Erwin J. Haeberle

Auf Zufallswegen zum unerwarteten Ziel

Mein Leben mit der Sexualwissenschaft



                                                                                         © Reto Klar



Inhalt



Vorbemerkung

Wie inzwischen weithin - wenn auch nicht überall - bekannt, entstand um die Wende zum 20. Jahrhundert in Berlin eine spezielle Wissenschaft des Sexuellen. Diese Sexualwissenschaft hatte eine lange Vorgeschichte, verdankte aber ihren Namen und ihren besonderen Charakter als eigene akademische Anstrengung mehreren sozial engagierten Ärzten und einigen anderen Wissenschaftlern. Ihre wichtigsten Vertreter waren Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld, Albert Moll und Max Marcuse. (1) Sie gründeten die ersten sexualwissenschaftlichen Gesellschaften, gaben die ersten Zeitschriften heraus, schrieben die ersten Standardwerke und organisierten die ersten Kongresse. (2)

Am Beispiel meines eigenen beruflichen Weges versuche ich nun zu zeigen, welche Folgen die plötzliche, gewaltsame Vernichtung der Sexualwissenschaft in Deutschland hatte, und zwar auf durchaus verschiedenen Ebenen: Zum Beispiel ermöglichte sie jemandem wie mir in den USA einen Quereinstieg, aber andererseits verhinderte sie auch einen dauerhaft erfolgreichen Wiederaufbau am Ort ihrer Entstehung, denn hierzulande war die Leistung der sexologischen Pioniere inzwischen vergessen. Deren komplizierte, teilweise widersprüchliche Geschichte, ihre Motive und Ziele waren entweder unbekannt oder wurden missverstanden. Teilweise wurden sie auch aus ideologischen Gründen absichtlich missdeutet.


Einleitung

Was hier folgt, ist ein sehr persönlicher Text -  Erinnerungen eines glücklichen Einzelnen, der als Mittdreißiger ein für ihn neues Wissensgebiet entdeckte, neugierig dessen Ebenen, Berge und Täler erkundete und dann in einer seiner reizvollsten Gegenden auf einem eigenen Hügel Stellung bezog. Von diesem Aussichtspunkt aus kann ich heute zufrieden umher- und zurückblicken und dankbar im Stillen für mich wiederholen, was Edith Piaf einmal so eindrucksvoll in die Welt hinaus geschmettert hat: Je ne regrette rien.

Zum Schreiben motiviert mich vor allem dreierlei: 1. Ich möchte möglicherweise geneigten Lesern meine Motive, Handlungen und Erfahrungen selber erklären, so dass sie dabei nicht auf Behauptungen und Spekulationen von anderen angewiesen sind. 2. Ich möchte indirekt wenigstens teilweise ein Bild der Zeit vermitteln, in der mein recht untypischer Lebenslauf möglich war. 3. Ich möchte meine persönliche Geschichte auch als Kontrast zur gleichzeitigen typischen Entwicklung der Sexualwissenschaft in Deutschland dokumentieren und verstanden wissen. Vielleicht lässt sich ja für spätere Interessenten daraus etwas lernen.

Natürlich hätte es nahe gelegen, bei dieser Niederschrift in allerlei Nebenwege abzubiegen und dort erhellende Zusatzinformationen aufzusammeln. Dieser Versuchung habe ich aber bewusst widerstanden und liefere nun einfach nur eine trockene Chronologie, eine Aufzählung von beruflichen Daten und Fakten, ohne jede erzählerische Raffinesse. Wie sich selbst dabei herausstellt, war mein beruflicher Werdegang überraschend kurvenreich, und das spiegelte sich natürlich auch in meinem untypischen persönlichen Bildungsweg wider.

Auf diesen sehr wichtigen Aspekt meines Lebens will ich hier aber nicht eingehen. Ich sage nur so viel: Theater, Kunst und Musik in allen ihren Formen und auf allen ihren Ebenen haben dabei immer eine sehr wichtige Rolle gespielt. Ich hatte auch das Glück, praktisch alle berühmten Museen der Welt besuchen zu können. Bedeutende künstlerische Ereignisse der letzten 65 Jahre durfte ich live erleben, sowohl in Europa wie in den USA. Viele der größten und populärsten Schauspieler, Sänger, Tänzer und Musiker des vorigen Jahrhunderts lernte ich direkt in ihren Bühnen- und Konzertauftritten kennen.– von Böhm, Solti und Karajan über Abbado, Barenboim und Petrenko zu Elisabeth Schwarzkopf und Jessye Norman, von Serge Lifar, Léonide Massine, Merce Cunningham und Marlene Dietrich bis zu Liberace und den Jackson Five. Einiges davon erwähne ich nur im Zusammenhang mit meinen Studienjahren, um wenigstens punktuell an die vielen kulturelle Einflüsse zu erinnern, denen ich damals ausgesetzt war. (3)

Es geht mir also noch nicht einmal im Ansatz um Memoiren. Die sähen ja ganz anders aus und hätten auch so manches aufschlussreiche, amüsante, traurige und bedrückende Erlebnis erzählt. Zum Beispiel:

  • Wie ich in Bochum als Zwölfjähriger Bernhard Minetti als Macbeth auf der Bühne erlebte und dann in den folgenden Jahren dort nicht nur die deutschen Klassiker, sondern auch mehr als die Hälfte von Shakespeares Stücken sah, und wie mich das für mein späteres Leben prägte,
  • wie ich bei einem privaten Schüleraustausch für mehrere Jahre meine Ferien in Paris verbrachte, dort alle wichtigen Theater und Museen besuchte und so zum Bewunderer der französischen Kultur wurde,
  • wie ich ein Sommer-Stipendium für das Shakespeare Institute in Stratford-upon-Avon bekam und was ich dort erlebte,
  • wie ich mit einem weiteren Stipendium einen Sommer an der Universität Montpellier verbrachte, dabei die Camargue erkundete und in der römischen Arena von Nîmes meinen ersten und letzten Stierkampf sah,
  • in welcher Umgebung ich Dr. Otto von Habsburg kennenlernte, und warum ich ihn dort mit kaiserliche Hoheit anredete,
  • wie ein alter ungarischer Kollege und seine Frau mich in ihrem Auto für Besichtigungen übers Land kutschierten, wie wir dabei Operettenlieder von Kálmán sangen, und wie die Frau plötzlich ihren Ärmel hochzog und mir auf ihrem Unterarm die in Auschwitz eintätowierte Häftlingsnummer zeigte,
  • wie ich die Söhne von Iwan Bloch, Max Marcuse, Felix Theilhaber und Bernhard Schapiro, die Witwe von Ludwig Levy-Lenz und den Neffen von Albert Moll kennenlernte,
  • wie ich in Hollywood im wahrlich fabulösen Penthouse eines reichen Mannes Urlaub machte, wie dieser kurz darauf aus Habgier zum Mörder wurde und schließlich als Lebenslänglicher im Zuchthaus starb,
  • wie ich während des Vietnamkrieges in San Francisco einen amerikanischen Deserteur bei mir versteckte und ihm schließlich zu einem ehrenhaften Abschied aus der Armee verhalf,
  • wie meine erste, sehr schöne Wohnung auf San Franciscos Nob Hill von Unbekannten in Brand gesetzt wurde, während ich in Europa auf Reisen war. Als ich zurückkam, fand ich nur noch verkohlte, durchnässte Trümmer. Wegen Löschwasserschäden war das ganze Haus geräumt worden. Ich vermutete eine heiße Sanierung durch den Hauseigentümer, der nun eine extreme Luxussanierung durchführen konnte. Schließlich war der Nob Hill schon immer und ist bis heute eine sehr begehrte, teure Wohngegend. Ich hatte jedenfalls alles verloren: Kleidung, Bücher, Manuskripte und meine Schreibmaschine – einfach alles. Ich besaß nur noch meinen Reisekoffer mit Inhalt und das, was ich auf dem Leibe trug.
  • wie einer meiner Studenten, ein katholischer Priester, in einer großen Tageszeitung die Gründe für seinen geplanten Freitod darlegte und dann diesen Plan auch ausführte,
  • wie mir ein prominenter Kommunist den Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus erklärte, und
  • wie ein Mann, der mich nicht leiden konnte, mir das größte Kompliment meines Lebens machte.

Auf alle diese Anekdoten und noch andere, die für Memoiren möglicherweise hilfreich oder sogar wesentlich sind, verzichte ich hier. Auch die für meine Karriere wichtigsten Personen skizziere ich nur knapp - wie z.B. meinen ältesten und besten Freund und Verleger Werner Mark Linz, meine amerikanischen Mentoren Eric A. Blackall (Cornell), Norman Holmes Pearson (Yale) und Robert Bellah (UC Berkeley). Alle vier sind inzwischen verstorben. Auch den Gründer unseres Instituts in San Francisco, Ted McIlvenna charakterisiere ich nicht genauer. Es waren allesamt faszinierende Persönlichkeiten, die von mir eine gründliche Würdigung wohl verdient hätten. Ich unterlasse sie aber, um mich strikt auf die markantesten Stationen meines eigenen akademischen Lebenslaufs zu konzentrieren. Den möglichen Vorwurf einer unnötig detaillierten, eitlen Selbstdarstellung muss ich wohl oder übel ertragen, denn ich habe in Deutschland Widersacher, die mir aus durchsichtigen Motiven seit jeher öffentlich jedwede Qualifikation und Leistung absprechen, und deren Verdächtigungen ich eben nur mit einer Aufzählung von Fakten entgegen treten kann.

Ich weiß sehr wohl, dass mein Text damit im Grunde pedantisch und langweilig wird - ein weiterer Nachteil, den ich in Kauf nehmen muss. Als kleinen Ausgleich will ich aber jetzt wenigstens doch noch die letzten beiden Andeutungen aus meiner obigen Aufzählung konkretisieren: Armand Forel, hochgeachteter Armen-Arzt und prominenter schweizerischer Kommunist, verhalf mir zu einer profunden politischen Einsicht, als er mir scherzhaft erklärte: Im Kapitalismus wird der Mensch durch den Menschen ausgebeutet; im Kommunismus dagegen ist es umgekehrt. Und das größte Kompliment, das ich jemals bekam, sprach mir ein Mann aus, der mich hasste und jahrelang zu drangsalieren versuchte. Endlich sagte er zu mir: Herr Haeberle, ich traue Ihnen nicht. Sie sind nicht so dumm, wie Sie immer tun.

Wie schon gesagt, Sexualwissenschaftler bin ich spät und nur durch Zufall geworden, aber dann mit Begeisterung und großem Vergnügen bis heute geblieben. Ich habe dadurch viele interessante Menschen und fremde Länder kennengelernt, die ich sonst nie gesehen hätte. Und schließlich habe ich auf diese Weise manches über menschliches Verhalten erfahren, von dem ich nie etwas geahnt hatte, und das mir beim Verständnis unserer Welt sehr geholfen hat. Aber der Reihe nach:

Meine Herkunft

Meine Eltern waren beide im selben Jahr 1902 in meiner Heimatstadt Bochum geboren und hatten keinerlei höhere Bildung genossen. Meine Mutter war während ihres ganzen langen Lebens immer nur Hausfrau. Einige Jahre nach dem plötzlichen Tod meines Vaters mit 60 Jahren, zog sie nach Brüssel, wo meine Schwester mit einem EU-Beamten verheiratet war. Als auch er plötzlich noch sehr jung starb, konnte meine Mutter ihrer Tochter im Haushalt helfen und auch bei der Betreuung ihrer beiden kleinen Söhne. Zu ihrer großen Freude konnte sie dann noch die erfolgreichen Universitätsabschlüsse ihrer geliebten Enkel erleben. Wie sie oft sagte: Dies waren die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Sie starb im Alter von 94.

Meine Eltern in den 1930er Jahren


Meine Mutter Hella, mein Vater Erwin

Mein Vater hatte eine Lehre bei einer örtlichen Bank absolviert, sich aber schon als sehr junger Mann selbständig gemacht als Buchhalter für mehrere kleine und mittlere, zumeist jüdische Firmen. Als Folge der neuen Rassengesetze von 1935 erhielt er dann aber ein Berufsverbot.

Nach dem Krieg sprach er nur wenig über diese für ihn sicherlich traumatische Erfahrung. Ich erinnere mich aber, dass er einmal davon erzählte, wie er im Zug nach Amsterdam fuhr und eine große Menge Bargeld, eingenäht in sein Jackett, für einen seiner früheren jüdischen Kunden über die Grenze schmuggelte. Dessen Familie wartete dort auf ihre Ausreise nach Argentinien. Es war ihr eigenes Geld, dass sie bei ihrer hastigen Flucht nicht hatten mitnehmen können.

Damals begann mein Vater eine neue Karriere als selbständiger Handelsvertreter für mehrere Schuhfabriken, von denen er Verkaufsprozente bekam. Nach einem vielversprechenden Start endete aber auch diese Laufbahn sehr plötzlich mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Gleich am ersten Tag wurde mein Vater eingezogen. Sechs Jahre später, im Frühjahr 1945, desertierte er dann, immer noch Gefreiter, von der Westfront, die schon recht nah an Bochum herangerückt war. Er zog Zivilkleidung an, vermied Verhaftung und Internierung durch die alliierten Truppen und kam nach Hause.

Wenn ich nun an meinen Vater in den ersten, sehr schwierigen Nachkriegsjahren denke, so bleiben mir drei besonders starke Eindrücke:

1. Offensichtlich lebte er psychologisch immer noch gern in der Welt, die er vor den Nazis gekannt und geliebt hatte. Das zeigt sich in seiner Sprache, die reich an jiddischen Ausdrücken war. Die Wörter Tacheles, koscher, meschugge, die Mischpoche, der Zores, und der Dalles waren Teil seines alltäglichen Wortschatzes. Gelegentlich wurde dies mit sarkastischen Definitionen angereichert, wie etwa: Gannef, der Schwiegersohn, oder Tinnef, das Hochzeitsgeschenk usw. Diese unausrottbare Gewohnheit war natürlich ein Echo seines früheren Berufslebens. Wie er damit durch das gesamte Dritte Reich kam, ist mir schleierhaft.

2. Im Jahre 1946 fand er heraus, dass die Tochter eines seiner früheren jüdischen Kunden überlebt hatte und in der Nähre von Bochum wohnte. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie aus dem KZ Buchenwald befreit worden war. Als wir sie dann besuchten, erfuhren wir, dass sie einen anderen Überlebenden aus dem gleichen Lager geheiratet hatte, und dass sein junger Neffe, ein weiterer Überlebender aus Buchenwald, bei ihnen wohnte. Mein Vater erklärte mir und meiner 8-jährigen Schwester die Situation. In diesen Hungerjahren interessierte uns aber etwas anderes: Die neue jüdische Familie bekam, wie andere Holocaust-Überlebende, besondere Lebensmittelkarten. So konnte sie uns mehrfach zu gutem Essen und nachmittags zum Kaffeetrinken einladen. Für uns Kinder waren das immer Festtage. Und ganz sicher ging es unseren Gastgebern genauso nach all den Jahren ihres unsäglichen Leidens.

Bald gelang es dem jungen Neffen, durch ein Hilfsprogramm für jüdische Waisen nach New York auszuwandern. Dort erinnerte er sich wohl an uns ewig hungrige Kinder und schickte meiner Schwester und mir ein CARE-Paket. Neben Nahrungsmitteln enthielt es auch ein Comic-Heft über Woody Woodpecker. Ich verstand es natürlich nicht, las es aber trotzdem immer wieder und beschloss, auch irgendwann und irgendwie nach Amerika zu gehen. (Der Neffe selbst kehrte später nach Deutschland zurück und besuchte uns dann noch einmal in Bochum.) Ganz besonders erinnere ich mich an einen Frühlingsnachmittag. Es muss der 14. Mai 1948 gewesen sein, denn wir feierten die Gründung Israels mit Kaffee und Kuchen. Der Kuchen war ganz mit weißem Zuckerguss überzogen und mit einem blauen Davidstern aus Buttercreme verziert. Außerdem gab es noch kleine Papierfähnchen mit dem gleichen Muster. So sah ich zum ersten Mal die Flagge Israels. Ohne die Bedeutung des Anlasses richtig zu verstehen, war ich dennoch beeindruckt und, wie unsere Gastgeber und meine Eltern, freudig aufgeregt. (Erst viele Jahre später fand ich heraus, dass der 14.Mai auch der Geburts- und Todestag von Magnus Hirschfeld war.)

3. Diese lange vergessenen Erinnerungen tauchen mir erst jetzt beim Schreiben wieder auf. Aber ein Erlebnis aus dieser Zeit habe ich nie vergessen. Ja, es hat mich durch mein ganzes Leben begleitet: Eine Lektion fürs Leben, die mir mein Vater mit einem einzigen Satz erteilte. Eines Tages – ich muss damals 10 oder 11 Jahre alt gewesen sein - zeigte er mir in Nazi-Propagandabuch aus den 30er Jahren, das er in den Trümmern eines Hauses unserer stark zerstörten Stadt gefunden hatte. Es enthielt ein ausklappbares, großes Foto von mehreren zusammenhängenden Seiten. Darauf sah man eine riesige Menge von Anhängern bei einer Freilichtveranstaltung der Nazi-Partei vor einer Kulisse von Hakenkreuzfahnen. Mein Vater zeigte auf das Bild und sagte: Sieh Dir diese Leute ganz genau an und vergiss nie, dass sie alle dagegen waren. Ich verstand sofort. Er sprach von der Dummheit, Leichtgläubigkeit, Verführbarkeit und Heuchelei der Massen. Und er sprach gleichzeitig über unsere Polizisten, Zugschaffner, Ladenbesitzer, Lehrer und Nachbarn. Selbst als Kind hatte ich ja mitbekommen, wie viele von ihnen fanatische Anhänger Hitlers gewesen waren und nun behaupteten, immer heimliche Gegner gewesen zu sein. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr erkannte ich die Gefahren blinder Autoritätshörigkeit und unbefragter Akzeptanz allgemeiner Gewissheiten. Ich sah auch, dass Erwachsene mit tiefer Überzeugung nicht nur andere, sondern auch sich selber belügen. So entwickelte ich, noch vor meiner Pubertät, eine skeptische und kritische Einstellung gegenüber jeder etablierten Ordnung.


Auf Umwegen in die USA

1. Köln, Freiburg, Glasgow, Heidelberg

Im Frühjahr 1956 machte ich das Abitur in meiner Heimatstadt Bochum. Dort gab es damals noch keine Universität, und so begann ich mit dem Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Köln. Dort las ich zunächst alle Romane von Thomas Mann, außer Joseph und seine Brüder, bei dem ich nicht über die ersten Seiten hinauskam. (Den ersten, genialen Satz allerdings habe ich bis heute nicht vergessen). Am stärksten berührte mich die sprachliche Meisterschaft am Ende des Dr. Faustus, wenn mir das Buch selbst auch reichlich konstruiert vorkam. Mein abschließendes Urteil: Der Zauberberg war sein bestes Werk. Außerdem hörte ich u. a. eine Vorlesung über Stefan George und studierte einen entsprechenden Bildband über den George-Kreis. Dabei fiel mir auf, dass seine Anhänger physiognomisch fast alle den gleichen Typ von Jüngling verkörperten, auch die beiden Brüder v. Stauffenberg. Es wurde mir klar, dass er in sie alle verliebt war. Die Ausnahme war ein frühverstorbener Teenager, von ihm Maximin genannt, der weniger attraktiv aussah, den er aber anscheinend besonders vergöttert hatte. Ich empfand das sektenhafte Getue, das der Meister um sich herum organisierte, als reichlich verklemmt und albern. (Dass ich auch mit Thomas Mann einen verklemmten Homosexuellen kennengelernt hatte, war mir damals noch nicht bewusst.) Umso lieber besuchte ich die Vorlesung von Carl Niessen, einem echten Pionier der Theaterwissenschaft und Begründer einer bedeutenden dazu passenden historischen Sammlung. Er war damals schon ein distinguierter älterer Herr, der bei seinem immer fesselnden Vortrag auf dem Podium hin- und herging. (Einmal löste sich dabei eine gläserne Deckenlampe und zerschellte direkt vor seinen Füßen, aber er ließ sich dadurch nicht unterbrechen und redete und ging einfach weiter.) Was er uns über den Ursprung des Dramas aus antiken religiösen Kulten erzählte und über die Entstehung und Bedeutung der griechischen Tragödie und Komödie, beeindruckte mich sehr, ebenso seine Erklärung verschiedener Dramenformen in nicht-westlichen Kulturen. Ich ging auch in die Oper, die damals aushilfsweise noch im Audimax der Universität beheimatet war und sah dort Don Giovanni und dann, in der Innenstadt, eine karnevalistische Puppensitzung des Hänneschentheaters, die mir den echten kölschen Geist vermittelte. So waren meine beiden ersten Semester im Großen und Ganzen für mich durchaus ein Gewinn, und Köln habe ich seitdem auf immer ins Herz geschlossen.

Meine Eltern konnten mich für ein Leben außer Haus finanziell nicht unterstützen. Um an staatliche Förderung zu kommen, hätte ich sie verklagen müssen, aber das lehnte ich ab. Also fiel ich, nicht zum letzten Mal, durch alle bürokratischen Raster. Deshalb arbeitete ich notgedrungen in der vorlesungsfreien Zeit als Fabrikarbeiter zuhause im Kohlenpott, und zwar in einer Benzolreinigungsanlage und im rotierenden Schichtbetrieb, d.h. eine Woche Morgenschicht, die nächste Woche Mittagsschicht, die übernächste Nachtschicht, und dann wieder von vorne. Das war sehr anstrengend, selbst für einen jungen Körper. Prompt bekam ich eine Benzolvergiftung und musste ohne Bezahlung aussetzen. Das war dann mein Problem, denn eine Versicherung für diesen Fall gab es nicht. (Was inzwischen viele vergessen haben: Die Arbeitswelt damals war ziemlich rau, ja eigentlich brutal.) Um aber richtig und in Ruhe studieren zu können, wollte ich unbedingt an einem Ort bleiben, auch in den Ferien. Nach einem Jahr unternahm ich deshalb das Wagnis, an die damals kleinere Universität der schönen Schwarzwald-Stadt Freiburg Br. zu wechseln und vor Ort eine dauerhafte Arbeit zu suchen. Tatsächlich gelang mir dies auch, und so wurde ich bei der katholischen Studentengemeinde zum Hausmeister mit freier Wohnung in einer großen Baracke (sie ist schon vor vielen Jahren abgerissen worden).

