instituts, dort ein Archiv für Sexualwissenschaft gegründet. Genauer gesagt, handelte es sich sehr bald um zwei Archive, die sich gegenseitig ergänzten - eines auf bedrucktem Papier und ein zweites, rein elektronisches, im Internet. Bei meiner Pensionierung Anfang 2001 bot mir der damalige Präsident der Humboldt-Universität, Prof. Jürgen Mlynek, für meine beiden Archive die nötigen Räumlichkeiten an, die ich auch sofort bezog. Drei Jahre später schenkte ich dann meine private Bibliothek und Sammlungen der Universität, wo sie seit 2009 im Jakob-und Wilhelm-Grimm-Zentrum als Haeberle-Hirschfeld-Archiv der Forschung zur Verfügung stehen.

Inzwischen aber ist mein elektronisches Archiv immer weiter gewachsen, nicht nur an Umfang, sondern auch an Bedeutung. Heute liefert es, für alle Nutzer kostenlos, sexual­wissenschaftliche Informationen in 15 Sprachen. Kostenlos war es allerdings nie für mich selber, denn in den letzten 12 Jahren habe ich es vollständig aus eigener Tasche finanziert. Die Universität duldet es auf ihrem Server, hat es aber anderweitig nie unterstützt. Und noch eine Besonderheit: Schon 2003 hatte ich, als weltweit Erster, einen „open accessOnline-Kurs (MOOC) ins Netz gestellt, dem bald weitere folgten. Allerdings fand das damals in Deutschland keinerlei Beachtung. Anders in China, wo man mich schon ein Jahr später einlud, meine Kurse in Pekings „Großer Halle des Volkes“ vorzustellen. Ich konnte sie dort zwar nur in englischer Sprache anbieten, aber das tat dem Erfolg keinen Abbruch. Durch meine Vorführung angeregt, lieferten chinesische Kollegen bald eine chinesische Über­setzung aller meiner Kurse, die sich dann schon zu einem kompletten Studiengang von 6 Semestern addiert hatten. Heute werden damit in China jährlich Tausende von Sexual­erzieher(inne)n ausgebildet. Seither habe ich deshalb auch immer wieder die Leitung der Humboldt-Universität gebeten, ihr mein neuartiges, international konkurenzloses  Modellprojekt vorstellen zu dürfen. Aber auf diese Bitten bekam ich nie eine Antwort.

Wie gesagt, das Haeberle-Hirschfeld-Archiv war usprünglich nur der gedruckte, sozusagen traditionelle Teil eines Doppelarchivs, dessen anderer, innovativer Teil nur in elektronischer Form existierte. Beide zusammen sollten Berlin sexualwissenschaftlich wieder eine global führende Rolle sichern. Gleichzeitig wollte ich daran erinnern, dass die Sexualwissenschaft in Berlin entstanden war und eben diese globale Rolle schon einmal gespielt hatte. Deshalb gab ich mit dem Umzug an die Humboldt-Universität auch meinem Online-Archiv den ergänzen­den Namen „Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwissenschaft“. Der Name Hirschfeld sollte damit noch einmal auf die enge Verbindung beider Archive hinweisen, die eben beide seinen Namen im Titel führen.

Nun gibt es, wie wir alle wissen, außerhalb der Universität schon lange Bestrebungen, Hirschfelds Institut neu entstehen zu lassen. Die Initiative dazu kam und kommt hauptsächlich aus der Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Community, für deren Rechte Magnus Hirschfeld als der prominentete Vorkämpfer gilt. So verdienstvoll diese Initiative aber auch war und ist,  so hatte und hat sie doch den Nachteil einer einseitigen Akzent­setzung.  Dies macht es ihren Gegnern allzu leicht, das Ganze als politisches Aktivistenprojekt  einer sexuellen Minderheit abzutun. Wer aber in Hirschfeld nur einen Schwulenvorkämpfer sieht, wird ihm in keiner Weise gerecht und vergisst seine Verdienste als Wissenschaftler. Sein Institut war immer mehr als eine Aktivistenzentrale. Es war ein Institut für Sexual­wissenschaft im weitesten Sinne, nicht nur für Sexualmedizin, oder Gender Studies oder „Homostudies“, wie man das vor Jahren in Holland einmal genannt hat. All das und mehr wurde in seinem Hause betrieben. Hirschfeld studierte sein Leben lang die gesamte Bandbreite des menschlichen Sexualverhaltens und kämpfte für die sexuellen Rechte nicht nur der Schwulen, sondern aller sexuellen Nonkonformisten, ja aller Menschen in der ganzen Welt.