Als Student auf der Bühne
Eugene Ionesco: Die kahle Sängerin

1957: Die Komödie wurde von der Deutschen Studentenbühne der Universität produziert.
Ich führte Regie und spielte eine der Hauptrollen. Hier stehe ich in der Rolle des Mr. Smith hinter einer Mitstudentin, die meine Frau spielt

Als ich für das Sommersemester 1957 nach Freiburg kam, fühlte ich mich dort von Anfang an wohl. Zu meiner Überraschung feierte die Universität damals gerade ihr 500-jähriges Jubiläum, und ich erinnere mich, dass ich bei einem entsprechenden Festakt in der neuen Stadthalle in einem historischen Kostüm zusammen mit vielen anderen Statisten als Speerträger auftrat. (Genau 56 Jahre später zog ich wieder nach Freiburg, aber diesmal auf Dauer und mit meinem Lebenspartner.)

Mein erster Eindruck von der Universität war allerdings negativ: Martin Heidegger hielt noch seine immer überfüllte Vorlesung, die auch mit Lautsprechern in die Eingangshalle und Korridore übertragen wurde. Für uns jüngere Studenten war das aber alles nur orakelhaft kalauerndes Geraune, das keine Beachtung verdiente. Kurz gesagt: Wir hatten einfach für sein Seyn keine Zeit. Wir wussten ja von seiner früheren Bewunderung für Hitler und von seiner Mitgliedschaft in der Nazi-Partei. Was konnte denn eine Philosophie schon wert sein, die einmal vom völkischen Irrsinn der Nazi-Ideologie begeistert gewesen war? Sehr gerne hörte ich aber, was der Romanist Hugo Friedrich im Audimax über Montaigne zu sagen hatte und nahm auch mit großem Gewinn am Seminar des Sprecherziehers Dr. Kuhlmann teil. Er spielte uns alte Tonaufnahmen von berühmten Schauspielern der Kaiserzeit vor – eine Offenbarung über den Wandel der Darstellungskunst. Außerdem ließ er uns einmal der Reihe nach aus Goethes Faust I laut vorlesen. Seine Zwischenfragen enthüllten dann, dass die allermeisten Seminarteilnehmer die Bedeutung von vielen seinerzeit gängigen Alltagswörtern wie etwa Feuerleiter und spanische Stiefel nicht mehr kannten. Im ersteren Fall wussten sie nicht, dass eine waagerecht auf Dächern liegende Fluchtleiter gemeint war, an denen nachts ein Kätzlein schmächtig entlang schleicht. Im zweiten Fall nahmen sie an, es handle sich um ein modisches Beinkleid des Spätmittelalters. Solche Missverständnisse bedeuteten natürlich auch, dass die Studenten den realitätsgesättigten sprachlichen Reichtum des Textes nicht mehr vollständig wahrnehmen konnten – wieder ein Schock der Erkenntnis über historischen Wandel.

Dann entdeckte ich, dass es an der Universität eine deutsche Studentenbühne gab, und dort bewarb ich mich als Schauspieler und Regisseur. Und ich bekam auch wirklich die Chance, ein mir bis dahin völlig unbekanntes Stück des neuen absurden Theaters zu inszenieren - Eugene Ionesco’s Farce Die kahle Sängerin (im Original La cantatrice chauve). Ich nahm das Textbuch mit nach Hause und las es zum ersten Mal im Bett. Nach der Lektüre nur weniger Seiten, bekam ich einen derartig heftigen Lachanfall, dass ich fast auf den Boden fiel. In meinem ganzen Leben hatte ich nie etwas Komischeres gelesen. Und es war eine völlig neue Art von Komik, die, das wurde mir sofort klar, einen besonderen Darstellungsstil erforderte – nicht realistisch, sondern verfremdet und unterkühlt, mit sparsamer, sehr präziser Gestik. Dabei musste der Text völlig ernst genommen und with a straight face gespielt werden, aber auf keinen Fall naturalistisch. Es war ein Stück, das von der Sprache lebte, und Erfolg wie Misserfolg hingen davon ab, wie wirkungsvoll man diese, auf der Bühne bisher ungewohnte, aber in ihrer totalen Banalität auch gleichzeitig allzu vertraute Sprache über die Rampe brachte.

Die Aufführung wurde ein voller Erfolg, und dies verschaffte mir ein persönliches Stipendium, das mir erlaubte, für zwei Wochen an einem internationalen Treffen der Studententheater bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel teilzunehmen. Dort sah ich eindrucksvolle Studentenproduktionen von Dramen zweier bedeutender Autoren, von denen ich nie zuvor gehört hatte – dem kroatischen Shakespeare Marin Drzic und dem damals noch lebenden Belgier Michel de Ghelderode. Ansonsten beeindruckten mich natürlich die Ausstellung selbst mit ihrem neuen Atomium und die Stadt Brüssel. (Später hatte ich noch die Gelegenheit, zwei weitere Weltausstellungen zu besuchen – in Montréal (1967) und in Lissabon (1998).

An der Universität Freiburg gab es keine Theaterwissenschaft. Also konzentrierte ich mich auf die Germanistik und zum ersten Mal auch auf die Anglistik als ich erfuhr, dass es dort eine englischsprachige Studentenbühne gab. Ich litt damals noch an einem weiterhin akuten Bühnenfieber und ging der Sache deshalb sofort nach. Außerdem wollte ich unbedingt Englisch lernen, denn, nur halb bewusst, hegte ich den vagen Wunsch, einmal in die USA zu gehen. Der sehr beliebte Leiter der englischsprachigen Truppe war Karl Wittlinger (1922-1994). Ausgerechnet in diesem Semester aber trat er gerade zurück, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Er wurde dann bald ein erfolgreicher Bühnen- und Fernseh-Autor. Natürlich war ich begeistert von der Möglichkeit, die sich hier bot, und da man mich vom deutschen Studententheater kannte und schätzte, wurde ich zu meiner großen Freude zu Wittlingers Nachfolger ernannt.

Es gab in der Stadt aber auch ein von Studenten gegründetes professionelles Kellertheater, das sich erfolgreich der damals neueren Dramatik widmete – das Wallgrabentheater. Dessen Leitung hatte meine englischen Bühnenauftritte verfolgt und bat mich, ihrem Ensemble beizutreten. Es spezialisierte sich auf Stücke von Beckett, Ionesco, Genet, Brecht und Dürrenmatt. Sein dauerhaftester Renner aber war ausgerechnet ein harmlos amüsantes Zwei-Personen-Stück von Karl Wittlinger: Kennern Sie die Milchstraße? Dort in dem Keller stieg ich mit ein, verließ meine Baracke, und lebte fortan in einem möblierten Zimmer von meiner bescheidenen Gage. Unsere fast immer ausverkauften Vorstellungen waren in der Tat sehr stilsicher und überzeugend. Ich habe später einige Inszenierungen derselben Stücke in anderen Städten gesehen, auch in Paris, aber keine davon ging so unter die Haut wie unsere oder hatte unsere Präzision. Unvergesslich ist mir besonders Becketts Endspiel mit meinen etwas älteren Kollegen, das schon vor und noch lange nach meinem Beitritt lief. Diese Aufführung war deutlich besser als die eigene Inszenierung des Autors in Berlin, die ich später im Fernsehen erleben konnte. Einer unserer großen Erfolge, bei dem ich selber mitspielte, war übrigens ein Kabarett-Abend mit Texten von Kurt Tucholsky. Als Uraufführung musste sie vorher von seiner Witwe Mary Tucholsky abgesegnet werden, die auch mit ihrem Sekretär Fritz Raddatz erschien und begeistert war. Mein festes Engagement gab ich dann auf, als ich Stipendien von den Universitäten in Glasgow und Heidelberg bekam, wo ich 1966 promovierte. (4)

Als Student auf der Bühne

Als Student in Freiburg leitete ich seit 1958 eine Englische Studiobühne der Universität und führte damit als Schauspieler und Regisseur jedes Semester ein Stück in englischer Sprache auf.
Oben: Programmzettel für eine unserer Produktionen – einen Kriminalreißer.
(Das Stück war 1948 von Alfred Hitchcock verfilmt worden.)
Im Herbst 1959 wurde ich Mitglied des professionellen Wallgraben Theaters und spielte hauptsächlich in avantgardistischen Stücken. Dort führte ich auch Regie in Genets Zofen.
Unten: Mein Debüt (links mit Brille) im Wallgraben Theater mit Heinz Meier (1930-2013) in dem 2-Personen-Einakter Paria von August Strindberg.
Das Theater besteht heute noch, ist aber umgezogen in den Rathauskeller.

Und hier noch ein Rück- und Vorausblick: Freiburg hatte (und hat bis heute) auch ein Stadttheater mit 900 Plätzen für Schauspiel und Oper. Von Bochum verwöhnt, besuchte ich keine der Schauspiel-Inszenierungen. Außerdem interessierte ich mich mehr für die damals aktuellen Stücke, die dort nicht zu sehen waren. Ich erlebte aber zwei Opern in mustergültigen Aufführungen: Mozarts Figaro und Wagners Meistersinger. Besonders die letztere konventionelle, aber musikalisch überzeugende Inszenierung, kam ohne jeden Bombast aus und hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck. Ich schloss daraus, dass diese Oper gerade in einem kleineren, intimeren Haus besonders gut zur Wirkung kommt. (Im Opernhaus in San Francisco mit seinen mehr als 3000 Plätzen sah und hörte ich die Meistersinger später mit berühmten Sängern aus Bayreuth, aber die Aufführung wirkte nicht stärker und war insgesamt keineswegs besser.) Auf die Dauer aber war meine professionelle Theaterarbeit mit einem sinnvollen Studium nicht zu vereinbaren. Der Direktor des Anglistischen Seminars, Prof. Herrmann Heuer, der meine früheren englischsprachigen Aufführungen immer noch schätzte, verschaffte mir schließlich ein Stipendium nach Schottland.

In Glasgow wohnte ich in einem internationalen, rein männlichen Studentenheim mit Zweibettzimmern. Mein Mitbewohner war ein schwarzer Medizinstudent aus Nigeria. Es gab aber auch einige Inder aus Kenia und - traditionellerweise - mehrere Studenten aus Norwegen. Ich kannte Schottland gar nicht und lernte nun viel über die seine Kultur und Geschichte. Gleich zu Anfang wurden wir ausländischen Studenten allerdings aufgefordert, ein berüchtigtes Stadtviertel, die Gorbals, zu meiden, denn dort seien wir in Lebensgefahr. Eine zweite entsprechende Warnung betraf das Fußballspiel Celtics (katholisch) gegen Rangers (protestantisch). Wir hielten uns natürlich daran, aber es gab etwas, dem wir nicht entgehen konnten: Manchmal gab es einen ganz fürchterlichen Smog, d.h. eine Mischung von smoke (Rauch) und fog (Nebel.), der auch in die Häuser eindrang und allen Bewohnern der Stadt das Leben schwer machte. In unserem Heim zum Beispiel konnten wir wegen der schmutzig-milchigen dicken Luft selbst unsere Mitbewohner im gleichen Zimmer nicht mehr sehen und mussten uns händchenhaltend in einer Reihe am Treppengeländer entlang tasten, um in den Speisesaal zu gelangen. Dort saßen wir dann, für einander unsichtbar, am Esstisch und bemühten uns, wenigstens unsere Teller zu sehen. (Heute gibt es das Problem nicht mehr, denn inzwischen haben Umweltschutzmaßnahmen die Luft auf Dauer gereinigt, und auch die Gorbals sind nun saniert.)

Für meine Studien über Shakespeare wurde ich an eine Mentorin namens Dr. Lewis verwiesen, eine liebenswürdige ältere Dame, die ich wöchentlich besuchte, um ihr über meine Fortschritte zu berichten. Sie half sie mir auch, das reichhaltige kulturelle Angebot der Stadt wahrzunehmen. Glasgow hat ja auch ein bedeutendes Kunstmuseum und mehrere Theater. So erlebte ich bewegende Konzert- und Theateraufführungen (darunter eine großartige Christmas Pantomime mit dem populären schottischen Tenor Kenneth McKellar). Außerdem sah ich eine achtbare naturalistische Aufführung von Ibsens Nora und ein Gastspiel mit dem sehr beliebten Film- und Bühnenstar Alastair Sim. Unvergesslich ist mir auch das dortige traditionelle Neujahrskonzert von Händels Messiah mit besonders großem Orchester und Chor und hervorragenden Solisten. Sehr eindrucksvoll war auch ein Vortrag von Peter Pears, dem Tenor und Lebensgefährten des Komponisten Benjamin Britten. Das Goethe-Institut flog den mit Recht beliebten Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft ein, der ebenfalls einen fesselnden Vortrag hielt. Im Kino, in dem damals noch geraucht wurde, sah ich zwei inzwischen berühmt gewordene neue Filme: Psycho von Hitchcock und Spartacus von Kubrick. Ich verbrachte aber auch viel Zeit im Gemeinschaftsraum unseres Heims, wo ich mit den jeweils kommenden und gehenden Kommilitonen Karten spielte und dabei das reale alltagssprachliche Englisch mit seinen regionalen Dialekten kennenlernte. Außer dem Kartentisch gab es dort auch ein Fernsehgerät (beliebt war der Komiker Charlie Drake), ein Radio (beliebt war die Goon Show mit Peter Sellers) und ein Grammophon mit Schallplatten klassischer Musik (sehr beliebt Die Planeten von Gustav Holst sowie Siegfrieds Rheinfahrt und Trauermarsch von Richard Wagner.) Auf einer immer wieder aufgelegten Langspielplatte sang der amerikanische Mathematikprofessors Tom Lehrer seine satirischen, oft makaber sarkastischen Songs, die ich dort zum ersten Mal hörte. Einer davon reflektierte besonders deutlich den damaligen, zeitweise akut bedrohlichen und beiderseitig angsterfüllten kalten Krieg: Noch heute gehen mir Text und die Melodie seiner Atomkriegsapokalypse nicht aus dem Kopf: We will all go together when we go.

In totalem Kontrast zu alledem lernte ich aber auch einen sehr seltsamen Brauch kennen, der in unserem Heim gepflegt wurde: Wenn ein Bewohner Geburtstag hatte, wurde sein Zimmer leer geräumt (sein Zimmergenosse stimmte regelmäßig zu). Dann wurde ein Bierfass hereingerollt und nach Verteilung großer Gläser zum allgemeinen Freibier eingeladen. Meine Mitbewohner tranken dann recht hemmungslos in Erwartung des baldigen Höhepunktes: Ein Student von außen, der Barde genannt, erschien mit einem dicken Buch und las daraus sehr laut sehr obszöne Gedichte vor. Einige davon waren anscheinend den Anwesenden wohlbekannt und wurden von ihnen im Chor ebenso laut gesungen. Von meiner Theaterzeit her war ich zwar einiges gewöhnt, aber diese überaus drastische, für mich völlig neue Untergrund-Literatur überraschte mich denn doch. Das allgemeine Besäufnis ging dann noch lange weiter, aber ich ging nach dem bejubelten Auftritt des Barden jedes Mal zu Bett. Solche Feiern erlebte ich in Glasgow mehrfach, und sie sind mir als besonders eigenwillige akademische Folklore bis heute im Gedächtnis geblieben. Gab es das nur in Schottland? Oder vielleicht auch an englischen Universitäten? Ich fand es nie heraus.

In Heidelberg hörte ich mit großem Interesse die Vorlesung meines Doktorvaters Teut Riese, bei der ich faszinierende amerikanische Autoren zweiten Ranges kennenlernte, wie etwa David Belasco, Ambrose Bierce, Jack London und Frank Norris, die, wie ich erst später in Kalifornien entdeckte, alle Verbindungen zu San Francisco hatten. Ich erinnere mich auch noch an einen geistreichen Gastvortrag von T.W. Adorno, der vorher und nachher neben das Katheder trat und sich verbeugte wie ein Schuljunge, der ein Gedicht aufsagt. Der große Star unter unseren Professoren war aber der Philosoph Hans-Georg Gadamer, der zu jedem akademischen Thema aus dem Stegreif eine druckreife Rede halten konnte. Mehrere davon hörte ich mir sehr gerne an. Später allerdings lernte ich ihn von seiner wenig sympathischen privaten Seite kennen. Als er zu einem Besuch an der Yale-Universität erschien, bat man mich als postdoc und einen zweiten promovierten jungen Forscher, Gadamer etwas behilflich zu sein. Wir stellten uns also bei ihm vor und boten ihm unsere freiwilligen Dienste an. Er kommandierte uns aber sofort wie Lakaien herum, ganz von oben herab, hochnäsig und unverschämt. Wir begriffen nicht, wie ein gelehrter Mann den demokratischen Geist einer amerikanischen Universität und unsere Gastfreundlichkeit so missdeuten konnte. Was für eine Enttäuschung! Wir hatten einen Mann von Welt erwartet und erlebten stattdessen einen stieseligen deutschen Touristen, der die Gepflogenheiten seines Gastlandes nicht begriff! Dabei hatte er ja sein Leben der Hermeneutik, d. h. der Wissenschaft vom Verstehen, gewidmet. Ja, ich musste nun vermuten, dass er sich zuhause in Heidelberg genauso benahm und war darüber noch nachträglich verstört. Wir tolerierten aber seinen Mangel an Manieren zunächst aus reiner Neugier, ob er sich noch besinnen würde, aber er blieb bei seiner selbstgefälligen Überheblichkeit. Endlich hatten wir genug davon und beschlossen, ihm eine Lektion zu erteilen: Nach einem weiteren seiner barschen Befehle ließen wir ihn ohne Abschiedsworte einfach mit seinen drei Koffern auf der Straße stehen.

Aber zurück zu damals: Zu meiner Überraschung besaß auch Heidelberg ein relativ kleines, aber ausgezeichnetes Stadt-Theater, das auch Opern aufführte. Dort sah ich drei Inszenierungen, die ich bis heute nicht vergessen habe: Einen sehr achtbaren Rosenkavalier mit Anny Schlemm als Marschallin, Monteverdis Krönung der Poppea unter der Regie von Lotfi Mansouri, den ich später als Direktor der Oper in San Francisco wieder erlebte, und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Weill/Brecht. Dabei gab es für mich eine Überraschung: Genau vor mir im Parkett waren 4 Plätze freigehalten worden, und in allerletzter Minute setzten sich vier Prominente auf diese Plätze: Sophia Loren, Carlo Ponti, Maximilian Schell und Vittorio De Sica. Sie alle waren auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren und sahen blendend aus. Irgendwie und irgendwo hatten sie gehört, wie sensationell gut diese Aufführung war und hatten überlegt, sie für eines ihrer eigenen Projekte nutzbar zu machen. Am Ende aber wurde nichts daraus.

Natürlich nahm ich auch die Gelegenheit wahr, im Nationaltheater Mannheim dessen großartige Wagner-Aufführungen mit dem Bayreuth-Dirigenten Horst Stein zu besuchen. Etwas ganz Besonderes aber waren die jährlichen Festspiele im Rokokotheater Schwetzingen, wo ich historisierende Originalproduktionen von Glucks Armide und Purcells Fairy Queen erlebte sowie Gastspiele aus Frankreich und Italien mit Komödien von Molière und Goldoni. In einem deutschen Gastspiel mit Shakespeares Wie es Euch gefällt sah ich auch noch den von mir sehr bewunderten Adolf Wohlbrück als Jaques auf der Bühne.

Schlosstheater Schwetzingen


Foto: Andreas Praefcke, Wikipedia

Der Schlosspark Schwetzingen, nahe bei Heidelberg, war damals mit einer direkten Straßenbahn-
linie zu erreichen. Das dortige kleine, immer ausverkaufte Theater aus der Zeit des Rokoko, war und ist der Mittelpunkt von Festspielen, die immer noch jedes Jahr im Frühsommer stattfinden.