Sowohl Albert Moll wie Magnus Hirschfeld waren in ihrer Arbeit schon früh international ausgerichtet und sahen auch ihre Werke ins Englische übersetzt. Moll hatte, ebenso wie Hirschfeld, schon als junger Mann die USA bereist, unter anderem auch in Frankreich studiert und unterhielt enge Kontakte nach England. Hirschfeld  war sogar damals bereits global vernetzt. Schon 1928,  als  Mitbegründer der Weltliga für Sexualreform (WLSR), pflegte er Verbindungen zu deren Mitgliedern auf allen Kontinenten. Als er schließlich 1930 zum zweiten Mal die USA besuchte und von dort eine Reise rund um den Globus antrat, konnte er viele, bereits bestehende Beziehungen nutzen und neue  aufbauen. Sein späterer Bericht über diese Weltreise erschien in drei Sprachen und schilderte seine Bemühungen, die von ihm mitbegründete Sexualwissenschaft in allen besuchten Ländern bekannt zu machen. Zudem brachte er auch noch einen chinesischen Studenten mit nach Europa. Kurz, Hirschfeld war auch bei der wissenschaftlichen Globalisierung den meisten seiner Kollegen weit voraus.

Auf seiner Weltreise hatte er aber auch sexualwissenschaftlich interessante Objekte für sein Institut gesammelt, das ja teilweise auch ein vielbesuchtes Museum war. Da Hirschfeld jedoch am Ende nicht nach Berlin zurückkehren konnte und im Exil starb, und da vieles von dem Gesammelten verloren ging, fehlt unserer Anschauung  ein wichtiger Aspekt seines Wirkens und Wollens . Auch hier hatte wieder das ganze Spektrum  menschlichen Sexualver­haltens im Blick. Kurz, Hirschfeld und sein Institut stellten einen sehr breit gefächerten Versuch dar, alle Aspekte des Sexuellen - die medizinischen, historischen, ethnologischen, religiösen, sozialen und politischen, aber auch künstlerischen - zu erforschen und für das größtmögliche Publikum darzustellen. Wer heute also aufs Neue diesen Versuch machen will, muss ihn auch in seinem vollen Umfang wollen.

Damit komme ich auf mein Doppelarchiv zurück. Das eine bietet Gedrucktes vor Ort, das andere weltweit eine ständig wachsende, mehrsprachige digitale Fachbibliothek mit sexologischen Lexika, Lehrbüchern, Büchern und Zeitschriftenartikeln. Dazu kommt noch der bereits erwähnte Online-Studiengang und manches andere. Zusammengenommen, stellt dieses doppelte Angebot nun schon seit mindestens 4 Jahren de facto  -  wenn auch nicht de jure - ein neues Hirschfeld-Institut dar, das sogar seinen Namen trägt.  Vor allem hat es, wie damals schon, wieder eine globale Ausrichtung, nur dass es heute, dank Internet, seine Zielgruppen rings um den Erdball viel schneller und direkter erreicht als jemals vorher. In der Tat ist die Kombination des gedruckten Haeberle-Hirschfeld-Archivs mit dem elektronischen Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwissenschaft die moderne, logische Fortführung von Hirschfelds eigener Arbeit. Ganz in seinem Sinne ziehen die beiden Archive  in Kombination auch wieder internationale Besucher an, allerdings in sehr viel größerer Zahl als früher:  Allein schon mein Online-Archiv hatte im vergangenen Monat April mit über 12 Mio. Zugriffen, 950 000 Page Views und 500 000 Visits mehr Besucher aus mehr Ländern als Hirschfelds altes Institut in allen 14 Jahren seines Bestehens. Im ersten Drittel dieses Jahres sind es schon über 45 Mio. Zugriffe, 3 Mio. Page Views und über 1,8 Mio. Visits.