In Heidelberg war ich zunächst von 1962-1963 und dann wieder von 1964-1966 Stipendiat eines von der Universität neu gegründeten, interdisziplinären Doktorandenkollegs. Als Teil meines Stipendiums erhielt ich ein eigenes Zimmer in einem großen Studentenheim, dem Collegium Academicum (CA), mitten in der Stadt, heute Sitz der Universitätsverwaltung. (Damals hatten die Waschräume nur kaltes Wasser.) Die anderen Teilnehmer wohnten woanders. Wir waren eine Gruppe von etwa einem Dutzend Nachwuchswissenschaftlern, die sich einmal in der Woche zu einer Seminarsitzung trafen. Dazu gehörten Mathematiker, Physiker, Historiker, Mediziner und eben auch Philologen wie ich selbst. Unser Seminarleiter war der mit mir gleichaltrige Philosoph Manfred Riedel (1936-2009), dem es immer wieder gelang, Gastdozenten zu gewinnen, die damals an der Schwelle ihrer späteren großen Karrieren standen und teilweise auch für mehrere Wochen an unseren Sitzungen teilnahmen, so etwa Ernst Topitsch (1919-2003), Jürgen Habermas (1929 -) und Dieter Henrich (1927 - ). Mit ihnen zusammen machten wir uns dann an die kritische Lektüre anregender Texte, wie etwa Das Globusspiel (De Ludo Globi) von Nikolaus von Kues (Cusanus), den Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein, die Schriften Wilhelm von Humboldts zur Reform der Universität und Martin Heideggers Holzwege (ich entnahm daraus, dass der Autor nichts von Kunst verstand). Alle diese Texte eröffneten uns neue Perspektiven und zwangen uns, über den eigenen akademischen Tellerrand hinaus zu sehen. Da wir aus völlig verschiedenen Fachgebieten kamen, waren die Diskussionen oft heftig, aber immer erhellend. Interessant war zum Beispiel ein Gedankenexperiment in der Schrift De ludo globi (Das Globusspiel) des eminenten mittelalterlichen Theologen Nikolaus von Kues (Cusanus). Es illustrierte für uns den Gegensatz von mittelalterlichem und modernem, wissenschaftlichen Denken. Bei Cusanus ging es um die vorstellbare absolute Höchstgeschwindigkeit, die für ihn identisch war mit völligem Stillstand. Er postulierte hier also, wie auch in anderen Beispielen, eine tendenzielle coincidentia oppositorum (ein Zusammenfallen der Gegensätze). Dies konnten wir intellektuell durchaus nachvollziehen. Es war aber unvereinbar mit der endlichen und bezifferbaren Höchstgeschwindigkeit (Lichtgeschwindigkeit) in der modernen Physik. Besonders erinnerlich ist mir auch noch ein mehrwöchiges Seminar über mathematische Logik, bei dem ich zu meinem eigenen Erstaunen sehr gut mithalten konnte (auf dem Gymnasium war ich in Mathe immer recht schwach gewesen). Sehr aufschlussreich war für mich auch ein anderes Seminar über Ideologiekritik, geleitet von Ernst Topitsch, bei dem ich die Naturrechtskritik Hans Kelsens kennenlernte. (Einige Jahre später konnte ich dann in Berkeley, am Ort seiner letzten Tätigkeit, diese Kenntnis vertiefen und nutzte sie für mein Lehrbuch in dem Kapitel Naturrecht und Naturgesetz. Jedenfalls sind mir diese Seminare im Laufe der Zeit sehr zustatten gekommen. Im Ganzen gesehen, habe ich in den drei Jahren meiner Mitgliedschaft im Heidelberger Doktorandenkolleg mehr gelernt als in meinem gleichzeitigen regulären Studium.

Ich denke auch heute noch manchmal an eine Seminarsitzung, in der einer unserer Teilnehmer die These vortrug, alles Sprechen sei metaphorisch. Das wollte unser Gastdozent Jürgen Habermas aber nicht einsehen. Wieso denn? fragte er. Was ist denn daran metaphorisch, wenn ich sage: Mein Zug geht pünktlich um 10 Uhr 20 vom Bahnhof Heidelberg nach Frankfurt? Es bedurfte wiederholter Hinweise, bis er verstand, dass in seinem Satz außer den Präpositionen um, vom und nach, jedes einzelne Wort eine Metapher war. Es waren solche Augenblicke überraschender Erkenntnis, die uns die Mitarbeit in diesem Kolleg so wertvoll machten.

Im Frühjahr 1963 bekam ich vom deutschen Service der BBC ein Angebot als Sriptwriter. Um diese Stelle hatte ich mich einige Monate vorher beworben, denn ein praktisches Jahr in London schien mir damals begehrenswert aufregend und auch sinnvoll für mein späteres Fortkommen. Inzwischen hatte ich aber ein Stipendium der Cornell University erhalten, und so wählte ich ohne zu zögern statt einer beruflichen Veränderung in England das Studium In den USA.

2. Cornell

Das akademische Jahr 1963-1964 verbrachte ich an der Cornell University in Ithaca, N.Y.. Das war mein erster Besuch in den USA, und er wurde zu einem überwältigenden, prägenden Erlebnis. Schon die Schiffsreise über den Atlantik in der Rotterdam und der erste Anblick der Freiheitsstatue in New York bleiben mir, wie jedem anderen, der ihn erlebt hat, unvergesslich. Die erste Woche am Washington Square in Manhattan bei meinem Gastgeber Birge W. Kinne, einem Cornell-Ehemaligen, die Busreise nach Ithaca, N.Y. und der überaus freundliche Empfang durch die Universität, vermittelten mir einen unauslöschlichen Eindruck von der dortigen herzlichen Gastfreundschaft. Der sicherlich schönste Universitäts-Campus an der gesamten Ostküste, die hervorragende Bibliothek mit ihrem hilfsbereiten Personal, die großzügigen Sportanlagen drinnen und draußen (Cornell gehört zur Ivy League), die fürsorglichen Professoren, die wirklich Zeit für ihre Studenten hatten, – all das prägte meine positive Grundeinstellung gegenüber dem amerikanischen Universitätssystem, in dem ich später noch so viele Jahre zubringen sollte.

Eine besondere Eigenheit des amerikanischen Erziehungssystems bemerkte ich hier zum ersten Mal: Immer wieder sah ich kräftige junge Männer an Krücken über den Cornell-Campus humpeln. Das kam mir merkwürdig vor, denn in Deutschland und Schottland hatte ich so etwas nie gesehen. Als ich nach einer Erklärung fragte, wurde mir gesagt: Das sind unsere Sportler mit ihren Sportverletzungen. Dann achtete ich genauer darauf und lernte allmählich, dass Sport in allen Varianten eine sehr wichtige, ja wesentliche Rolle in der amerikanischen höheren Bildung spielt. Bald profitierte ich auch selber davon, als ich Cornells Gym mit seinen internen Sportplätzen und Sportgeräten, seinem Schwimmbad und Dampfbad kennen und schätzen lernte. Die für mich neu entdeckte akademische Sportbegeisterung hat aber sowohl eine ideelle wie eine materielle Bedeutung. Besonders die privaten Universitäten hängen von großzügigen Spenden ab. Sie wissen, dass viele ihrer Ehemaligen stolz auf ihre Sportabteilungen sind und ihr Leben lang selbst aus großem zeitlichem und räumlichem Abstand die Siege und Niederlagen ihrer Mannschaft verfolgen. Deshalb sind dann die finanziell Erfolgreichen unter ihnen umso eher bereit, größere Summen für ihre Alma Mater zu spenden. In Europa gibt es zu dieser Tradition keine wirklich entsprechenden Parallelen. (Die 8 Mannschaften der Ivy League bleiben unter sich und haben deshalb keine nationale Bedeutung.)

Etwas kam mir damals allerdings befremdlich und unpassend vor: Es gab eine Reihe von Vorträgen außeruniversitärer Redner, die - anscheinend im Auftrag der Regierung - ganz offen für ein verstärktes Engagement amerikanischer Truppen in Vietnam warben. Da mir die vernichtende Niederlage der französischen Kolonialmacht bei Dien Bien Phu noch sehr wohl bewusst war, schien mir die Idee absurd, dass nun die USA an ihre Stelle treten sollten, um im fernen Südostasien einen nationalen Befreiungskampf zu unterdrücken. Also achtete ich nicht weiter auf diese Propagandakampagne und tat sie als vergebliche Liebesmüh und offensichtlichen Unsinn ab. Erst sehr viel später fiel sie mir wieder ein.

Mir fiel aber auch noch etwas Positives auf: In den Privathäusern rings um den Campus, von denen ich einige besuchen konnte, standen die Haustüren fast immer offen und wurden nie abgeschlossen. Vor meiner Rückreise nach Deutschland besuchte ich auch noch einen Freund in der recht wohlhabenden Stadt Rye NY und fand dort dasselbe: Alle Haustüren standen offen. In Deutschland war das schon damals unvorstellbar, und inzwischen ist auch in den USA das damalige Urvertrauen in Nachbarn und Besucher völlig verschwunden. Heute steht man auch dort überall vor verschlossenen Türen – ein weiteres Zeichen dafür, wie sich die Welt in einem halben Jahrhundert verändert hat.

Was das kulturelle Leben anging, so erinnere ich mich besonders an den damals noch jungen und relativ unbekannten Bob Dylan, der auf dem Cornell-Campus ein Konzert gab und viel Erfolg hatte. Es herrschte dort überhaupt ein für mich erstaunlich liberaler Geist. So zog z.B. ein deutscher, offen schwuler Student, der mit mir zusammen angekommen war, nach wenigen Wochen mit einem offen schwulen Professor zusammen. Zur Eröffnung ihres neuen, gleichgeschlechtlichen Haushalts gaben sie dann eine Party, und alle kamen und gratulierten – die anderen Professoren, Studenten und Freunde. In Heidelberg wäre so etwas damals undenkbar gewesen.

Für mich selbst bot Cornell noch einen besonderen Pluspunkt: Das Statler Hotel. Dort wurden in einer Hotelfachschule auch Köche ausgebildet, und ihre schmackhaften Mahlzeiten standen uns Studenten täglich zur Verfügung. Anstatt also in irgendeine Mensa zu gehen, ließ ich mich dort ein ganzes akademisches Jahr lang mit Köstlichkeiten verwöhnen. Für das Football Team der Universität hatte die Küchenabteilung übrigens einen eigenen Speiseraum eingerichtet, wo man ihm täglich eine spezielle Kraftnahrung mit viel Fleisch servierte.

Cornell University, Ithaca NY


Fotos: Cornell U., Wikimedia Commons

Die Universität liegt auf einem bewaldeten Hochplateau zwischen zwei wasserführenden
Schluchten. Im Tal liegt die Stadt Ithaca am Ufer des Cayuga-Sees.
Oben: Der Campus mit dem großen See im Hintergrund.
Mitte links: Glockenturm - Wahrzeichen der Universität.
Mitte rechts: Goldwyn Smith Hall. Dort arbeitete ich mit meinem Mentor E. A. Blackall.
Darunter links: Olin Library, wo ich meine Magisterarbeit schrieb und für meine Dissertation recherchierte. Darunter rechts: Eine der beiden Schluchten mit Wasserfall.

Die ausländischen Studierenden kamen aus aller Welt. Ich wohnte in einem Studentenheim (Cascadilla Hall) z.B. Tür an Tür mit mehreren Stipendiaten aus der Sowjetunion. Sie waren schockiert, als wir zusammen Stanley Kubricks damals neuen Film Dr. Strangelove sahen, denn diese Art bitterböse politische Satire waren sie zuhause nicht gewöhnt. Sie waren dann völlig verängstigt und verunsichert, als Anfang November Präsident Kennedy ermordet wurde. Wir alle verfolgten tagelang im Gemeinschaftsraum die ständig laufenden Fernsehnachrichten.


Foto: Cornell University

Eric A. Blackall
(1914-1989)

Zu meiner Überraschung gab es an der Universität keine Vorlesungen, sondern nur Seminare. Mein sehr hilfreicher, hochgebildeter Mentor Eric A. Blackall war auch musikalisch sehr kenntnisreich. Beim Anschluss Österreichs im Frühjahr 1938 hatte er als junger Mann die Bibliothek Arthur Schnitzlers vor dem Zugriff der Nazis gerettet und später die englische Libretto-Übersetzung von Alban Bergs Wozzek geliefert, die noch heute in englischsprachigen Ländern benutzt wird. Er veranstaltete unter anderem auch ein Musikseminar zu den Werken Richard Wagners, an dem ich mit großem Gewinn teilnahm. Außerdem ermunterte er mich, Goethes Romane zu lesen, wofür ich ihm noch heute dankbar bin. Erst durch diese wochenlange, gründliche Lektüre lernte ich sehr allmählich einen ganz eigenen, subtil ironischen Erzählstil kennen und schätzen. Goethe hatte ja das Meiste auf- und abgehend einem Schreiber diktiert. Es war dieser Duktus langsam gesprochener Sprache, der mir nach und nach die innere, olympisch heitere, distanzierte Einstellung des Autors zu seinen Romanfiguren deutlich werden ließ – zunächst unterschwellig, dann aber umso eindringlicher. Demgegenüber wirkte die Ironie Thomas Manns oft verkrampft, aufgesetzt und überdeutlich. So konnte ich selbst dem späten, unausgeglichenen Sammelwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre noch viel abgewinnen, denn die offene Romanform mit ihren Abschweifungen, eingestreuten Anekdoten, Novellen und literarischen Miniaturen war mir ohnehin lieb und vertraut, seitdem ich das Satyricon des Petronius, Tristram Shandy von Laurence Sterne und Jacques le fataliste von Denis Diderot gelesen hatte. Einen tiefen Eindruck machte mir auch das Seminar eines jungen englischen Professors über die Vorläufer, Zeitgenossen und Nachfolger Shakespeares. Erst dadurch lernte ich die Dramen von Johnson, Middleton, Beaumont and Fletcher, Dekker, Webster und Ford kennen, die man auch in Deutschland öfter aufführen sollte. (John Fords ‘Tis Pity She’s a Whore, eine erschütternde Inzest-Tragödie, hatte ich schon 1961 in Paris in französischer Sprache auf der Bühne gesehen – mit Romy Schneider und Alain Delon als dem unseligen Geschwisterpaar unter der Regie von Luchino Visconti. Später sah ich das Drama dann zum zweiten Mal am Universitätstheater von Yale.) Das Interessanteste an diesem Seminar waren für mich aber die Children’s Companies, von denen ich vorher nie gehört hatte. Solche Theatertruppen bestanden ausschließlich aus hübschne, unreifen Knaben, die in erwachsenen Dramen Männerrollen und - wie damals allgemein üblich - auch Frauenrollen spielten. Diese besonders jungen boy actors waren sehr beliebt und wurden zu ernsthaften Konkurrenten Shakespeares. Heute, nach meiner langen Beschäftigung mit der Sexualwissenschaft, scheint mir dies Phänomen interessanter denn je, denn es wirft für mich Fragen über die bewussten oder unbewussten erotischen Vorlieben seines Publikums auf. Auf diesen Aspekt ging der Professor seinerzeit aber nicht ein.

Im Universitäts-Theater führten die Studenten auch eigene Inszenierungen auf. Für eine davon (Goldonis Mirandolina), entwarf ich das Bühnenbild und die Kostüme. Außerdem führte der studentische Filmclub regelmäßig alte Hollywood-Filme auf, und so lernte ich die großartigen amerikanischen Komiker der 30er Jahre kennen und schätzen, von denen ich vorher nie gehört hatte – die Marx Brothers, Eddie Cantor und besonders den unvergleichlichen W. C. Fields. Im aktuellen Fernsehen - damals noch schwarz/weiß - lief die heiter-drollige Serie mit Jack Benny (The Jack Benny Program). Später sah ich dann Wiederholungen der früheren, sehr viel komischeren Shows mit Sid Caesar (Your Show of Shows), Jackie Gleason (The Honeymooners) und Lucille Ball (I love Lucy). Dazu hatte ich das Glück, im Fernsehen noch die jüdischen Stand-up Comedians der älteren Generation zu erleben wie Milton Berle, Henny Youngman, Shelley Berman und Alan King - alle Meister ihres Faches, die ich staunend bewunderte. Im Laufe der Jahre kamen noch brilliante schwarze Komiker hinzu wie Redd Foxx, Dick Gregory und Richard Pryor. Ebenso begeistert war ich von den neuen Weißen George Carlin als Repräsentanten der Alternativkultur, dem avantgardistischen Andy Kaufman und von den genialen Improvisationstalenten Jonathan Winters und Robin Williams. Außerdem wurde ich zu einem treuen Verehrer der umwerfend komischen Carol Burnett und ihrem Team. Diese Einführung in den für mich zunächst ungewohnten, teilweise grotesken amerikanischen Humor und seine verschiedenen Traditionen half mir zu Anfang sehr beim Verständnis der neuen Kultur, in der ich mich von da an für viele Jahre bewegen sollte. Überhaupt war das Fernsehen für mich, wie für viele Amerikaner selbst, eine willkommene Integrationshilfe, die uns mit vielen Facetten des Alltagslebens in diesem riesigen Land vertraut machte und gleichzeitig zwischen den vielen verschiedenen Einwanderergruppen vermittelte. Die technischen und inhaltlichen Veränderungen in diesem Medium, die ich über die folgenden Jahrzehnte miterlebte, reflektierten dann auch den enormen Wandel in der amerikanischen Gesellschaft allgemein.

Studententheater, Cornell


Foto: Marion Wesp

Im Studienjahr 1963-1964 führten Studenten eine Komödie von Carlo Goldoni auf:
The Mistress of the Inn (orig. La Locandiera, in Deutschland bekannt als Mirandolina).
Dafür entwarf ich das hier gezeigte Bühnenbild und die Kostüme.

Ansonsten machte ich ausgiebig Gebrauch von dem großen Schwimmbad in Cornells modernem Gym. Es war eine regelmäßige Wohltat bei dem dortigen sehr strengen Winter. Im Sommer schloss ich dann das Studienjahr mit einem Magistergrad (M.A.) ab. Mit diesem akademischen Titel ausgestattet, wurde ich dann am Anglistischen Seminar in Heidelberg als wissenschaftlicher Assistent angestellt und machte mich an meine Doktorarbeit.

Meine Dissertation
Meine Dissertation Das szenische Werk Thornton Wilders erschien 1967 in der Publikationsreihe
Beihefte zum Jahrbuch für Amerikastudien. Diese Reihe wurde von Bibliotheken in vielen Ländern abonniert
und fand so weltweite Verbreitung.
Das Material für meine Arbeit hatte ich in den Bibliotheken der Universitäten Cornell und Yale gesammelt,
wo nun Exemplare dieser Dissertation ebenfalls vorhanden sind.

3. Yale

Direkt im Anschluss an das akademische Jahr an der Cornell University hatte mir ein Zusatzstipendium für mehrere Wochen erlaubt, in der Beinecke Rare Book Library der Yale University in New Haven CT Material für meine Dissertation über den damals noch lebenden Schriftsteller und Dramatiker Thornton Wilder zu sammeln. Dann, gleich nach meiner Promotion im Sommer 1966, bekam ich, sozusagen als krönenden Abschluss meiner vielfachen finanziellen Förderung, noch ein Habilitationsstipendium für zwei Jahre zurück nach Yale und ließ mich dafür in Heidelberg beurlauben.

An der Yale University wollte ich mich bei meinem Mentor Norman Holmes Pearson spezialisieren, dem Begründer und Leiter der dortigen American Studies. Er war trotz einer schweren körperlichen Behinderung ein Mann mit wirklicher Klasse. Wir trafen uns jeden Monat mehrmals in seinem anheimelnd altertümlichen Büro, sprachen über meine Arbeit und weiteren Pläne und über alle möglichen anderen Themen. Er nahm mich auch als seinen Gast mit in die Campus-Studentenkneipe Mory's, die damals als exklusiver Club grundsätzlich nur den echten, originalen Yale-Studenten vorbehalten war. Wenn er alte Freunde aus dem Ausland zu Besuch hatte, stellte er mich diesen vor, und so ergaben sich immer wieder aufschlussreiche Gespräche. Er war ein Gentleman alter Schule, hervorragend vernetzt im amerikanischen Establishment, und er hatte ein sehr interessantes, lange geheim gehaltenes Doppelleben geführt, über das er nun wenigstens teilweise offen sprechen konnte. Inzwischen waren nämlich schon einige Enthüllungsbücher erschienen.


Foto: Wikipedia (NPatBeinecke)

Norman Holmes Pearson
(1909-1974)

Er war auch sehr wohlhabend. Als ich einmal bei ihm und seiner Frau zum Tee eingeladen war, zog er zu meiner Verblüffung eine Shakespeare Folio aus seinem Bücherschrank. (Er besaß auch noch mehrere Quartos.) Andere Beispiele: Das Kennzeichen seines großen Luxusautos zeigte keine Nummern, sondern bestand einfach nur aus seinem Namen. Als sich mein Stipendium gleich zu Anfang als zu knapp erwies, sorgte er dafür, dass es sofort erhöht wurde und gab mir einen persönlichen Scheck (Dies ist kein Darlehen!) für die bereits vergangene Zeit. (Man stelle sich das in Deutschland vor!) Sein überraschender, allzu früher Tod traf mich tief. Ich denke noch oft an ihn und verdanke ihm sehr viel bis heute.

Zunächst schrieb ich in Yale, auf verschiedene Einladungen hin und gewissermaßen als Fingerübungen, noch einige literarische Aufsätze über Nestroy, Steinbeck und Mailer. (5) Mein Nestroy-Aufsatz, der in einer renommierten literarischen Zeitschrift erschien, fiel dem Yale-Germanisten Peter Demetz (1922 -) auf, der mich von da an mehrfach zu Gesprächen in sein Büro einlud. Seinen Kollegen Geoffrey Hartman (1929-2016) suchte ich aus eigenem Antrieb auf, wenn es um besonders schwierige literarische Fragen ging. Auch diese Gespräche waren für mich immer ein großer Gewinn.

Einige Leser, die noch mit den Verhältnissen jener Jahre in Yale vertraut sind, wundern sich vielleicht an dieser Stelle, warum ich nichts über den New Criticism schreibe, der damals in Yale zuhause war und unter Literaten als der neueste Schrei, ja als akademisch besonders fesch galt. Warum also habe ich seine Hauptvertreter Robert Penn Warren, Cleanth Brooks und W. K. Wimsatt nicht erwähnt, die der Universität damals einen besonderen modischen Glanz verliehen? Dafür gibt es zwei einfache Gründe: Erstens ließen die American Studies, die ich zunächst noch als reine, massive Stoffaneignung betreiben musste, keine Zeit für spitzfindige exegetische Tüfteleien, und zweitens hatten mir meine missgünstigen Kollegen in Heidelberg bis zum Überdruss von dieser neuesten intellektuellen Mode vorgeschwärmt. Wenn ich dann aber deren eigene, davon inspirierte Publikationen las, so wirkten sie eher als abschreckende Beispiele geisttötender Pedanterie und teilweise sogar wie böswillige Parodien ihrer selbst. Auch das hielt mich ab. Heute bin ich froh, dass ich meine Zeit nicht mit solchen zeitgebundenen Mätzchen vergeudet habe. Später erfuhr ich dann noch vom Aufstieg und Fall des zuerst überall angeschwärmten, dann kalt abservierten Kritikergötzen Paul De Man, der sich neben einigen Verfehlungen in der Nachkriegszeit auch noch vor dem Krieg als belgischer Nazi antisemitische Zeitungsartikel geleistet hatte. Ich hatte ihn und seine Werke instinktiv schon in Cornell und auch später in Yale völlig ignoriert. Heute sind alle diese damals so heißen akademischen Stars mit ihren hochgejubelten Novitäten längst vergessen.

Dazu noch eine letzte Bemerkung: In den vielen Jahren, die ich als Student, Assistent, Forscher und Professor an insgesamt 12 Universitäten im In- und Ausland verbrachte, sind mir natürlich auch manche eitlen Kollegen begegnet, die in deutlicher Selbstüberschätzung hochtrabend wie unumschränkte Autoritäten auftraten. Für sie war jede Weitergabe ihres eigenen beschränkten Wissens ein Gnadenerweis, für den sie im Gegenzug unbedingte Loyalität verlangten. So etablierten sie unter ihren Anhängern und in ihren heimischen Fachabteilungen ein zählebiges intellektuelles Mittelmaß. Zu diesen Blendern gehörten aber meine eigenen, wirklich kenntnisreichen Mentoren und Ratgeber glücklicherweise nicht: Riese, Heuer, Blackall, Pearson, Bellah, Pomeroy, Marsh, Gebhard, Wille, Liu, Ng, Pasini, Haynal und meine beiden Verleger in New York (Linz) und Berlin (Bedürftig). Sie waren, bei allem Enthusiasmus für ihre Sache, persönlich zurückhaltend und bescheiden, nüchtern und zielorientiert. Von ihnen habe am meisten gelernt und dann auch versucht, ihrem Beispiel zu folgen.

Ansonsten  aber genoss ich das geistig und auch körperlich sehr breit gefächerte Angebot der Universität. Sie bot zum Beispiel ein besonders spektakuläres Gym –  eine wahre Athletenkathedrale, d.h. eine große Indoor-Sportstätte mit vielen Angeboten, angefangen vom olympiagerechten Schwimmbad über Trockenrudern bis zu Kraftsportgeräten, Basketballplätzen, Turnhallen, Dampfbädern und Ruheräumen. Diese großartigen Gelegenheiten nutzte ich täglich und erfreute mich so bester Gesundheit. Es gab aber noch etwas Weiteres, für mich völlig Neues, das ich allerdings erst auf den zweiten Blick als negativ erkannte: Die Universität hatte keine Studentinnen, bot also eine für mich ungewohnte soziale Umgebung ohne sichtbare akademische Weiblichkeit. So wurde z.B. bei den Football Games der Ivy League unser Team von männlichen Cheerleaders angefeuert  –  ein interessanter Anblick, den man heute leider nicht mehr erleben kann. (Es gab Frauen in der Verwaltung und beim Küchen- und Putzpersonal, und bin sogar einmal kurz einer Professorin begegnet.) Jedenfalls herrschte hier eine betont maskuline, seltsam verkrampfte, bedrückende Atmosphäre. Auch im Faculty Club, zu dem ich Zutritt hatte, herrschte zumeist gähnende Leere und Langeweile.

Yale bot aber viele interessante kulturelle Veranstaltungen, z.B. Symphonie-Konzerte, Opernarien mit Renata Tebaldi, einen Auftritt von John Gielgud, der Shakespeares Sonette rezitierte, Autorenabende mit Robert Lowell, Joseph Heller, Norman Mailer und dem immer weiß gekleideten Tom Wolfe, der bei Norman H. Pearson promoviert hatte, einen Abend mit dem Boxer Muhammad Ali, dem ich bei dieser Gelegenheit bis auf wenige Zentimeter nahe kommen konnte – ein von Kraft und Gesundheit strotzender Held. Auch den Schauspieler Paul Newman erlebte ich aus allernächster Nähe. Er saß bei einer Theateraufführung eine Reihe vor mir und sah privat noch besser aus als in seinen Filmen.

Natürlich nahm ich auch wieder jede Gelegenheit wahr, alte Hollywood-Produktionen zu sehen. Ich erinnere mich besonders an den historisch interessanten Musikfilm Wonder Bar (1934) mit Al Jolson in blackface d.h. mit schwarz geschminktem Gesicht. Bald fand ich heraus, dass er damit in einer alten Tradition stand. Diese ging auf einen weißen Schauspieler zurück , der schon im 19. Jhdt. in Solo-Auftritten schwarz geschminkt, unter dem Namen Jim Crow einen komisch-stereotypischen Neger dargestellt hatte. Sein großer Erfolg motivierte dann andere Weiße, es ihm nachzutun und mit sogenannten Minstrel Shows entsprechende volle Abendprogramme mit Musik und Gesang anzubieten (schwarzen Künstlern waren die regulären Bühnen verwehrt). Der großartige, sehr populäre jüdische Sänger Jolson war der letzte in dieser Traditionsreihe. Sie wurde aber noch zu seinen Lebzeiten zunehmend als rassistisch und peinlich empfunden und deshalb beendet - eine wichtige Episode in der amerikanischen Kulturgeschichte, die heute weitgehend vergessen ist. (Jolson hatte schon im allerersten Tonfilm The Jazz Singer (1927) in blackface gesungen. Bekannt als The World's Greatest Entertainer, starb er 1950 im St. Francis Hotel in San Francisco.)

Im Universitätstheater bei Robert Brustein spielten Stars wie Irene Worth, Stacy Keach und Kenneth Haig. Einige junge Studenten versuchten sich ebenfalls in der Schauspielerei, und einige davon machten später Karriere in Hollywood – so etwa Perry King, der mit seinem auffällig gefälligen Äußeren zum Film- und Fernsehstar wurde, und Henry Winkler, der als the Fonz und Hauptdarsteller der beliebten Fernsehserie Happy Days und dann auch noch als Produzent erfolgreich war. Der allgemein populärste Professor der Universität war damals der junge Altphilologe Eric Segal, Autor des auch sehr ertragreich verfilmten Bestsellers Love Story. Ein anderer Yale-Professor und Erfolgsautor war der Jurist Charles A. Reich mit The Greening of America. Er gab völlig univermittelt seine Stellung auf und zog als freier Geist und Schwulenaktivist in die Nähe von San Francisco.

Da New Haven nur etwa zwei Zugstunden von New York entfernt ist, nutzte ich oft die Gelegenheit, dorthin zu fahren und, mit einer oder mehreren Übernachtungen, das kulturelle Leben zu erkunden. So sah ich in diesen Jahren alle wichtigen Ausstellungen, Theater-, Musical-, Ballett- und Opernaufführungen. Gleich im Herbst 1966 wurden im Lincoln Center die neue Metropolitan Opera und die neue New York City Opera eröffnet, und in beiden erlebte ich große, heute legendäre Inszenierungen, wie in der MET eine auch szenisch überwältigende Frau ohne Schatten von Richard Strauss mit dem Dirigenten Karl Böhm, Die Walküre, dirigiert von Karajan, und Wieland Wagners dunkelgrün-goldene Inszenierung des Lohengrin mit dem stimmlich idealen Hauptdarsteller Sandor Konya. (In Berlin hatte ich davon schon in hellblau-silbern eine Vorinszenierung mit Jess Thomas in der Titelrolle gesehen. Diese sah ich noch ein letztes Mal, als ich nach Berlin zurückgekehrt war, und zwar mit René Kollo). In der NYCO wurde Beverly Sills zur Sensation in Händels Giulio Cesare in Egitto. In der NYCO wurde Beverly Sills zur Sensation in Händels Giulio Cesare in Egitto. Alle diese Aufführungen in Originalbesetzung gibt es auch auf CD- Einspielungen, und ich höre sie noch heute immer wieder gerne.

Irgendwann in dieser Zeit hielt ich einen literaturgeschichtlichen Vortrag an der Brown University in Providence, RI, die ebenfalls zur Ivy League gehört.  Das genaue Datum und das Thema habe ich inzwischen leider vergessen, aber ich vergesse nie die besondere Atmosphäre, die dort gerade herrschte. Es muss mitten in einem Kunstfestival gewesen sein, denn bei herrlichstem Sommerwetter erlebte ich dort bei einem Freiluftkonzert den legendären Dizzy Gillespie mit seiner Band. Am Rande eines großen Rasens saß Allen Ginsberg unter einem Baum, plauderte mit seinen studentischen Fans und rezitierte aus seinen Werken. Ich setzte mich einfach dazu und war willkommen.

Yale University, New Haven CT


Fotos: Wikimedia Commons

Die Universität liegt mitten in der Stadt New Haven.
Oben links: Hauptbibliothek. Oben rechts: Inneres der Beinecke Rare Book Library mit ihren fensterlosen, lichtdurchlässigen Marmorwänden. Unten: Teilansicht des Campus.
Ich wohnte immer außerhalb des Universitätsgeländes, zuletzt im obersten Stockwerk eines Hochhauses mit herrlichem Blick auf die Stadt.

 Während meiner ersten beiden Jahre in Yale verbrachte ich zwei Sommer in Kalifornien. Das weckte mein Interesse an den kulturellen Beziehungen zwischen den USA und Japan, besonders im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Entsprechend erweiterte ich meine Recherchen in den Yale-Bibliotheken, brauchte dann aber doch weitere Quellen, und so erhielt ich vom Deutschen Akademischen Austausch-Dienst (DAAD) ein weiteres Stipendium an die UC Berkeley.

Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch ein besonderes Erlebnis erwähnen, das mir sogar zweimal zuteil wurde: Schon Cornell hatte für uns ausländische Studenten in  Washington DC  persönliche Treffen mit politisch wichtigen Persönlichkeiten organisiert  (Regierungsmitglieder, Senatoren, Abgeordnete usw.), und Yale tat noch einmal das Gleiche. So hatte ich das große Glück, zweimal dabei zu sein, als im Gebäude des US Supreme Court der liberalste der Obersten Richter für je eine Stunde über seine Arbeit zu uns sprach: William O. Douglas (1898-1980). Wenige Menschen haben mich in meinem Leben so beeindruckt wie er. Er war spontan und lebendig, dabei sachlich und informativ. Völlig locker und prompt beantwortete er auch alle unsere Fragen in einer Weise, die uns nur staunen ließ. Er war wahrhaft authentisch, unabhängig, hochintelligent, gebildet und gleichzeitig volksnah  – ein im Denken und im Reden wirklich freier Mann, wie nur das Beste in der amerikanischen Kultur ihn hervorbringen kann. In Europa habe ich seinesgleichen nicht gesehen, weder vorher noch nachher.

4. UC Berkeley

Im Sommer 1967 hatte ich schon als Hippie in einem großen Hippie-Haus in der Nähe des Campus gewohnt und dann den Besuch im folgenden Sommer als normaler Tourist wiederholt. Daher kannte ich die Örtlichkeiten sehr gut, und so war meine dritte Ankunft hier ein freudiges Wiedersehen. Diesmal zog ich in ein von Studenten bewohntes, romantisch von reichlichem Grün umgebenes, nördlich vom Campus gelegenes großes Holzgebäude ein. Vor meinem Fenster konnte man Kolibris beobachten, wie sie sich ihren Nektar aus den blühenden Pflanzen saugten. Welch ein Kontrast zur Ostküste! Kurz: Ich fühlte mich wie neu geboren, von überflüssigen Lasten befreit und hatte das Gefühl, endlich dort angekommen zu sein, wo ich eigentlich hingehörte. Und das nahe San Francisco versprach wieder mögliche aufregende Entdeckungen.

University of California, Berkeley


Fotos: Wikimedia Commons

Die Universität liegt am Rande der Stadt Berkeley.
Oben: Teilansicht des Campus mit seinem Wahrzeichen, dem Glockenturm.
Er bietet eine herrliche Aussicht auf die Bucht und die Stadt San Francisco (siehe unten).
Mitte: Universitätsbibliothek.
Unten: Panoramablick von Berkeley auf die Bucht und die Stadt San Francisco.
Links die Bay Bridge, in der Mitte die Stadt mit ihren Hügeln, rechts die Golden Gate Bridge.

An der Universität bekam ich einen neuen Mentor: Robert Bellah, den umfassend gebildeten, mehrsprachigen Religionssoziologen und Direktor der Abteilung für Japanische und Koreanische Studien. Bei ihm fand ich mich ebenfalls gut aufgehoben, wenngleich unser Kontakt nicht so intensiv war wie bei Norman Pearson. Wie dieser hatte auch Bellah eine faszinierende, aber in gewisser Hinsicht fast gegenteilige Lebensgeschichte. Er hatte in Harvard angefangen, war dort als Student Mitglied der kommunistischen Partei gewesen und sah sich von der Universitätsleitung schwer enttäuscht, als sie die Kommunistenjagd des Senators McCarthy unterstützte. Er war einer der bedeutendsten Kulturwissenschaftler seiner Zeit und in diesem Sinne selbst eine establishment figure, aber seine Haltung gegenüber dem politischen Establishment war und blieb reserviert. In Kalifornien hatte er jedenfalls einen ihm angemessenen Platz gefunden. Im persönlichen Umgang war er stets heiter und gelassen und ebenso großzügig und gefällig wie Pearson - wieder ein Mann von Klasse, wie sie mir im Leben nur wenige Male begegnet sind.


Foto: Wikimedia Commons

Robert Bellah
(1927-2013)

In Bellahs Institut schrieb ich mich in einen Sprachkurs für Japanisch ein, begann mit genaueren Recherchen und lernte japanische Freunde kennen. Erfreulicherweise besuchte mich auch ein amerikanischer Japanologe, den ich von Yale und Besuchen in Harvard her kannte, und der auf dem Weg zu einer festen Anstellung in Japan war. Natürlich nutzte ich auch das berühmte Museum asiatischer Kunst in San Francisco. Außerdem bot die Stadt mit ihrem japanischen Viertel (Nihonmachi) eine gute Inspirationsquelle. Dort gab es, neben japanischen Restaurants und Geschäften, auch eine große japanische Buchhandlung, in der ich zum ersten Mal die heute weltweit verbreiteten und beliebten Mangas sah. Sie waren in großen, ständig aktualisierten Stapeln für jeden Kunden unübersehbar.

San Francisco Nihonmachi


Foto: Wikimedia Commons, Christopher Beland

Das alte Japanerviertel war gerade mit großem Aufwand stark modernisiert wiedererstanden.
Die Hauptattraktion war ein großes Theater, das sich allerdings auf die Dauer nicht bezahlt
machte und später zu einem Kinokomplex umgebaut wurde. Das Viertel ist heute noch in jedem
April Zentrum des jährlichen Kirschblüten-Fests und seiner entsprechenden Parade.

Tatsächlich bekam ich in Japantown auch die einmalige Gelegenheit, in einem neuen, großen Theater zwei spektakuläre Aufführungen des Grand Kabuki aus Tokio zu sehen. (Bunraku und Noh kannte ich schon.) Wegen der enormen Kosten dieses japanischen Gastspiels wurden Wiederholungen dann leider ausgeschlossen. Die Universität selbst besaß allerdings auch zwei große Theater – ein im antik-griechischen Stil erbautes Freilufttheater und ein modernes reguläres Theater mit der neuesten technischen Ausstattung. Ich erinnere mich besonders an zwei Erlebnisse: Im Griechischen Theater sah und hörte ich eine Opernaufführung des ersten Teils von Les Troyens von Berlioz mit Régine Crespin, und später beeindruckte mich im modernen Theater das großartige Ballett von Maurice Béjart und seiner Truppe. Damals gehörten dazu noch seine wirklich hinreißenden Star-Tänzer Paolo Bortoluzzi und Jorge Donn.

Zwei Theater auf dem Berkeley Campus

  
Fotos: Wikimedia Commons

Links: Das Freilicht-Theater (Hearst Greek Theater). Rechts: Das modern Theater Zellerbach Hall.

Aber nun zurück zum rein Akademischen: Wäre alles Weitere nach Plan verlaufen, so hätte ich fortan über Autoren geschrieben wie Lafcadio Hearn und John Luther Long, die in den USA erstmals japanische Themen aufgriffen und populär machten. In diesem Zusammenhang hätte es sich auch gelohnt, den Einfluss des damaligen europäischen Japonisme und überhaupt des Exotismus auf die amerikanische Kunst und Literatur zu untersuchen. Auf allen diesen Gebieten war Bellah ein gründlicher Kenner. Jedenfalls hatte ich bald genügend Material gesammelt, um verschiedene Richtungen weiter zu verfolgen. Zum Beispiel erlebte das westliche Theater im ausgehenden 19. Jahrhundert eine gewisse Japan-Mode, behandelte japanische Themen oder nutzte japanisches Lokalkolorit. (Schon 1885 hatte satirische Operette The Mikado von Gilbert und Sullivan seine Première in London, und 1896 wurde dort die musikalische Komödie The Geisha von Sidney Jones ein großer Erfolg, der sich sogleich in New York wiederholte. Zwei Jahre später, 1898, brachte Mascagni mit Iris in Italien eine erste japanische Oper erfolgreich auf die Bühne.) Mich interessierte aber vor allem auch der in Deutschland kaum bekannte David Belasco, Autor zweier Erfolgstücke, die Puccini bald darauf als Vorlagen zu eigenen Opern nutzte: Madame Butterfly (1904) und The Girl of the Golden West (1910). Belasco war eine bedeutende Figur der Theatergeschichte. Deshalb wäre auch eine Darstellung seines kulturellen Umfelds in San Francisco und später in New York eine interessante Aufgabe gewesen. Sie hätte ein bislang wenig beachtetes Zusammenspiel von technischem Fortschritt, Kunst und Kommerz in den USA vor dem Ersten Weltkrieg näher beleuchtet. Aber es kam alles ganz anders.

5. Zurück nach Heidelberg

Als ich im späten Frühjahr 1969 nach fast drei Jahren wieder in Heidelberg erschien, hatten meine neidischen Kollegen dafür gesorgt, dass meine Assistentenstelle verschwunden war, und so stand ich, völlig überrascht, mit 33 Jahren arbeitslos und mittellos auf der Straße. Und all dies, nachdem britische, amerikanische und deutsche Geldgeber über die Jahre viele zehntausend Pfund, Dollars und D-Mark in meine akademische Zukunft investiert hatten! Von Stipendien kann man aber keine Ersparnisse zurücklegen.

Mein früherer Doktorvater konnte mir nicht helfen, denn inzwischen waren die deutschen Ordinarien teilweise entmachtet und mussten sich unter dem Motto Drittelparität mit Studentenvertretern und dem sogenannten Mittelbau arrangieren, d.h. mit Assistenten, akademischen Räten, Lektoren usw.. (Das war eine damals brandneue, progressive Errungenschaft, die aber, wie ich nun leider erfahren musste, zum Missbrauch einlud.) Die neuen Studenten kannten mich nicht mehr, und im Mittelbau saßen eben die Neider, die mich als Konkurrenten loswerden wollten. Es war auch nicht möglich, schnell an einer anderen Universität unterzukommen, denn dafür mahlten die deutschen akademischen Mühlen zu langsam. Ich brauchte aber Geld zum Überleben, und zwar sofort! Deshalb war auch an einen teuren und zeitraubenden Kampf vor Ort nicht zu denken. So fand ich mich in einer verzweifelten Lage.

6. Zurück nach Yale

Da geschah wieder etwas Unerwartetes: Irgendjemand - ich weiß bis heute nicht, wer - schickte mir anonym den Geldbetrag von genau 1,100.- DM. Wie ich wohl wusste, war dies der Preis einer Flugkarte über den Atlantik. (Vielleicht hatten die Intriganten als Gruppe das Geld zusammengelegt, um sicher zu gehen, dass ich verschwinden würde?) Da ich tatsächlich keine Wahl hatte, flog ich also zurück in die USA und meldete mich wieder bei meinem Mentor Norman H. Pearson in Yale. Er zeigte sich von meiner Geschichte entsetzt und empört und nahm mich gern wieder in seine American Studies auf, allerdings mit der Auflage, dass ich von nun an meinen Lebensunterhalt außerhalb des Campus selber bestreiten sollte. (Meine Universitätsprivilegien wurden weiterhin von Yale bezahlt.)

Glücklicherweise hatte ich einen Jugendfreund aus Bochum, Werner M. Linz, der nach New York ausgewandert war und dort geheiratet hatte. Er war dabei, einen später sehr erfolgreichen Verlag aufzubauen und gewährte mir sofort einen Vorschuss. Damit ermöglichte er mir einen Neuanfang und spannte mich auch sofort in einige seiner kleineren, intellektuell anspruchslosen, aber kommerziell erfolgreichen Projekte ein. Die konnte ich von der Yale-Universität aus leicht erledigen. Sie wurden dann so einträglich, dass ich meinen Vorschuss bald zurückverdienen konnte und auch darüber hinaus keine finanziellen Sorgen mehr hatte. Dennoch setzte ich meine Nebentätigkeit für seinen Verlag noch mehrere Jahre fort. Er selbst hatte in seinem Beruf noch eine große Zukunft, denn er besaß die dafür erforderliche, aber seltene Kombination von spontaner Großherzigkeit, gesundem Geschäftssinn und verlegerischem Weitblick.


Drei der kleinen Büchlein,
die mir erlaubten, den Vorschuss meines Verlegerfreundes sehr bald zurückzuzahlen.
(Hier katalogisierte Exemplare aus dem Haeberle-Hirschfeld-Archiv)

In diesem dritten Jahr meines Forschungsaufenthaltes erlebte ich aber in der Universität etwas völlig Neues: Coeducation, d.h. zum ersten Mal nach über 250 Jahren wurden Studentinnen zugelassen, im Campus-Jargon coeds, genannt. (Yale datiert seine eigentliche Gründung auf 1701.) Es war eine echte Revolution, und das Resultat war ebenso unerwartet wie paradox: Die neue, allgegenwärtige weibliche Gegenwart wirkte für alle befreiend. Die vorher so verklemmte Atmosphäre entkrampfte sich praktisch über Nacht, und es stellte sich eine große Lockerheit im täglichen Umgang ein. Das ging so weit, dass auf einmal ganz offiziell auch eine Gay Alliance at Yale (GAY) gegründet wurde, die sogar schwule Tanzabende organisierte. Diese eigentlich paradoxe Entwicklung hatte natürlich auch noch einen anderen Grund: Einige Monate vorher, im Juni, hatte es in Manhattan die heute sogenannten Stonewall Riots gegeben, d.h. Kämpfe zwischen Polizei und den Besuchern einer Schwulenbar namens Stonewall Inn in der Christopher Street. Bei diesen Auseinandersetzungen zog die Polizei am Ende den Kürzeren und gab danach ihre bisherigen, regelmäßigen Razzien auf. Dieser Schwulensieg wird bis heute in aller Welt als Christopher Street Day gefeiert.