Leider ist es mir nie gelungen, der Universität nahezubringen, was hier entstanden ist, wie nah wir in Berlin schon an das Ziel eines wiedererstandenen Hirschfeld-Instituts herange­kommen sind. Einer der wenigen, die es begriffen, ist der hier anwesende, erst im vergang­enen Jahr nach Berlin berufene  Kollege Andreas Kraß.  Er legte der Humboldt-Universität sehr schnell einen gut ausgearbeiteten und durchaus realistischen Plan vor, der in mehreren Schritten auch ganz offiziell zu einem neuen Hirschfeld-Institut geführt hätte. Natürlich gab ich ihm dafür auch meine enthusiastische Unterstützung.

Zu unserer großen Enttäuschung wurde der Plan jedoch abgelehnt. Und noch etwas anderes scheiterte kläglich: Vor 2 Jahren wollte mir eine reiche amerikanische Sammlerin ein komplettes Museum mit 4000 Objekten erotischen Kunsthandwerks schenken, wenn es mir gelänge, es an der Universität unterzubringen. Sogar die Transportkosten wollte sie zahlen und eine Anschubfinanzierung leisten. Die Objekte stammen aus allen Regionen der Erde und allen historischen Epochen. Das hätte als Ergänzung natürlich sehr gut zu einem neuen Hirschfeld-Institut gepasst, dessen eigenes Museum teilweise wieder hergestellt und es auch sofort bei der großen Öffentlichkeit populär gemacht. Meine wiederholten Hinweise und Anfragen an die Leitung der Humboldt-Universität blieben aber sämtlich unbeantwortet. Herr Dr. Simon vom Centrum Judaicum, der heute morgen schon hier gesprochen hat, versuchte daraufhin, eine Alternative in Berlin zu finden - leider ebenfalls vergeblich. Jetzt hat mir die Sammlerin mitgeteilt, dass sie nicht länger warten kann, und dass sie das Museum notgedrungen an eine amerikanische Universität verschenkt, die - und das ist eine sehr bittere Ironie  - ihr Geschenk zum Anlass nimmt, damit eine neues Institut zur Erforschung der Sexualität einzurichten.

Diese Erfahrung bestätigte mir noch einmal, dass die Humboldt-Universität nicht in der Lage ist, ihre eigene Chance für ein neues Hirschfeld-Institut zu nutzen oder auch nur zu sehen. Mir bleibt nun also nichts anderes übrig, als mein Online-Archiv ebenfalls an eine auslän­dische Universität zu geben, vielleicht noch über eine kurze Zwischenstation völliger Selbständigkeit. Für Berlin wird es jedenfalls verloren sein, und der Name Hirschfeld wird aus seinem Titel verschwinden.

Was in Berlin bleibt, ist das Haeberle-Hirschfeld-Archiv mit seinen Büchern, Zeitschriften, historischen Dokumenten und anderen Sammlungen, das ja auch schon internationale Forscher angezogen hat, selbst aus Japan. Es ist zentral gelegen in einem sehr schönen, modernen Gebäude, und es ist ausbaufähig. Es kann leicht durch eigene Bestände der Universitätsbibliothek ergänzt werden, und das ist teilweise auch schon geschehen. Seit seiner Gründung haben es ausserdem noch andere Unterstützer durch eigene Sachspenden erweitert, und so hat es das Potenzial, auch weit über Berlin und Deutschland hinaus eine ständig wachsende Bedeutung zu gewinnen.

Glücklicherweise  gibt es außerdem in Berlin noch andere Archive, die sexualwissenschaftlich wertvoll sind - das schwule Museum, den Spinnboden, die Sammlung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Ich selbst wohne nicht mehr in Berlin, bin mittlerweile ziemlich alt geworden und höre eines Tages mit meiner Arbeit auf. Es wäre aber mein Wunsch, dass alle Interessierten weiterhin alle Berliner Papier-Archive besuchen, mein eigenes eingeschlossen. Besonders aber hoffe ich, dass auch mein Online-Archiv weiterhin genutzt wird, ganz gleich, auf wessen Server es schließlich landet. Und schließlich hoffe ich noch, dass Sie alle hier in Berlin immer enger zusammenarbeiten, um, wie Hirschfeld es wollte, allen sexuell Unterdrückten, wo immer sie auch sind, durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit zu verhelfen.