Bei allem atmosphärischen Fortschritt gab es für uns männliche Yalies aber auch einen kleinen Nachteil: Vorher waren wir als Nutzer des Gym seinem Namen entsprechend (gr. gymnos: nackt) - splitternackt durch das Gebäude gelaufen. Nur für bestimmte Sportarten wie Trockenrudern, Gymnastik usw. trugen wir Jockstraps (Suspensorien), Turnhosen usw. Beim Schwimmen aber blieben wir grundsätzlich nackt, weil dies als hygienischer galt. In der Tat, bevor wir die Schwimmhalle überhaupt betreten konnten, mussten wir zuerst unter die Dusche und dann mit gespreizten Beinen über ein längliches Gestell mit Spritzdüsen laufen, das uns von unten noch einmal zusätzlich wusch. (Für Badehosenträger wäre das natürlich sinnlos gewesen.) Mit dieser heidnischen Unschuld war es nun aber vorbei. Cornell hatte schon immer Studentinnen gehabt und besaß daher für jedes der beiden Geschlechter ein eigenes Gym, das in völliger Nacktheit genutzt werden konnte. In Yale aber mussten wir nun dasselbe Gebäude mit den neuen Coeds teilen. Deshalb mussten wir nun alle Bade- oder andere Sportbekleidung tragen. Das war für uns Männer ungewohnt und zunächst etwas lästig, aber es dauerte nicht lange, und wir hatten es akzeptiert.

Vor Ende des akademischen Jahres gelang es mir noch in New Haven, ein Buch fertig zu stellen, das dann im folgenden Sommer erschien und ein überraschender Bestseller wurde - meine Übersetzung und Bearbeitung eines deutschen Jugendlexikons über Sexualität. Ich hatte zufällig einen Bericht darüber in einer deutschen Illustrierten entdeckt und gleich ein Ansichtsexemplar für den Verlag meines Freundes bestellt. Als wir es sahen, waren wir beide sofort begeistert. Es enthielt kurze Einträge in alphabetischer Ordnung von Abtreibung bis Zygote und war mit großartigen, offenherzigen Fotos illustriert. Der Text stammte von dem Arzt Martin Goldstein (1927-2012), der unter dem Pseudonym Dr. Sommer eine populäre Ratgeberspalte in dem Jugendmagazin Bravo schrieb. Die bei aller Eindeutigkeit ästhetisch gefälligen Fotos waren das Werk des amerikanischen Fotografen Will McBride (1931-2015), der ebenfalls in Deutschland lebte.

Bei näherer Untersuchung stellte sich allerdings heraus, dass eine einfache Übersetzung des Buches sinnlos gewesen wäre. Die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA waren einfach zu groß. In der Tat, wie uns dies konkrete Beispiel klar bewies, ist die Vorstellung des Sexuellen zu einem erheblichen Grade durch soziokulturelle Faktoren bestimmt. Mit anderen Worten: Die gleichen Fakten haben in verschiedenen Kulturen jeweils eine andere Bedeutung, sowohl was ihren Sinn als auch ihre Wichtigkeit betrifft. Dies trifft besonders auf die Sexualität von Jugendlichen zu. Für mich war das eine überraschende Erkenntnis, die ganz allgemein mein Interesse an dem Thema weckte und mich schließlich auf eine sexualwissenschaftliche Laufbahn führte. Kurz gesagt: Mein Verleger-Freund und auch ich mussten erkennen, dass das Buch für die amerikanische Leserschaft in seiner ursprünglichen Form nicht verkäuflich war. Sogar einige Fotos mussten ersetzt werden, da sie die typischen deutschen unbeschnittene Penisse zeigten. Ich hatte aber in den Gyms von Cornell und Yale gesehen, dass die allermeisten Amerikaner beschnitten sind. Glücklicherweise hatten die Autoren ein Einsehen und erlaubten uns die nötige, grundsätzliche Änderung unter der Bedingung, dass ihr eigener Vertrag nicht geändert wurde: Ich schrieb einen völlig neuen Text, fügte meinen Namen als Mitautor hinzu und erfand einen neuen Titel: The Sex Book.

Mein erstes Buch in englischer Sprache


Martin Goldstein, Erwin J. Haeberle, Will McBride: The Sex Book,
Herder & Herder, New York 1971
Von links: Originalausgabe, Taschenbuch-Ausgaben von Bantam Books, New York

In dieser Neufassung wurde das Werk in der gleichen Woche von den Wochenillustrierten Time und Newsweek lobend besprochen und erlebte dann in den USA viele Auflagen und zwei sehr erfolgreiche Taschenbuchausgaben. (6) Obwohl ich weniger als ein Drittel der Tantiemen erhielt, hatte ich seitdem keine finanziellen Probleme mehr. Natürlich profitierten die anderen beiden Autoren in Deutschland noch mehr als ich und bedauerten keineswegs, dass sie mir freie Hand gelassen hatten. Im Gegenteil: Viele Jahre später hatte ich noch Gelegenheit, Dr. Goldstein zuhause in Düsseldorf zu besuchen und einen gemütlichen Nachmittag mit ihm zu verbringen. Dabei sprachen wir natürlich über unsere alte amerikanische Publikation und unsere aktuellen Erfahrungen in Deutschland.


Mit meinem Freund und Verleger Werner M. Linz (1935-2013) in seinem Büro
mit unserem ersten Bestseller.

An unseren häufigen Besprechungen im Verlagsbüro nahm öfter auch der Mitverleger meines Freundes teil, der so die Anfänge meiner Autorenlaufbahn miterlebte: Frank Schwörer. Nach einiger Zeit kehrte er jedoch nach Deutschland zurück und gründete in Frankfurt den Campus-Verlag. Viele Jahre später traf ich ihn zufällig in Berlin auf dem Kurfürstendamm, wo er mich spontan zum Essen einlud. Ich gratulierte ihm herzlich zu seinem Erfolg und erzählte ihm auch von meiner neuen Tätigkeit am Robert Koch-Institut, aber bald sprachen wir nur noch recht wehmütig über unsere gemeinsamen alten Zeiten in New York.

7. Zurück nach Berkeley

Es war nur natürlich, dass mich das Thema Sexualität weiterhin beschäftigte. Im folgenden Jahr ging ich deshalb – diesmal ohne Stipendium - noch einmal zu Robert Bellah nach Berkeley. Ich zahlte nun selbst und erklärte ihm, dass ich meine ursprünglichen literarischen Forschungsziele nicht mehr verfolgen konnte, dafür aber die kalifornische Kulturgeschichte näher kennenlernen wollte. Es war einverstanden und wünschte mir viel Erfolg mit allem, was mich interessieren könnte. So nutzte ich die erneute Anbindung an sein Programm für mein Interesse an der menschlichen Sexualität - nicht nur in Japan, sondern überall.

Damit schloss sich für mich ein Kreis, denn mehrere Jahre vorher hatte ich ausgerechnet in Berkeley eine erste, eindrucksvolle Einführung in dieses Thema bekommen und damit sozusagen mein amerikanisches Urerlebnis gehabt. Im Sommer 1967 war ich nämlich von der Yale-Universität zum summer of love nach San Francisco und Berkeley gereist - in drei Wochen per Auto von der Ost- an die West-Küste. In Berkeley wohnte ich monatelang als Saison-Hippie mit anderen in einem großen Hippie-Haus. Hier wurde ich, zunächst ungewollt, dann aber begeistert, Teil einer echten intellektuellen und emotionalen Revolution, die meine aus Deutschland mitgebrachten Vorstellungen gründlich in Frage stellte. Nur wer ihn selber erlebt hat, kann ermessen, was dieser mittlerweile fast sagenumwobene Sommer für uns alle bedeutete. Man sagte zwar in den USA später oft mit einem Augenzwinkern unter Anspielung auf den Konsum von Hash und LSD: Wer sich daran erinnern kann, ist nicht dabei gewesen, aber ich war dabei und erinnere mich sehr gut. Natürlich hörte ich in San Franciscos Fillmore Auditorium die psychedelische Musik der neuesten, später berühmten Bands und erlebte, etwas außerhalb der Stadt, auch noch ein live-Konzert mit der allzu früh verstorbenen Janis Joplin.

Alles in allem bedeutete dieser Sommer einen Wendepunkt in meinem Leben. Deshalb habe ich mich selbst seither auch immer als 67er gesehen, und nicht als 68er, wie viele meiner deutschen Kollegen. Auch glaube ich, dass unsere kalifornische Revolution für die USA folgenreicher war, als die nachfolgende deutsche für Deutschland. Sie entsprang einem tiefergehenden Generationenkonflikt, der in den USA einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel bewirkte, nicht nur in Politik und Medien, sondern auch in der Musik und Kunst. Ja, einige bedeutende Pioniere unseres heutigen elektronischen Zeitalters führten noch viele Jahre später ihre Inspirationen auf die damalige Hippie-Kultur zurück. (7)

Das erste Anzeichen einer kommenden Jugendrevolte war schon einige Jahre früher die Free Speech- Bewegung um Mario Savio in Berkeley gewesen. Der weitverbreiteten Anpassungsverweigerung von Kindern der weißen Mittelschicht im Sommer 1967 folgten dann, keineswegs zufällig, Massenproteste gegen den Krieg in Vietnam. Bei meinem zweiten Forschungsaufenthalt 1970 in Berkeley - oder Berserkeley, wie es damals in den Zeitungen hieß - ging ich durch Schwaden von Tränengas in die Universitätsgebäude, vor deren Türen der damalige Gouverneur Ronald Reagan Nationalgardisten mit aufgepflanzten Bajonetten postiert hatte. Auch die Hippie-Szene hatte sich sehr verändert, denn allmählich sickerten von außen auch harte Drogen hinein. Gleichzeitig erstarkte die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Deren Vertreter reichten von gewaltbereiten radikalen Gruppen wie den Black Panthers bis zum Friedensnobelpreisträger Martin Luther King. Ich nahm auch an einer Party der Black Panthers in den Hügeln von Berkeleys Nachbarstadt Oakland teil, wo sie bei reichen potenziellen Gönnern um finanzielle Unterstützung warben. (8) All dies fand vor dem Hintergrund gewalttätiger Aufstände in den schwarzen Ghettos statt, die in den 60er und frühen 70er Jahren in vielen Städten von New York bis Los Angeles aufflammten, selbst in New Haven, rings um die Yale-Universität. Um all dies besser zu verstehen, verschlang ich, wie viele andere auch, die damals aktuellen Bestseller Soul on Ice von Eldridge Cleaver sowie die auch sexologisch interessante Autobiographie von Malcom X. Und natürlich hatte ich auch schwarze, d.h. afro-amerikanische Freunde, mit denen ich diskutieren konnte. In Oakland wurde Huey Newton, der junge, intelligente und charismatische Mitbegründer der schwarzen Panther, bald in den Medien so populär, dass man ihn für eine akademische Diskussion nach Yale einlud. Schließlich erwarb er sogar einen Doktortitel an der UC Santa Cruz. In den folgenden Jahren geriet er aber zunehmend in ein kriminelles Milieu und wurde dann, nur 47 Jahre alt, auf offener Straße von einem Konkurrenten und Drogenhändler erschossen. Es war eine weitere tragische Episode in einer Zeit großer sozialer Umwälzungen, die auch eine im Hintergrund ständig lauernde Gewaltbereitschaft provozierten. Deren plötzliche Ausbrüche wirkten auf mich, wie auf viele andere meiner Generation, immer aufs Neue verstörend und deprimierend. Um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen: Während meiner Studienzeit in Cornell wurde Präsident John F. Kennedy erschossen (1963), in meine Zeit in Yale fiel die Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy (1968), und in San Francisco erlebte ich dann den Doppelmord an unserem Stadtrat Harvey Milk und dem Bürgermeister George Moscone (1978). Alle diese und noch andere, in Europa weniger bekannten politischen Morde (an den Bürgerechtsaktivisten Chaney, Goodman und Schwerner 1964) und der Mordversuch am Gouverneur von Alabama George Wallace 1972) vergifteten das öffentliche Klima, stärkten aber auch den Freiheitswillen. Besonders schockierend war die Erschießung unbewaffneter demonstrierender Studenten durch die Nationalgarde an der Kent State University in Ohio 1970. (Auch in Berkeley war 1969 ein demonstrierender Student erschossen worden.) Diese Ereignisse wühlten die ganze Nation auf, und im Endresultat gewannen die progressiven Kräfte an Einfluss.

Auch die sexuelle Revolution, deren Anfänge schon etwas weiter zurücklagen, gewann erheblich an Schwung. Die Pille zur Empfängnisverhütung, die seit 1960 auf den Markt war, setzte sich in den folgenden Jahren zunehmend durch mit erheblichen Folgen für das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt erschienen in rascher Folge ständig neue sexuell orientierte Publikationen. (Auch ich selbst leistete ja meinen bescheidenen Beitrag dazu.) Dazu erlebten die USA ein erneutes Aufblühen wissenschaftlicher Forschung zum Thema Sexualität (z. B. die bahnbrechenden Arbeiten von Masters & Johnson). Bald gab es an immer mehr Universitäten auch regelrechte Studienprogramme Human Sexuality mit eigenen akademischen Abschlüssen. Gleichzeitig fand der Feminismus neue Kraft, und auch die Schwulenbewegung machte sich mit ständig anwachsenden Demonstrationen bemerkbar.

Ohne die damaligen sozialen Unruhen wären die gleichzeitigen sexuellen Befreiungsschritte nicht möglich gewesen, von der Revision psychiatrischer Handbücher bis zur Strafrechtsreform und der Selbstorganisation vieler sexueller Minderheiten, die aus ihrer langen Verborgenheit bald ins Licht der Öffentlichkeit traten. (Was hier an lange Unsichtbarem allmählich zutage kam, wurde dann von einigen überraschten deutschen Kollegen als Neosexualitäten missverstanden.) All diese politisch-sozialen Auseinandersetzungen strahlten auch auf Europa aus, wo man allerdings ihren amerikanischen Ursprung oft nicht wahrhaben wollte, und wo sie teilweise zu politisch verkrampftem Unsinn verkamen. (9) Wie schon angedeutet, wurde die Hippie-Revolution in den USA unter anderem aber auch zur Basis einer aufblühenden, gut organisierten Sexualwissenschaft, deren aufregende Wachstumsphase ich als Zeuge unmittelbar miterleben konnte.


Sexualität als eigenes Studienfach

Der große kommerzielle Erfolg des Sex Book veranlasste meinen Freund und Verleger, mir für ein neues Buch einen sehr erheblichen Vorschuss zu geben, von dem ich für mehrere Jahre leben konnte. Thema und Abgabetermin standen mir frei. Außerdem liefen noch die recht einträglichen Tantiemen aus meinen früheren Verlagsprojekten weiter. Also war ich nun alle finanziellen Sorgen los und konnte leben, wo ich wollte. Ich hatte aber einen immer noch ungestillten Drang nach Westen, ganz nach dem alten amerikanischen Motto: Go West, young man! Deshalb entschied ich mich, nach Honolulu an den Strand von Waikiki zu ziehen. Der war damals noch nicht so zubetoniert wie heute. Tatsächlich standen dort auf längerer Strecke sogar noch einstöckige Holzhäuser auf Stelzen, und in einem davon wohnte ich. Dabei lernte ich auch, dass in Hawai’i keine Privatstrände geduldet werden, und dass deshalb auch alle Hotelstrände immer öffentlich zugänglich sind.


Dies Foto von mir wurde zu Anfang der 70er Jahre in Honolulu aufgenommen.

Bald gewöhnte ich mich an die hawaiianische Lebensphilosophie, entschleunigte und entspannte mich. Dabei dachte ich noch oft voller Dankbarkeit an meine Feinde in Heidelberg, die mich aus ihrer Schlangengrube in dieses Paradies vertrieben hatten.


Foto: Wikimedia Commons

University of Hawai’i at Manoa in Honolulu
Blick auf den Campus mit dem erloschenen Vulkan Diamond Head im Hintergrund.

Nach mehreren Monaten glücklichsten Strandlebens aber fing ich an, die nähere Umgebung zu erkunden. Dabei geriet ich zufällig auf das Gelände der University of Hawai’i und sah dort zu meinem Erstaunen, dass man einen regelrechten akademischen Studiengang Human Sexuality mit einem Magisterabschluss in Sozialarbeit eingerichtet hatte. Es gab dafür auch einen interdisziplinären Lehrkörper - für Sozialarbeit (Harvey L. Gochros und David A. Shore), Anatomie (Vincent de Feo), Gynäkologie (Ron Pion) und Biologie (Milton Diamond) - alles hervorragende, innovative Vertreter ihrer Fächer, mit denen ich mich bald anfreundete. Diamond ist heute noch Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats. Sie luden mich auch in ihre Lehrveranstaltungen ein, wo ich ihre sehr engagierten Studentinnen und Studenten kennen lernte. In dieser ungezwungenen, aber anregenden Entdeckerphase machte ich mich auch gerne nützlich und schrieb spontan zwei Beiträge für Bücher von Gochros und Shore – einen über die historischen Wurzeln sexueller Unterdrückung und einen anderen über jugendlichen Sexualität in der modernen westlichen Gesellschaft. (10) Leider begriff die Universitätsleitung nicht, welche Pioniertat hier vollbracht worden war und versäumte es, ihre in diesem Punkt weltweit führende Stellung zu nutzen und auszubauen. So löste sich im Verlauf der Jahre der Lehrkörper auf, und das ganze Programm verschwand aus dem akademischen Angebot.

Das Human Sexuality Program der University of Hawai‘i

    
Das Studienprogramm führte zu einem Abschluss mit Magistergrad
Hier einige Mitglieder des Lehrkörpers.
Von links: Harvey Gochros, Ron Pion, Milton Diamond.

Allerdings gab es damals für den neuen Studiengang, wie überhaupt zum Thema Sexualität, noch nirgends ein passendes Lehrbuch. Da ich inzwischen als Autor in den USA finanziell unabhängig geworden war und reichlich Zeit hatte, entschloss ich mich, das nötige illustrierte Buch zu verfassen. Der Gegenstand interessierte mich nun auch wissenschaftlich, und es gibt ja keinen besseren Weg, sich ein neues Fachgebiet zu erschließen, als eben dafür ein Lehrbuch zu schreiben. Nach einer gewissen Anlaufperiode zog ich dann zurück aufs Festland, nämlich nach San Francisco in eine schöne Wohnung auf dem Nob Hill mit Dachterasse und herrlichem Blick auf Downtown. Nun konnte ich die ausgezeichnete Stadtbibliothek und die Universitätsbibliothek in Berkeley nutzen. Ich blieb aber bei meinen regelmäßigen Besuchen in Honolulu. Ende 1974 lernte ich meinen Partner Gene kennen, mit dem ich heute noch zusammenlebe. Seit 1975 begleitete er mich dann regelmäßig nach Hawai’i, denn als Lehrer hatte er jeden Sommer einen dreimonatigen bezahlten Urlaub. (Sein Vorname Gene ist eigentlich die amerikanische Kurzform seines spanischen, auch in seinem Führerschein eingetragenen wirklichen Namens Generoso, der seinen Character sehr treffend bezeichnet.)

Unser Leben in San Francisco und Honululu


Gene in den 1970er Jahren.
Oben: Auf dem Balkon unseres Apartments in San Francisco.
(Er besaß auch ein Haus in Modesto CA, wo er wochentags arbeitete.)
Unten: Am Strand von Waikiki, wo wir unsere Sommer verbrachten.

Wie erwähnt, hielt ich Kontakt mit dem Universitätsprogramm in Hawai‘i und flog mit Gene jedes Jahr für einige Wochen oder auch mehrere Monate nach Honolulu, das mir so zum Zweitwohnsitz wurde. Da ich Mitglied im Presse-Club San Franciscos war, genossen wir auch alle Privilegien im Outrigger Canoe Club, und so konnte unser Leben wirklich nicht angenehmer sein. Besonders gerne erinnere ich mich noch an das tägliche Schwimmen am Strand von Waikiki, die Bootsfahrten hinaus aufs Meer, die für uns ungewohnten, aber als sehr angenehm empfundenen warmen Nächte, die ausgedehnten Luaus (traditionelle Festessen mit ihren typischen Gerichten), die hawai‘ianische Musik, von der ich mir historische Aufnahmen kaufte, und das regelmäßige Sonntagsbrunch im Hotel Royal Hawaiian. Als in Waikiki die alten, romantischen Holzhäuser abgerissen wurden, um neuen Bettenburgen Platz zu machen, zogen wir jeden Sommer in ein anderes der großen Strandhotels.


Gene auf einem Katamaran vor Honolulu.

Wir erlebten auch die historische, triumphale Ankunft der Tahitianer, die mit ihren traditionellen Booten ohne moderne Navigationsinstrumente und nur nach den Sternen orientiert, erstmals ganz praktisch bewiesen, dass Hawai’i von Polynesien aus besiedelt worden war. Natürlich blieben wir nicht nur auf Oahu, sondern erkundeten auch die anderen hawaiianischen Inseln: Hawaii, die große Insel, mit ihrem schwarzen Strand, mit dem Todesort von Captain Cook, ihrer City of Refuge (Pu‘uhonua O Honaunau), und auch die Insel Maui mit ihrem alten Walfängerhafen Lahaina und ihren Krater-Mondlandschaften waren besonders inspirierend  - alles unvergessliche Eindrücke! Aber ich gerate ins Schwärmen und schweife ab!

Waikiki Beach, Honolulu, Hawai’i


Foto: Wikimedia Commons

Hier wohnte ich wiederholt für längere und kürzere Zeit in den frühen 70er Jahren.
Ab 1975 jeden Sommer für Wochen oder auch Monate mit meinem Partner Gene. Damals gab es dort allerdings noch sehr viel weniger Hochhäuser als auf diesem neueren Foto.

In San Francisco kam ich bald in Kontakt mit dem Fotografen und Filmemacher Laird Sutton, der mich wiederum mit dem ersten Museum erotischer Kunst in der Stadt bekannt machte (Sammlung Kronhausen). Als mein Lehrbuch dann als Sex Atlas im Druck erschien (11), zeigte sich allerdings, dass mir zwei Professoren von der Stanford University zuvorgekommen waren. Sie hatten inzwischen das allererste sexologische Lehrbuch herausgebracht. Offensichtlich gab es nun auch in Stanford ein entsprechendes Studienprogramm. Mein eigenes Lehrbuch war also nur noch das zweite. (12) Allerdings erreichte es dann wegen seines Stils und seiner Aufmachung nicht nur den akademischen Markt, sondern auch noch die regulären Buchhandlungen und Buchclubs. In dieser Beziehung war und blieb es einmalig. Ins Deutsche, Niederländische und Türkische übersetzt, verkaufte es sich auch in diesen Sprachen im allgemeinen Buchhandel. Es war aber nicht nur kommerziell erfolgreich: Der amerikanische Sexuality Information and Education Council of the United States (SIECUS) zählte es 1999 zu den einflussreichsten sexologischen Büchern der vorhergehenden 35 Jahre,  zusammen mit anderen einschlägigen Werken, etwa denen von Susan Brownmiller, Betty Friedan, Michel Foucault, John Boswell und Masters & Johnson. (13) In den Folgejahren lieferten dann immer neue Autoren sexologische Textbooks für den universitären Gebrauch, denn mittlerweile hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein eigenes Studienfach Menschliche Sexualität gefordert. So gab es z.B. auch an der Ostküste der USA bald drei hervorragende Universitätsprogramme zum Thema - an der City University of New York (CUNY), an der New York University (NYU) und an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Alle drei aber konnten sich auf Dauer nicht behaupten und wurden nach dem Ausscheiden ihrer Initiatoren sang- und klanglos beendet. Hier zeigte sich also schon recht früh ein grundsätzliches Problem mit neuen wissenschaftlichen Ansätzen innerhalb traditioneller Strukturen. Aber mehr dazu später!


Mein Lehrbuch
Von links: Amerikanische Originalausgabe, deutsche, niederländische und türkische Übersetzungen.


Ein Fortbildungsinstitut in San Francisco

Das Museum in San Francisco hatte seitdem die erotische Kunst an Eberhard und Phyllis Kronhausen zurückgegeben und sich zu einer privaten Graduate School entwickelt, die mir eine Professur anbot. Diesem Institute for Advanced Study of Human Sexuality habe ich 11 Jahre lang bis 1988 angehört und dort mehr über das menschliche Sexualverhalten gelernt, als in allen Universitäten vorher und nachher. Währenddessen war ich aber gleichzeitig auch noch für mehrere Jahre regulärer Mitarbeiter des Kinsey-Instituts und dreimaliger Gastprofesssor an verschiedenen Universitäten in den USA und Europa. Außerdem war meine Anbindung an das Institut in San Francisco immer so locker, dass ich jederzeit einen mehrmonatigen Urlaub machen konnte. Dennoch: Es blieb meine Basis und meine Quelle für aktuelle Informationen. Es war allerdings für deutsche Verhältnisse nie richtig akkreditiert, d.h. seine akademischen Abschlüsse (Magister- und Doktorgrade) wurden und werden nur in den USA und Kanada und teilweise in Lateinamerika anerkannt. Ich selbst brauchte keine neuen akademischen Titel, bekam aber trotzdem noch einen Doctor of Education Ed.D. wegen meines Lehrbuchs, das als Dissertation gewertet und von allen unseren Studenten genutzt wurde. Für die Führung meines Professoren- und Doktortitels aus San Francisco in Deutschland erhielt ich später für alle Fälle eine Sondergenehmigung vom Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin. Ich machte aber kaum Gebrauch davon, denn nach meinem Entschluss, endgültig in Berlin zu bleiben, wurde ich auch noch ganz offiziell mit dem deutschen Titel Professor und entsprechender Urkunde als Bundesbeamter eingestellt. (Von meinem zweiten Doktortitel hätte ich ohnehin nie Gebrauch gemacht, denn das wäre mir albern vorgekommen.)

The Institute for Advanced Study of Human Sexuality
San Francisco, 1523 Franklin Street



Hinter der unmarkierten, absichtlich unauffälligen Fassade einer früheren Autowerkstatt und Garage verbarg sich ein neu erbautes zweistöckiges Inneres mit Rezeption, Auditorium, großem Gemeinschaftsraum, umfangreicher Bibliothek, Filmstudio und Archiv, verschiedenen Büros und einem geräumigen Waschraum mit Toiletten und hot tub.

Obwohl unserem Institut eine in Deutschland gültige Akkreditierung fehlte, galt es zu meiner Zeit aber in den USA als das Harvard der Sexologen. Nach meinem Ausscheiden verlor ich dann leider den Kontakt. Dennoch blieb ich, wie auch andere frühere Kollegen, aus Dankbarkeit weiter auf der Mitarbeiterliste und erhielt auch gelegentlich Anfragen und Hilfegesuche von neuen Studenten, die ich gerne beantwortete. Die eigentliche Weiterentwicklung aber bekam ich in Berlin nicht mehr mit. Zu meinem 70. Geburtstag besuchte ich noch einmal San Francisco und meine alte akademische Heimstatt, fand aber wegen der Ferienzeit nur den Institutsleiter Ted McIlvenna anwesend und einen neuen akademischen Dekan, Howard Ruppel, den ich als erfahrenen Sexologen seit Jahren gut kannte. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass fast alle früheren Kollegen inzwischen gestorben oder schon lange ausgeschieden waren, und so erinnerten wir übrig gebliebenen alten Schlachtrösser uns umso lieber an unsere gemeinsame frühe Glanzperiode.

Frühjahr 2006: Besuch meiner früheren Arbeitsstätte In San Francisco
Im Foto links von mir der damals neue akademische Dekan Howard Ruppel (1941-2016).
Rechts, mit dunklem Hemd und heller Krawatte, der Gründer und Präsident Ted McIlvenna.

Anscheinend befand sich das Institut, ohne dass ich es bemerkte, aber schon damals in einem rapiden Niedergang. Howard Ruppels Mitarbeit endete drei Jahre später (2009), aber der Rest des Lehrangebots schleppte sich wohl mit verschiedenen Improvisationen noch irgendwie weiter. Das Institut hatte bald keinen festen Lehrkörper mehr und verlor dann auch noch seine frühere, ohnehin sehr begrenzte Akkreditierung. Wie ich nun erfahren habe, ist das Institutsgebäude im vorigen Jahr verkauft und abgerissen worden, denn durch die räumliche Nähe der neuen Silikon-Valley-Milliardäre mit ihren ständig weiter wachsenden Firmen sind in San Francisco die Mieten und Grundstückspreise explodiert. An der freigeräumten Stelle soll nun ein vielstöckiges Haus mit Luxuswohnungen entstehen. Damit hatte das Institut seine Stadtadresse und seine Existenzberechtigung verloren. Es war noch zu Lebzeiten seines Gründers Geschichte geworden. Also verschwand auch seine Werbung aus dem Internet. Wie ich später aus leider unzuverlässiger Quelle erfuhr, hat es sich möglicherweise in eine internationale religiöse Mission verwandelt, was ja ursprünglich auch das treibende Motiv seines Gründers gewesen war. Genaue Nachfragen sind mir jetzt nicht mehr möglich, denn, wie ich erst kürzlich herausfand, ist er leider verstorben.

1. Lehrkörper

Der Gründer und Präsident des Instituts war Ted McIlvenna (1932-2018), ein Theologe, Methodistenpfarrer und Sozialaktivist, dessen lebensbejahende Toleranz gegenüber der ganzen Vielfalt menschlichen Sexualverhaltens in seinem christlichen Glauben begründet war. Er war eine überlebensgroße, in jeder Hinsicht faszinierende Persönlichkeit, der ich hier mir keiner einfachen Skizzierung gerecht werden könnte. Einige Jahre älter als ich, lebte er bis zu seinem Tod noch in einer Stadt in der Nähe von San Francisco.

Einige Fakultätsmitglieder am Institute for Advanced Study of Human Sexuality

      
IASHS Catalogue

Ted McIlvenna        Phyllis Lyon      Dudley Chapman      Laird Sutton
Von links: Gründer und Präsident des IASHS und einige Fakultätsangehörige.

Zum damaligen festen Lehrkörper gehörten, außer mir selbst, zwei Psychiater (Alfred Auerback, Ross Hendricks), ein Psychologe (Wardell Pomeroy), zwei Gynäkologen (Richard Bennett, Earle Marsh), zwei Osteopathen (Dudley Chapman, William Seifer), zwei weitere Geistliche (Lewis Durham, Laird Sutton) und ein Rechtsanwalt (Arthur Wells). Unser akademischer Dekan und gleichzeitig mein vertrautester Kollege war Wardell B. Pomeroy, der ehemals engste Mitarbeiter Alfred Kinseys. Mit ihm verbrachte ich fast jeden Tag viele Stunden, in denen wir über alle erdenklichen Aspekte unseres gemeinsamen Themas sprachen. Ein weiterer, für mich wichtiger Mentor und Ratgeber war der mit Pomeroy seit langem befreundete Earle M. Marsh, ein medizinischer Berater Kinseys mit einem ehemals sehr bewegten Leben und großer Erfahrung, von dem ich ebenfalls eine Menge lernte.

  
IASHS

Wardell B. Pomeroy    Earle M. Marsh
    (1913-2001)                (1911-2003)

Diese beiden für mich sehr wichtigen, älteren Freunde sind allerdings schon vor Jahren verstorben und das gilt auch für die meisten anderen der oben erwähnten Kollegen. Zwei wichtige Kolleginnen aber leben wohl noch, obwohl sie mittlerweile hochbetagt und schon vor langer Zeit ausgeschieden sind: Die bekannten Feministinnen: Phyllis Lyon, mit ihrer Partnerin Del Martin eine Vorkämpferin der Lesbenbewegung (14), und Maggi Rubenstein, die Pionierin der Bisexuellenbewegung (15).


ISAHS Library

Phyllis Lyon und ihre Partnerin Del Martin hatten 1955 die erste Organisation für lesbische Rechte gegründet: The Daughters of Bilitis. Im folgenden Jahr 1956 gaben sie die erste lesbische
Zeitschrift heraus: The Ladder.

2. Gastdozenten

Außerdem hatten wir regelmäßig prominente Gastdozenten, von denen einige mehrmals wiederkehrten. Ich erinnere mich heute besonders noch an die Forscher Frank A. Beach, John Money, Evelyn Hooker, Milton Diamond, Alan Bell, James W. Prescott, Vern Bullough, Dennis Altman, Norma McCoy, Gorm Wagner, Clive M. Davis, Robert Francoeur, Laud Humphreys, Anne Peplau, Sally Binford, Shere Hite, Fred Whitam, Pepper Schwartz, Fang-fu Ruan und Beverly Whipple, ebenso an die Therapeuten Albert Ellis, Richard Green, William H. Masters, Bernard Apfelbaum, David McWhirter und Andrew Mattison, Julia Heiman, Joan und Dwight Dixon, Lonnie Barbach, Bernie Zilbergeld, Jack Annon, Fritz Klein, Leah Schaefer, William Hartmann und Marilyn Fithian, an bekannte Autoren wie Gore Vidal, Glenway Wescott, Alex Comfort, John Rechy, Simon Karlinsky, Edward Brecher und Robert Rimmer, an die Soziologen Ira Reiss, Martin S. Weinberg, John Gagnon und William Simon, an die große Vorkämpfer für sexuelle Gesundheitserziehung Mary S. Calderone, die Pädagogen Sol Gordon, Deryck Calderwood, Lester A. Kirkendall, Bill Granzig, Bernard Goldstein, John De Cecco, Michael Carrera und Roger Libby, den Sheriff von San Francisco, Richard Hongisto, die Feministinnen Betty Dodson und Margo St. James, und dazu kamen noch viele, viele andere. Ja, eigentlich kamen alle, die in den USA etwas Wichtiges zum Thema Sexualität zu sagen hatten, als Gastdozent(inn)en an unser Institut. Kurz, es war damals wirklich das Weltzentrum der Sexologie. Noch nie vorher und nirgendwo sonst war soviel Fachverstand an einem Ort versammelt gewesen. Allerdings wurde auch nie eine einzige Richtung oder bestimmte Ideologie vertreten; dafür waren die jeweiligen Lebenserfahrungen und Ansätze der Gäste zu wenig vergleichbar. Stattdessen mussten wir alle uns mit diesen sehr unterschiedlichen Menschen und ihren Anliegen auseinandersetzen und uns so allmählich unsere eigene Meinung bilden.


Wardell Pomeroy (rechts) und ich vor unseren Studenten
bei der Einführung eines gemeinsam organisierten Seminars.

Dazu kamen noch Gastvorträge und Seminare von verschiedenen sexualpolitischen Aktivisten, Swingers, Transvestiten und Transsexuellen, Politikern, Rechtsanwälten, Vertretern der Sittenpolizei und des Strafvollzugs, weiblichen und männlichen Prostituierten, Clubbetreibern, Inhabern von Sex Shops, Journalisten, Verlegern, Lektoren, Sammlern und Produzenten von Pornographie, Filmregisseuren, bildenden Künstlern usw. usf. Hier galt es, sich, unverbildet durch vorgegebene Theorien, mit vielen neuen sexuellen Realitäten bekannt zu machen, die damals in traditionellen Universitäten noch kaum wahrgenommen wurden.

Der originale SAR Guide


Links: Amerikanische Ausgabe 1975, Rechts: Französische Ausgabe 1977

3. SAR

Zu alledem bot unser Institut als Pflichtübung noch eine weitere Besonderheit: Das Sexual Attitude Restructuring (SAR). Dieser von unserem Institut entwickelte Prozess wurde bald anderswo von anderen kopiert und teilweise umbenannt. Im Kern aber nutzte er auch dort die ursprünglich bei uns in San Francisco gewonnenen Erfahrungen. Er beruhte auf der Überzeugung, dass eine rein theoretische Beschäftigung mit der Sexualität nicht ausreicht, um wirklich kompetente Sexologen auszubilden. Diese müssen auch mit sexuellen Ausdrucksformen vertraut gemacht werden, die ihnen ansonsten fremd sind. Vor allem aber müssen sie mit ihrer eigenen Sexualität völlig im Reinen sein, sich also verborgene Wünsche eingestehen und eigene ungelöste innere Konflikte erkennen und lösen. Wie aber was das zu erreichen, ohne dass man den Studierenden persönlich zu nahe trat?

Zwei Bücher von Wardell B. Pomeroy


Von links: 1. Seine Erinnerungen an Alfred Kinsey (1972), dessen erste und für lange Zeit
einzige Biographie. 2. Sein Buch zur Technik des Kinsey Interviews (1982)

4. Kinsey-Interview

Zunächst einmal hatten alle Student(inn)en die Gelegenheit, sich von Wardell Pomeroy in einem Kinsey Interview befragen zu lassen. Er war der größte lebende Experte auf diesem Gebiet, denn er hatte ja, mit Kinsey zusammen, 90% der Interviews für die Kinsey Reports durchgeführt (Kinsey und Pomeroy je 45%). Ich selbst stellte mich auch diesem Interview, und wie alle anderen Befragten empfand ich es hinterher als großen persönlichen Gewinn. Pomeroy bot außerdem ein Seminar an, in dem er die Befragungstechnik und die Aufzeichnung der Antworten erklärte. Dieses Seminar war für viele Therapeuten, die bei uns studierten, eine Offenbarung und große Hilfe bei ihrer weiteren Berufstätigkeit. (16)

Das Kinsey Interview


(Aus dem Anleitungsbuch Taking a Sex History von W. B. Pomeroy.)
Links: Leerer Papierbogen (ca. DIN-A4) vor dem Interview.
Rechts: Ausgefüllt nach dem Interview
Die Kodierung war nicht entschlüsselbar, weil sie die gleichen Symbole in verschiedene Kästchen eintrug. Die einzelnen Kästchen waren aber nicht gekennzeichnet, und je nach der Position der verschiedenen Kästchen hatten die Symbole eine andere Bedeutung.

5. Fuckorama

Für das Studium obligatorisch war dann das oben erwähnte SAR, d.h. eine Kombination von praktischen Übungen. Die erste und einfachste davon bestand in einem sog. Fuckorama. Dazu wurden einen ganzen Tag lang auf einer großen weißen Wand gleichzeitig über ein Dutzend Pornofilme gezeigt, die alle menschenmöglichen sexuellen Handlungen darboten. Eine genauere Beschreibung erübrigt sich, denn es waren wirklich ALLE. Während mehrerer Pausen besprachen dann die Zuschauer in kleineren Gruppen ihre Reaktionen. Diese reichten von angeblicher Langeweile bis zur offenen Empörung und wilden Drohungen. Der Tag musste aber durchgestanden werden, und am Ende hatten sich alle beruhigt. In der Tat gab es nie einen Rücktritt oder Ausfall. Das Ganze wurde auch begleitet mit verschiedenen Atem- und Entspannungsübungen. Ihr pädagogischer Wert war jedenfalls unbestritten. Heute, soviele Jahre später, bei der Allgegenwart von Pornographie im Internet, mag diese Übung als skurril, naiv und harmlos erscheinen, aber damals war sie notwendig, neu und sehr gewagt.

Nach diesem Einstieg in das Studium wurden die Teilnehmer(innen) aufgefordert, an weiteren praktischen Übungen teilzunehmen, die allerdings, ja nach Jahreszeit und Sachlage, verschieden ausfielen. Zum Beispiel: Besuch eines Sadomasochisten-Clubs mit sachkundiger Führung des Betreibers, Picknick auf einem Nudistengelände, Besuche verschiedener, betont heterosexueller und homosexueller Pick-up- Bars, Besuch einer sexuell revolutionären Kommune und Diskussion mit ihren dogmatischen Mitgliedern, Besuch eines Pornokinos in Begleitung des Besitzers und Produzenten, und schließlich, in jedem Juni, Mitmarschieren in der jährlichen Schwulenparade. All das lockerte unsere Studenten auf, und einige erlebten so das Studium selbst als persönliche sexuelle Befreiung.

6. Sexuelle Dokumentarfilme

Unser Institut war aber in den USA noch für etwas anderes bekannt: Sexuelle Dokumentarfilme. Der schon erwähnte Filmemacher Laid Sutton, der auch noch ordinierter Methodistenpfarrer war, begann zu Informationszwecken, Freiwillige in ihrer eigenen privaten Umgebung bei ihren sexuellen Aktivitäten zu filmen - ohne Drehbuch und ohne Regieanweisungen irgendwelcher Art. Sein Ziel war ein sexuelles cinéma verité - die filmische Dokumentation von realem menschlichem Sexualverhalten. Dies war damals ein revolutionäres Konzept, das aber im Laufe der Jahre viele überzeugte und auch Nachahmer fand. So zeigten die Filme zum Beispiel erstmalig den Geschlechtsverkehr eines älteren Paares oder auch den eines jungen Paares, bei dem der männliche Partner querschnittgelähmt war. Gerade auch der letztere Film war bahnbrechend zu einer Zeit, als viele junge Männer schwerbehindert aus dem Vietnamkrieg zurückgekommen waren und niemand ihnen mit ihren sexuellen Problemen helfen konnte. So kauften denn auch bald an viele medizinische Fakultäten unsere Filme für ihre eigene Fortbildung. Ich selbst zeigte auch einige von ihnen in den achtziger Jahren mit großem Erfolg bei den jährlichen sexualmedizinischen Fortbildungstagen in Heidelberg, an denen ich mehrfach als Gastdozent aus den USA teilnahm.

Im Jahre 1979 allerdings hatten wir mit unseren Filmen erhebliche Probleme in Italien. In Rom fand der erste Kongress einer neu gegründeten World Association for Sexology (WAS) statt. (Sie wurde später in World Association for Sexual Health umbenannt.) Zu diesem Kongress reiste unser Institut in voller Mannschaftsstärke an. Zu unserem Erstaunen wurden aber bei unserer Einreise alle unsere Lehrfilme als Pornographie beschlagnahmt und erst bei unserer Abreise wieder freigegeben. Ich selbst hielt ein rein mündliches Referat, das nicht beanstandet, aber auch nicht besonders beachtet wurde. Es erschien dann allerdings gedruckt im Kongressband, wo es noch viele Jahre später Zustimmung bei seinen Lesern fand. (17) Jedenfalls traten meine Institutskollegen und ich unverdrossen als Referenten auch bei den folgenden Weltkongressen auf: Mexico City (1980), Jerusalem (1981), Washington DC (1983) und Heidelberg (1987). Selbst später, als Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts, nahm ich noch aktiv an den Weltkongressen in Caracas (1993), Valencia (1997) und Hong Kong (1999) teil. Diese Kongresse erwiesen sich für uns alle als sehr fruchtbar, denn so lernten wir viele ausländische Sexologen persönlich kennen, mit denen es dann einem regen wissenschaftlichen Austausch kam. Mit der Zeit fiel mir aber immer mehr auf, dass die damals bekannten offiziellen deutschen Sexualwissenschaftler aus Hamburg und Frankfurt/M an diesen Kongressen nicht teilnahmen - besonders schwer erklärlich bei dem Kongress in Heidelberg.

Sexologischer Weltkongress in Washington DC 1983


Der 6. World Congress of Sexology fand in der Hauptstadt der USA
statt, und dort war ich auch Mitglied des organisierenden Konsortiums.
Links: Deckblatt des Kongressprogramms (Schrägdruck des Textes im Original).
Rechts: Für meinen Eröffnungsvortrag Sexology - Conception, Birth and Growth of Science
hatte ich eine Stunde Redezeit. Er erschien dann - mit einigen Kürzungen - in dem Sammelband:
R. Taylor Segraves und Erwin J. Haeberle Hg.,
Emerging Dimensions of Sexology, New York, Praeger 1984.

7. Dokumentation aller Lehrveranstaltungen

An unserem Institut wurden sämtliche Lehrveranstaltungen, auch die unserer Gäste, gefilmt und als Videokassetten unseren Studenten zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise kam über die Jahre eine enorme Anzahl von Videos zusammen, und so wurde unser altes Institut die am besten dokumentierte Hochschule aller Zeiten. Leider sind alle diese Dokumente nun verloren. Ich hatte immer gehofft, dass sie eines Tages irgendwie für die Zukunft gesichert und dann vollständig der Forschung zur Verfügung stehen würden. Es gab wohl kaum eine zweite Quelle, die so viel über die sexuelle Revolution der sechziger, siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts aussagen konnte. Wie sich nun aber leider herausstellt, hatte Ted McIlvenna bei der Auflösung des Instituts dafür keinerlei Vorsorge getroffen. Über die Gründe für dieses Versäumnis kann ich nur spekulieren. Sobald ich selbst vom Verkauf des Institutsgebäudes erfuhr, bot ich ihm mehrfach an, seine gesamte Bibliothek und seine Sammlungen für mein Haeberle-Hirschfeld-Archiv in Berlin zu übernehmen. Leider bekam ich nie eine Antwort und vermute heute, dass er zu dieser Zeit schon nicht mehr erreichbar und womöglich handlungsunfähig war. Ich weiß inzwischen, dass er in einem Pflegeheim gestorben ist. Wie pflegebedürftig er war und lange er dort schon gelebt hatte, ist mir aber unbekannt. Vielleicht war er schon vor der Schließung seines Instituts dort eingezogen oder eingewiesen worden. Und vielleicht ging ihm auch das unrühmliche Ende seines Lebenswerks zu nahe, und so hatte er nicht mehr die nötige Kraft, wenigstens die einmaligen, unersetzlichen Videos zu retten. Ich werde mich aber weiterhin bemühen, allen eventuellen Spuren nachzugehen, die vielleicht doch noch irgendwo zu den Videos führen.

8. Trimestersystem

Das Institut war auch technisch-organisatorisch allen Universitäten weit voraus. Es arbeitete mit einem Trimester-System, das nur jeden vierten Monat die persönliche Anwesenheit der Studenten erforderlich machte. In diesem einen Monat ballten sich dann alle Vorlesungen und Seminare. Diese wurden dann als Videoaufnahmen allen Studenten per Post zugeschickt. In der Zwischenzeit wurden Forschungsprojekte durchgeführt, Seminararbeiten und Bücherrezensionen geschrieben und eingereicht usw. – und dies alles viele Jahre bevor es ein Internet oder gar Massive Online Courses gab. Das Ganze war möglich, ja notwendig, weil wir nur Studenten mit bereits abgeschlossenem Studium oder einer entsprechenden Berufsausbildung aufnahmen, etwa aus der Medizin, Familientherapie, Krankenpflege, Sozialarbeit oder Seelsorge. So studierten bei uns u.a. auch mehrere katholische Priester. Es handelte sich also immer um mid-career professionals, die ihre reguläre Arbeit nicht allzu lange unterbrechen konnten, aber zusätzliche Qualifikationen brauchten und deshalb an unser Institut kamen. Genau genommen, war es eben ein reines Fortbildungsinstitut. (Das Wort Advanced in seinem Titel deutete auf diesen Sachverhalt hin.) Dementsprechend führten wir auch außerhalb unserer eigenen Räume sexologische Fortbildungskurse für Mediziner durch - in Los Angeles, Fresno, und an der UC Davis. In San Francisco selbst boten wir solche Kurse in Kongress-Hotels an, so z.B. für das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG), damals in Zusammenarbeit mit dessen Organisator William a. Granzig, der heute Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats ist.


Das Foto zeigt mich in den 70er Jahren

9. Besucher

Angenehm und folgenreich für mich war auch die Tatsache, dass wir in der zwanglosen Atmosphäre unseres Instituts alle Besucher persönlich gut kennenlernen konnten. Allerdings kamen nur wenige aus dem Ausland. Wir begrüßten aber mehrfach den heute immer noch aktiven Fernando Bianco aus Caracas. Aus Europa kamen nur einige Interessierte, so z.B. Gorm Wagner aus Kopenhagen und Lars-Gösta Dahlöf aus Göteborg sowie André Haynal, Willy Pasini und Vincent Griesser aus Genf. Aus Amsterdam besuchte uns Edward Brongersma, ein über seinen späteren Freitod hinaus kontroverser Politiker und Jurist. In den Niederlanden hatte er die Senkung des gesetzlichen Mindestschutzalters für homosexuelle Kontakte von 21 auf 16 erreicht, forderte aber eine noch weitere Senkung. Wie weit er damit gehen wollte, war mich nicht klar. Mir selbst jedenfalls schien ein völliger Wegfall von Schutzgesetzen unverantwortlich. Da ich auf seine Ansichten neugierig war, lud ich ihn zum Essen in mein sonntägliches Stammlokal in der Nähe meiner Wohnung ein - den Crown Room des Fairmont Hotels. Wir blieben aber verschiedener Meinung. Dennoch erinnere ich mich noch gerne an ihn als einen freundlichen älteren Herrn und gebildeten, lebhaften Gesprächspartner. Aus Paris reiste nur Jacques Waynberg an. Ich stand aber auch in brieflicher Verbindung mit Michel Foucault, den ich wiederholt zu einem Vortrag einlud. Zu meinem großen Bedauern lehnte er aber jedes Mal ab, obwohl er, wie sich später herausstellte, häufig die Schwulenbäder und Sexclubs in San Francisco besuchte. Er starb dann an AIDS ohne zu ahnen, was er bei uns nicht nur an menschlichen, sondern auch an wissenschaftlichen Anregungen versäumt hatte. Aus Deutschland besuchten uns nur zwei Gäste, die Medizinprofessoren Reinhard Wille aus Kiel und Wolf Eicher aus München, die sich so von der Qualität unserer Arbeit überzeugen konnten.

Die meisten Besucher unseres Instituts kamen natürlich aus den USA. Gut erinnere ich mich noch an den Zeitschriftenverleger David Goodstein (The Advocate) und den Aktivisten Bruce Voeller, die leider allzu vorzeitig starben. Nach meinem Umzug auf den Cathedral Hill wohnte ich in der Nähe von Paul Hardman, einem Aktivisten der amerikanischen schwulen Kriegsveteranen. Ich besuchte ihn öfter in seinem schönen Victorian Haus, wo er auch seine Zeitung, die California Voice, herausgab. Solche Bekanntschaften führten dann zu weiteren. So lernte ich z.B. in Berkeley auch Sam Steward (Phil Andros) kennen, einen der interessantesten Menschen, denen ich je begegnet bin. (Unter seinen vielen Sexualpartnern war, neben anderen Prominenten, auch Thornton Wilder gewesen, der Held meiner Dissertation). Wichtig wurde für mich auch die Freundschaft mit dem leider früh verstorbenen Psychologen Paul A. Walker, einem Spezialisten auf dem Gebiet des Transsexualismus (gender dysphoria). Auf einer seiner Parties begegnete ich Christine Jorgensen, die dort wie eine Prinzessin Hof hielt. In einem gewissen Sinne war sie ja auch ein Star und eine lebende Legende. Bei einem anderen Freund traf ich Dianne Feinstein in geselligem Kreise, die durch tragische Umstände kurz darauf San Franciscos Bürgermeisterin und später in Washington DC Senatorin werden sollte. Beruflich wichtig war auch mein Kontakt zu William H. Masters, den ich 1981 beim sexologischen Weltkongress in Jerusalem kennengelernt hatte, wo wir gemeinsam die Via dolorosa abschritten, und der dann auch in unserem Institut als Gastreferent erschien. Später besuchte ich ihn zweimal in St. Louis.


William H. Masters (1915-2001)

Dabei fällt mir noch eine für diese Zeit typische Episode ein: Ein junger Historiker, den ich noch von Yale her kannte, besuchte mich und unser Institut in San Francisco, wo gerade in Historikerkongress stattfand. Er nahm mich mit zu einem der Vorträge, damit ich im Auditorium die Proteste von neuorganisierten Schwulengruppen beobachten konnte. In der Tat wurde das für mich ein überraschend erhellendes Erlebnis: Ein Professor von Yale, von dem ich aber vorher nie gehört hatte, sprach über ein mir unbekanntes Thema und wurde dabei immer wieder von einer wütenden Gruppe von Zuhörern unterbrochen. Sie forderten lautstark, dass alle Geschichtsschreibung, auch die Seine, künftig die Geschichte der Schwulen berücksichtigen sollte. Der Vortragende reagierte darauf aber völlig hilflos und rief: Ich bin Professor für die Wirtschaft des Mittelalters. Was hat denn das mit schwuler Geschichte zu tun? Dieser Ausruf traf mich nun wie ein Blitzschlag: Wie konnte ein Fachmann so unwissend sein? Jeder halbwegs gebildete Akademiker hatte doch schon einmal von dem größten ökonomischen Skandal des Mittelalters gehört: Der Verfolgung und Auflösung des Templerordens. Der französische König Philipp der Schöne hatte zu Anfang des 14. Jhdts. mithilfe des Papstes das riesige Vermögen der Templer an sich gerissen, und die Begründung dafür war eben die angebliche Sodomie (i.e. Homosexualität) der Tempelritter gewesen. Viele von ihnen wurden durch Folter zu Geständnissen gezwungen und dann als Ketzer öffentlich verbrannt, darunter auch ihr Großmeister. Offensichtlich wussten das unsere Kongressteilnehmer, nur eben der Professor nicht. Hier handelte es sich aber um ein geradezu klassisches sozialpolitisches Muster: Man verteufelt und diffamiert eine bestimmte Menschengruppe, um sich am Ende ihren Besitz anzueignen. Das war schon damals nicht das erste Mal, und es hat sich seither in der Geschichte noch mehrfach wiederholt bis in unsere eigene jüngste Vergangenheit hinein. Also unterstützten wir die schwulen Protestler gleich auf der Stelle, denn es war uns noch im Nachhinein peinlich, dass ein solch allzu beschränkter Fachidiot unser geliebtes Yale repräsentierte.

10. Soziale Aspekte

Unser Institut hatte aber nicht nur eine wissenschaftlich-pädagogische, sondern auch eine wichtige soziale Seite: Der Gründer und Präsident Ted McIlvenna war unter anderem auch ein ausgezeichneter Zimmermann und überhaupt ein allround-Handwerker. So war es ihm möglich, auf einem Hügel der südlich gelegenen Universitätsstadt Santa Cruz mit eigenen Händen zwei Häuser mit Schwimmbad zu bauen. Dort verbrachten wir Mitglieder des Lehrkörpers manches entspannte Wochenende. Zu Anfang jedes Trimesters gab es außerdem in San Francisco eine große Party in McIlvennas Haus, zu der auch alle neuen Studenten eingeladen waren. Bei reichlichem, gutem Essen und Trinken war dort die Stimmung immer locker, lustig und lebendig - eben kalifornisch im allerbesten Sinne.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht auch noch etwas über unsere Studentinnen und Studenten sagen: Wie schon erwähnt, waren es alle gestandene Leute, die längst voll berufstätig waren oder zumindest einen Berufsabschluss oder akademischen Grad besaßen, wie z.B. einen Magister- oder Doktortitel. Einige von ihnen brachten auch persönliche sexuelle Probleme mit und hofften, sie durch ihr Studium bei uns lösen zu können. Tatsächlich gelang dies auch den allermeisten, denn sie lernten bei uns, jedes sexuelle Interesse, ob nun ihr eigenes oder das anderer Leute, zunächst einmal als gegeben zu akzeptieren. Auf dieser Basis konnten sie dann versuchen, es zu verstehen und, wenn nötig, zu ändern. Kurz, selbst Studierende, die nicht Therapeuten werden wollten, lernten, zunächst einmal gegenüber jedem befremdlichen neuen Sexualphänomen einen therapeutischen, neutralen Standpunkt einzunehmen. Wir hatten auch schwerbehinderte Studenten in Rollstühlen und solche mit chronischen Krankheiten. Sie alle lernten, die anderen und damit auch sich selbst zu akzeptieren. Es gab auch schockierende Ereignisse, etwa, als eine schwerkranke Studentin unmittelbar nach bestandenem Examen starb, oder als wir alle im Gemeinschaftsraum zufällig im Fernsehen den Absturz eines Flugzeugs sahen, von dem wir wussten, dass darin eine unserer Studentinnen saß. (Niemand von den Passagieren überlebte.) Andererseits aber gab es auch eindrucksvolle Beispiele von Lebenswillen und Charakterstärke. Ich erinnere mich besonders an eine wegen Krebs doppelt brustamputierte Studentin, die sich nicht nur fotografieren und filmen ließ, sondern eine Selbsthilfegruppe von betroffenen Frauen gründete und ihnen und sich selbst Mut und Selbstvertrauen zurückgab. Auch eine damalige Kollegin erhielt eine Krebsdiagnose und arbeitete trotz ihrer Chemotherapie weiter so gut sie konnte. (Sie lebt heute noch.) Als in den frühen achtziger Jahren einige unserer Studenten an AIDS erkrankten, fanden sie in unserem Institut Unterstützung und eine sichere Umgebung. Wir gaben ihnen neue Aufgaben bei Aufklärungs- und Filmprojekten, obwohl damals eine langfristig wirksame Behandlung noch nicht zur Verfügung stand. Wichtig für sie blieb aber die Solidarität, die sie von ihren Mitstudenten und unserem Lehrkörper erfuhren. Auf all das blicke ich noch heute mit Stolz zurück. Mit ihren ständigen Neuerungen und Herausforderungen, ihren wiederholten Anspannungen und Entkrampfungen war es für mich eine lebhafte und lehrreiche Zeit.

Im Rückblick erscheint mir heute das Ganze als der reinste Zufall, der sich eben nur in der damaligen historischen Situation und nur an diesem Ort ereignen konnte. San Francisco war eben immer schon – und ist bis heute – die liberalste Stadt in den USA. Wie mehrfach in ihrer Geschichte, herrschte hier gerade wieder einmal eine mitreißende Aufbruchstimmung. (Eine Dekade früher war es die radikale Neuorientierung der Hippies gewesen; heute ist es der digitale Goldrausch im benachbarten Silicon Valley.) Zwar gab es auch andernorts ähnliche sexologische Versuche, wie etwa in Honolulu oder bald auch an der Ostküste, aber unser Institut war doch einmalig mit seinem Pioniergeist, seiner sozialkritischen Grundeinstellung, mit seinem reformerischen Eifer, mit dem Enthusiasmus seines Lehrpersonals und der Vielfalt seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Ansätze. Auch die intellektuelle Neugier und Begeisterung unserer ausnahmslos akademisch ausgebildeten oder berufserfahrenen Studenten waren für meine Kollegen und mich ungewohnt und neu, ja, eigentlich beispiellos. Im Grunde hätte uns von Anfang an klar sein müssen, dass die für uns so günstige Konstellation der Umstände auf die Dauer keinen Bestand haben konnte. Es war für mich ein wahres Glück, dass ich dabei sein durfte, und bis heute empfinde ich dafür eine große Dankbarkeit.

11. Private Gewohnheiten

Anfang der 70er Jahre kam in San Francisco, ebenso wie in Honolulu, eine neue gastronomische Mode auf – das Sonntags-Brunch, d.h. eine Kombination von Breakfast und Lunch (Frühstück und Mittagessen). Für mich als schreibenden Nachtarbeiter und Spätaufsteher war dies eine perfekte Einrichtung, die ich von Anfang an nutzte. Die beiden besten und elegantesten Brunch-Restaurants waren der Crown Room im Fairmont Hotel und der Garden Court im Palace Hotel. Da ich seit 1972 auf dem Nob Hill ganz in der Nähe des Fairmont Hotels wohnte, wurde ich dort Stammgast und blieb es auch.


Gene als Lehrer in Kalifornien (offizielles Schulfoto).

Ab 1975 war dann Gene mein ständiger Begleiter, auch nach unserem Umzug auf den Cathedral Hill.

Von dort aus brauchten wir von der Endhaltestelle (California Street/Van Ness Avenue) nur die historische Cable Car zu nehmen und fuhren so direkt vor das Hotel. Schon das allein war immer ein inspirierendes Erlebnis. Gelegentlich gingen wir aber auch zum Brunch in den sehr eleganten historischen Garden Court des Palace Hotelsan der Market Street. Diese mehreren hundert herrlichen Sonntage - immer in guter Gesellschaft - gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. Inzwischen hat sich der Brauch mit einiger Verspätung in vielen deutschen Großstädten nun wohl ebenfalls auf längere Zeit eingebürgert.

Sunday Brunch in San Francisco


     Foto: Wikimedia Commons                                           Foto: Wikimedia Commons

Viele Jahre lang waren wir jeden Sonntag Stammgast beim Sunday brunch im Crown Room
des Fairmont Hotels (links). Dies Restaurant befand sich im 24. Stock des Turmanbaus
und bot eine unvergleichliche Aussicht auf die Stadt und gesamte Bucht von San Francisco.
Nur gelegentlich machten wir Abstecher in den Garden Court des Palace Hotels (rechts). In diesem
Hotel hatten viele berühmte Leute gewohnt, z.B. Albert Moll 1889 und Enrico Caruso 1906
bei dem großen Erdbeben. Caruso überlebte, aber das Hotel wurde zerstört und 1909 in der
jetzigen Form wieder aufgebaut. Der Crown Room des Fairmont Hotels steht heute
nicht mehr als Restaurant zur Verfügung.

Damals gab es aber auch noch ein weiteres Angebot, das wir gerne wahrnahmen: Die großen Luxushotels waren an Wochenenden nicht immer ausgebucht und warben dann für zwei Übernachtungen mit verbilligten Sonderpreisen. Wir hatten zwar selbst eine Luxuswohnung mit Schwimmbad, machten uns aber öfter doch das Vergnügen, die Stadt auch noch aus der Perspektive von betuchten Touristen kennenzulernen. (In meiner finanziell eingeschränkten Studienzeit hatte ich zwar hier auch schon in zentral gelegenen Hotels gewohnt, oft tage- und wochenlang, aber die hatten nur die einfachste Ausstattung.) Diesmal jedoch war es anders: Wir waren zu zweit, hatten keine finanziellen Sorgen, und wenn uns die Lust dazu ankam, zogen wir freitags und samstags reihum in die schönsten Hotels: Fairmont, Palace, St. Francis, Hilton, Hyatt, Mariott, Nikko, Mandarin Oriental und andere. Und in der Tat, es lohnte sich sehr: Wir bekamen noch einen zusätzlichen, tiefen Eindruck davon, warum San Francisco so großzügig, so entspannt und weltweit so beliebt war.


Meine Besuche an der Ostküste

Nun zurück zu meinen Inlandsreisen: In New York lud mich Bob Guccione, der Herausgeber des Magazins Penthouse, in seine gut bewachte Stadtvilla ein, und in Lower Manhattan besuchte ich meinen Freund John Gagnon (1931-2016) in seinem großzügigen Loft.

  
Fotos: Wikipedia
Clarence A. Tripp (1919-2003)
und sein kontroverses Buch.

Bei C. A. Tripp (1919-2003), dem faszinierenden Psychologen, Autor und früheren Zuarbeiter Alfred Kinseys, war ich eine Woche lang Gast in seinem großen, erhaben gelegenen Haus mit herrlichem Blick auf die Tappan Zee Bridge über den Hudson. Er war der Autor eines damals viel diskutierten, kontroversen Buchs über Homosexualität (Die homosexuelle Matrix), das zuerst 1975 und dann 1987 in einer zweiten, erweiterten Auflage erschien. Zur Zeit meines Besuchs wurde er gerade im wöchentlich erscheinenden New York Magazine als bester Autor zu diesem Thema gefeiert. Wir unterhielten uns sehr ausführlich über Kinsey und über einen von dessen Korrespondenten - den mysteriösen Dr. X. Mein Gastgeber Tripp kannte ihn sehr gut von früher, und so ermöglichten mir unsere Unterhaltungen später, diesen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Mann in Italien aufzuspüren und Freundschaft mit ihm zu schließen (siehe unten).

Harry Benjamin (1885-1986)
in seinen späteren Jahren am Schreibtisch seiner ärztlichen Praxis in New York

Am wichtigsten aber waren, ebenfalls in New York, meine mehrfachen Besuche bei dem damals schon hochbetagten Harry Benjamin, der, wie ich, ein großer Opernliebhaber war. Er hatte noch als junger Mann in Berlin Enrico Caruso als Radames auf der Opernbühne erlebt und auf einem Ball mit der ebenfalls jungen Geraldine Farrar getanzt. Sie begann ja ihre Karriere in Berlin und war später in den USA ebenso für ihre Gesangskunst wie für ihre Schönheit berühmt. Nach seiner endgültigen Einwanderung in die USA, wurde Benjamin dann Zeuge ihrer Triumphe an der Metropolitan Opera in New York. Und natürlich sah und hörte er dort auch Caruso wieder. In New York lernte er schließlich die vielvergötterte, temperamentvolle blonde Schönheit Maria Jeritza als seine Patientin näher kennen, die Primadonna des Jahrhunderts, erste Ariadne von Richard Strauss und Lieblings-Tosca Puccinis. Benjamin übergab mir seine Korrespondenz mit Hirschfeld und andere historische Materialien in der damals kaum begründbaren Hoffnung, dass ich sie irgendwann einmal nach Berlin in Sicherheit bringen würde. Heute befinden sie sich, gut aufgehoben, im Haeberle-Hirschfeld-Archiv der Humboldt-Universität. Zu seinem 100. Geburtstag führte ich noch mit ihm ein Interview für eine deutsche sexualmedizinische Zeitschrift. (18)

Brief von Magnus Hirschfeld an Harry Benjamin

Hirschfeld schrieb diesen Brief am 25. Februar 1931 in San Francisco zu Beginn seiner Weltreise.
Er erwähnt darin gleich im ersten Satz auch seinen Besuch in Hollywood.
Das zentral gelegene Hotel St. Francis, dessen Briefbogen er benutzte, besteht heute noch, wurde aber durch einen Hochaus-Anbau vergrößert. (Gene und ich wohnten dort auch einige Male.)
Die Abbildung des Briefes zeigt hier den Anfang der ersten Seite. Der vollständige Brief und das untenstehende Foto sind online im Archive for Sexology einsehbar, ebenso im Haeberle-Hirschfeld-Archiv in der HU-Zentralbibliothek in Berlin.

Hirschfeld in Hollywood


Im Frühjahr 1931 besuchte Hirschfeld Hollywood, wo er bei den Dreharbeiten die Stars eines neuen Tonfilms traf: The Big House (Menschen hinter Gittern).
Der Film wurde gleichzeitig in drei Sprachen gedreht (Englisch, Deutsch und Französisch).
Die Hauptrolle der deutschen Fassung spielte Heinrich George. Von links nach rechts: Gustav Diessl, Heinrich George, Hirschfeld, der Regisseur Paul Fejos, Egon von Jordan, Paul Morgan.

Im Jahre 1980 wurde ich von der American Association of Sex Educators and Therapists (AASECT) eingeladen, bei ihrer Konferenz in Washington DC zu sprechen. Ich wählte das Thema der sexuellen Stigmatisierung in Nazi-Konzentrationslagern und stellte dafür zwei Schautafeln her. Dieser Aspekt deutschen Geschichte war meinem Publikum zum größten Teil unvertraut, so ergab sich eine sehr heftige, emotionale Diskussion. Eine der Schautafeln schenkte ich gleich vor Ort dem Holocaust Memorial Council, der sich schriftlich bedankte. Der Vortrag wurde später unter dem Titel Stigmata of Degeneration: Prisoner Markings in Nazi Concentration Camps im Journal of Homosexuality publiziert.

In dieser Zeit nahm ich auch noch die Gelegenheit wahr, eine alte Verbindung wieder zu beleben und hielt, neben meiner Institutstätigkeit, für mehrere Semester eine Vorlesung über die menschliche Sexualität für die UC Berkeley Extension - ein Programm, das verschiedene akademische Kurse für ein breiteres Publikum anbot. (Es ähnelte damit dem Gasthörer- oder Seniorenstudium an deutschen Universitäten.) Dafür erhielt ich zwar nur eine geringe Bezahlung, aber viel offizielles Lob. Außerdem machte es mir Freude, die ehrliche Wissbegier meiner immer sehr dankbaren Hörerinnen und Hörer zu befriedigen. Erst als man mich als Gastprofessor nach Europa einlud, stellte ich mit Bedauern diese so gerne geleistete Arbeit ein.

Damals flog ich noch öfter für längere Besuche nach New York, wo ich für den Verlag meines Freundes W. M. Linz noch gelegentlich lektorierte. Eines Tages besuchte mich dort ein älterer deutscher Immigrant namens Richard Plant, der sich als früherer Privatsekretär von Klaus Mann vorstellte und mir den Vorschlag für ein neues Buch machte. Es sollte sich mit der Homosexuellenverfolgung durch die Nazis befassen. Er erzählte mir dann noch viel Interessantes aus seinem Leben und zu seinem Thema. Ich war hellauf begeistert und ermunterte ihn, mir bald ein Manuskript zu schicken, denn gerade damals schien mir der Zeitpunkt für die Publikation sehr günstig. Leider hörte ich dann aber gar nichts mehr von ihm. Ich bedauerte das sehr und schrieb deshalb - mithilfe des Materials, das damals zur Verfügung stand - wenigstens einen vorläufigen Zeitschriftenaufsatz unter dem Titel: Swastika, Pink Triangle and Yellow Star - The Destruction of Sexology and the Persecution of Homosexuals in Nazi Germany. Er wurde 1981 publiziert und später in einer Anthologie nachgedruckt. Das Buch von Plant erschien schließlich fünf Jahre später in einem anderen Verlag (The Pink Triangle: The Nazi War Against Homosexuals, New York 1986).

Die Anthologie Hidden from History.
M. Duberman, M.Vicinus, G.Chauncey eds.
Hidden from History – Reclaiming the Gay and Lesbian Past 1989
Hier wurde mein Aufsatz zur Homosexuellenverfolgung durch die Nazis nachgedruckt.

Und hier vielleicht noch eine Kuriosität: Wie bereits erwähnt, hatte ich seit 1969 für meinen Freund und Verleger als Yale postdoc einige kleine, rein kommerzielle und recht einträgliche Projekte betrieben. Fast zehn Jahre später bat er mich dann, die Herausgabe einer amerikanischen Karl-May-Edition zu übernehmen. Dafür flog ich von San Francisco zurück zur Ostküste und zog für zwei Monate zu ihm und seiner Familie in sein großes Haus in Rye NY. Dabei lernte ich auch den angenehm kooperativen Übersetzer Michael Shaw kennen sowie den humorvollen Zauberkünstler Roland Schmid vom Karl-May-Verlag, der aus Bamberg angereist kam. Als Herausgeber befasste ich mich natürlich auch mit den schubweise gelieferten Übersetzungen, machte dafür eigene Vorschläge und schrieb für jeden einzelnen Band ein erklärendes Nachwort. Wir entschieden uns, typische Werke Mays aus drei Kategorien vorzustellen: 1. Die Reihe seiner Orient-Romane von Durch die Wüste bis Der Schut. Diese hätten ihre Leserschaft ein wenig über den Nahen Osten aufgeklärt – besonders über den Irak, die Sunniten und Schiiten, die Türken und die Kurden, aber an deren heutige Probleme und ihre Bedeutung für die USA dachte damals noch niemand. Hier kamen wir einfach zu früh auf den Markt. 2. Einen großen Indianer-Roman, der zwei der drei Bände von Winnetou kombinierte. Dabei stellten wir den Apachenhäuptling bewusst in die im englischsprachigen Kulturkreis noch geläufige historische Tradition des edlen Wilden. Aber diese Idealisierung fand bei den Western-gewohnten Amerikanern keine Resonanz. Es gab dann zwar noch eine Taschenbuch-Ausgabe mit anderem Titelbild, aber ein größerer Erfolg blieb aus. 3. Mays spätes, symbolistisch-allegorisches Hauptwerk Ardistan und Djinnistan hätte eigentlich ganz gut in die Esoterik-Welle der damaligen Zeit gepasst, bekam aber keine einzige Rezension und blieb deshalb unbeachtet. Am Ende erfüllte das gesamte Projekt unsere Erwartungen nicht und blieb nur ein schnell vergessener Achtungserfolg.

Meine amerikanische Karl-May-Edition

  

Gegen Ende der siebziger Jahre gab ich einige Werke von Karl May für die USA heraus.
Es war die erste Ausgabe in englischer Sprache.
Von links: Von Bagdad nach Stambul, Winnetou (Kombination von Bd. 1 und 3) mit einem Porträt, das Joshua Reynolds im 18. Jhdt. von Omai gemalt hatte, dem originalen edlen Wilden, und Ardistan und Djinnistan mit dem Titelbild eines Gemäldes von Sascha Schneider (1870-1927).

An dieser Stelle sei mir auch noch ein kleiner Vorgriff gestattet: Irgendwann am Anfang der 90er Jahre besuchte ich von Berlin aus wieder meinen Verleger-Freund in New York und nahm die Gelegenheit wahr, noch einmal nach Yale zurückzukehren. Inzwischen waren allerdings alle Professoren, die ich dort gekannt hatte, wegberufen, emeritiert oder verstorben, und die damals mit mir gleichaltrigen Jungakademiker waren inzwischen selber an anderen Hochschulen oder weit entfernt in anspruchsvollen Berufen tätig. Es drängte mich aber dennoch, den Ort einmal wiederzusehen, der für mein Leben so wichtig gewesen war. Außerdem wollte ich unbedingt den Kulturhistoriker John Boswell persönlich kennenlernen, dessen Bücher ich seit langem schätzte. Er war gerade zum Leiter der Yale-Geschichtsabteilung berufen worden, und so traf ich ihn mitten im Umzug in seine neuen Räume. Er war eine eindrucksvolle und eigenartige, aber auch sehr einnehmende Persönlichkeit. Sein früher, tragischer Tod war ein schmerzlicher Verlust für alle kulturwissenschaftlich Interessierten. Wir unterhielten uns lange über seine bekannten Studien zu Homosexualität und seine weiteren Pläne. Aber wir sprachen auch über die allgemeine Situation der Universität, die sich nun gegen die zunehmend notleidende Stadt New Haven verbarrikadierte. Die früher frei zugänglichen, architektonisch reizvollen Passagen und Innenhöfe des Campus waren nun mit schweren Gittertoren verschlossen, die man nur mit persönlichen Schlüsselkarten öffnen konnte. Im Eingang der Hall of Graduate Studies, in der ich jahrelang meine Mahlzeiten eingenommen hatte, hing ein Bericht der Universitätspolizei über die Einbrüche, Diebstähle, Überfälle und Körperverletzungen der vergangenen Woche. Es war deprimierend. Der noch recht junge Boswell kannte aber die idyllischen Verhältnisse nicht, von denen ich am gleichen Ort ein Vierteljahrhundert vorher noch profitiert hatte. Damals war in seinen Räumen noch der in Berlin geborene Historiker Hajo Holborn ein für mich wichtiger Ratgeber und Unterstützer gewesen.


Fotos: American Historical Association, Yale AID Memorial Project
Von links: Hajo Holborn (1902-1969), John Boswell (1947-1994)


Kongresse in Europa

1. Frankfurt/M

Die genauen Daten für das Folgende sind mir entfallen, aber um des Jahr 1980 herum besuchte ich auch drei Konferenzen in Europa. Ich kann mich jedenfalls erinnern, dass ich damals Book Review Editor des Journal of Sex Research war und eine positive Besprechung eines Buches deutscher Kollegen geschrieben hatte. Ich fuhr deshalb nach Frankfurt/M, als der dortige Sexualmediziner Volkmar Sigusch eine Konferenz organisierte. Dabei lernte ich auch den von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Juristen und Sexologen Ernst Klimowsky (1904-1985) kennen, der aus Israel angereist war. Eine Zeitlang korrespondierte ich noch mit ihm und traf ihn auch 1983 wieder beim Weltkongress in Washington DC. Dort hatte er aber schon gesundheitliche Probleme, und bald danach verlor ich dann leider auch den Kontakt mit ihm.


Mit Ernst Klimowsky beim sexologischen Weltkongress in Washington DC 1983

Ich weiß heute nicht mehr genau wann, aber Sigusch und Martin Dannecker luden mich damals oder später zu einem ausgedehnten, sehr guten Abendessen ein. Es war ein entspannter Abend in angenehmer Umgebung und herzlicher Atmosphäre.

2. Leuven

Nach meinem Besuch in Frankfurt nahm ich auf Einladung von Prof. Piet Nijs an einer Konferenz an der Katholischen Universität Leuven teil, wo man zu meinem großen Erstaunen als Sexualwissenschaftler promovieren konnte. Die Konferenzvorträge, darunter auch der Meinige, erschienen bald darauf im Druck. (19)


Foto: E. J. Haeberle

Prof. Piet Nijs

3. Heidelberg

Die dritte Konferenz, die ich damals besuchte, fand  in Heidelberg statt - die Sexualmedizinischen Fortbildungstage einer neu gegründeten Gesellschaft für praktische Sexualmedizin, die mich als Mitglied aufnahm, obwohl ich kein Mediziner war. Mein Tagungsbeitrag erschien dann gedruckt in ihrem jährlichen Sammelband. Ich wurde daraufhin für mehrere Jahre immer wieder als Referent eingeladen, und meine Beiträge erschienen dann auch in den folgenden jährlichen Sammelbänden. (20)

Sammelband der Sexualmedizinischen Fortbildungstage
von 1980 mit seinem typischen Umschlag

Meine Beiträge erschienen in den folgenden 9 Bänden.

Wichtig für mich wurden neue Bekanntschaften, die ich dabei schloss - mit dem Sexualmediziner Reinhard Wille aus Kiel, dem Gynäkologen Wolf Eicher, dem Dermatologen Hermann J. Vogt aus München, dem in Berlin geborenen, allseits verehrten Pionier Hans Lehfeldt aus New York, dem ebenso geschätzten, alten Imre Aszódi aus Miskolc und dem Direktor des sexologischen Instituts in Prag, Jan Raboch. Da ich bei der Organisation des sexologischen Weltkongresses 1983 in Washington DC mitgearbeitet hatte, konnte ich schließlich auch dazu beitragen, dass der Weltkongress 1987 nach Heidelberg verlegt wurde.


Kongress in Jerusalem

Im Juni 1981 fand in Jerusalem der 5. Internationale Kongress der Sexologen statt (der 3. nach Gründung der WAS). Dort hatte ich Gelegenheit, an die Leistungen der deutschen jüdischen Pioniere unserer Wissenschaft zu erinnern. Diese Pioniere waren den meisten Kongressteilnehmern bis dahin völlig unbekannt gewesen. Daher fand mein Vortrag viel Beifall, und er erschien dann auch, leicht gekürzt, im Kongress-Sammelband.

Sexologischer Weltkongress in Jerusalem 1981
Kongress-Sammelband mit meinem Vortrag:
The Jewish Contribution to the Development of Sexology, In: Sexology - Sexual Biology, Behaviour and Therapy, Selected Papers of the 5th World Congress of Sexology, Z. Hoch u. H. I. Lief eds.,
Amsterdam, Oxford, Princeton 1982

Vor Beginn des Kongresses hatte die International Academy of Sex Research (IASR) ein eigenes Treffen in Haifa organisiert, an dem ich als Mitglied ebenfalls gerne teilnahm, denn ich wollte ohnehin die Gelegenheit nutzen, auf der Suche nach historischen Materialien in Israel umher zu reisen. Ich wurde tatsächlich auch fündig und lieferte das Gefundene nach meiner Rückkehr beim Kinsey-Institut ab, als ich dort zum bezahlten Research Associate ernannt wurde.

Bei meinen Busreisen durch Israel suchte ich vor allem ältere, aus Nazi-Deutschland vertriebene Juden auf, die man dort liebevoll spöttisch Jeckes nannte. Die Adressen hatte mir Yohanan Meroz gegeben, der Sohn Max Marcuses und damals scheidende israelischer Botschafter in Bonn. Die Zeitzeugen, mit denen ich sprechen konnte, hatten seinen Vater noch persönlich gekannt. So traf ich zum Beispiel in Jerusalem eine alte Fotografin, die unverheiratet, aber lebensfroh in einer sehr bescheidenen Wohnung lebte. In einem Kibbutz nahe der libanesischen Grenze besuchte ich eine über 80-jährige Dame, die schon 1929 als begeisterte Zionistin ausgerechnet aus Freiburg Br. nach Palästina eingewandert war. Da gab es natürlich Gesprächsstoff über die seitherige Entwicklung im Schwarzwald und Breisgau. Sie lud mich in ihre Altenwohnung zu Kaffee und Aprikosentorte mit Schlagsahne ein, und vor ihrer Bücherwand mit den gesammelten Werken von Goethe, Schiller und Heine verbrachten wie so einen altmodisch gemütlichen deutschen Nachmittag. Sie war ihren alten sozialistischen Idealen treu geblieben und schimpfte deshalb auf den Likud-Kandidaten Menachem Begin, der sich anschickte, die gerade laufende Wahl zu gewinnen.

Überhaupt war der deutsche Einfluss damals in Israel noch deutlich spürbar. Als ich mich einmal in Tel Aviv verlaufen hatte und Passanten auf Englisch nach einem Taxistand fragte, bekam ich nur hilflose Gesichter zu sehen. Endlich fragte ich auf Deutsch und bekam sofort Auskunft und Hilfe. In Haifa zeigte mir ein aus Berlin eingewandertes altes Ehepaar den berühmten Rundweg auf dem schon Kaiser Wilhelm II gewandelt war. Sie waren auf rührende Weise stolz auf ihre deutsche Herkunft und auf den bis dahin noch weitgehend deutschen Charakter der Wohngebiete am Berg Karmel. Haifa ist auch die Heimstatt eines Baha‘i-Tempels inmitten eines großen, gepflegten Gartens. Dort konnte ich mir ein gutes Bild von der Religion machen, zu der sich der lebenslang kirchenfeindliche Auguste Forel am Ende doch noch bekehrt hatte.

Beim eigentlichen Sexologenkongress hatte ich dann zwei wichtige persönliche Begegnungen: Die erste mit dem Präsidenten Israels, Yitzhak Navon (1921-2015), die zweite mit dem Sexualtherapeuten William H. Masters (1915-2001). Beide schickten mir Dankesbriefe für meinen Vortrag, und dies wurde mir ein wichtiger Ansporn für meine weitere Arbeit.

Empfang beim israelischen Präsidenten

Das Foto zeigt mich im Gespräch mit dem Präsidenten von Israel, Yitzhak Navon,
der sich später schriftlich für meinen Vortrag bedankte.

Vor der Klagemauer in Jerusalem

Mit William H. Masters (links)

Irgendwann in dieser Zeit machte ich in Amsterdam die lang ersehnte Bekanntschaft mit Coenraad van Emde Boas, dem wichtigsten Pionier der Sexologie in den Niederlanden. Auch er hatte Hirschfeld noch persönlich gekannt und an einigen seiner Kongresse teilgenommen. Als er mich in seinem mit Büchern vollgestopften Haus empfing, war er schon sehr krank. Wie er mir sagte, erwartete er seinen baldigen Tod und ließ deshalb seinen besten Wein aus dem Keller holen, von dem wir im Laufe eines langen Abends ausgiebig tranken. Er konnte viel aus der Anfangszeit der europäischen Sexualwissenschaft erzählen, sorgte sich aber über ihre Zukunft. Er starb dann tatsächlich kurz darauf, und seine Sorgen sollten sich im Laufe der Zeit auch als berechtigt erweisen. Auf seine Anregung besuchte ich noch Benno Premsela in seinem schönen Haus nahe dem Concertgebouw.. Er erzählte mir von seinem Vater, Bernard Premsela, einem weiteren sexologischen Vorkämpfer, der ein Freund Magnus Hirschfelds und Mitglied in der Weltliga für Sexualreform (WSR) gewesen war. 1944 wurde er in Auschwitz ermordet.


Am Kinsey-Institut

Durch Wardell Pomeroy kam ich im Sommer 1981 auch zum ersten Mal an die Indiana University in Bloomington. Während dieses Besuches wurde Kinseys Institute for Sex Research auch formell nach seinem Gründer benannt – aus Anlass seines 25. Todestages. Entsprechend waren auch wichtige Gratulanten versammelt: Der Institutsdirektor Paul Gebhard und der Forscher Clyde Martin, die beiden anderen Mitarbeiter der Kinsey-Reports, sowie der alte Institutsfotograf Bill Dellenback und auch Kinseys Witwe und seine längst erwachsenen Kinder.

Es war ein nostalgisches Wiedersehen alter Freunde in warmherzig rührender Atmosphäre.
Von diesem historischen Treffen ist mir Eines besonders im Gedächtnis geblieben: Ein Herr, dessen Name mir leider entfallen ist, wurde als unser Mann in Washington vorgestellt. Anscheinend war er allen Anwesenden außer mir wohlbekannt. Er hielt eine kurze Ansprache, in der er seine vergangenen erfolgreichen Bemühungen um Forschungsgelder erwähnte, dann aber mit größtem Bedauern und sehr emphatisch darauf hinwies, dass es in Zukunft keinerlei finanzielle Förderung für irgendwelche Sexualumfragen mehr geben werde. Das politische Klima habe sich leider völlig verändert. Der Mann wusste ganz offensichtlich, wovon er sprach. Nur zwei Jahre später, zu Beginn der AIDS-Epidemie, fiel mit diese deprimierende Rede wieder ein. Welch bittere Ironie! Plötzlich suchten die Epidemiologen der Centers for Disease Control verzweifelt nach aktuellen Umfrageergebnissen über das amerikanische Sexualverhalten. Es gab aber keine. Also musste man sich irgendwie behelfen und griff in Ermangelung entsprechender Zahlen notgedrungen auf die inzwischen veralteten Statistiken der Kinsey-Reports von 1948 und 1953 zurück. Das Gleiche versuchte man selbst in Europa, wo es noch nie eine vergleichbare Forschung gegeben hatte. Auch hier mussten zunächst die Erkenntnisse Kinseys herhalten, obwohl man sich gleichzeitig sehr wohl über die kulturellen Unterschiede zu den USA im Klaren war. Es herrschte also auf allen Seiten eine große Unsicherheit, ja Ratlosigkeit. Sehr verspätet und überhastet wurde dann eine neue, landesweite amerikanische Umfrage finanziert. (21) Für mich illustriert dieses Beispiel auf geradezu klassische Weise die prekäre und immer nur widerwillig geduldete Rolle der Sexualforschung in der Gesellschaft.

Indiana University, Bloomington


Fotos: Wikimedia Commons

Die Universität liegt am Rande der kleinen Stadt Bloomington.
Rechts: Eingangstor zum Campus. Links: Morrison Hall, u.a. Sitz des Kinsey Instituts

Durch den Besuch des neuerlich so benannten Kinsey-Instituts erhielt ich den stärksten und nachhaltigsten Anstoß, mich intensiver mit der Sexualwissenschaft zu befassen. Kinsey war ja schon in dem Jahrgestorben, als ich mein Abitur machte, aber sein wissenschaftliches Erbe war erhalten und wurde weiter gepflegt. So entdeckte ich nun vor Ort, was für ein gewissenhafter und gründlicher Forscher Kinsey gewesen war. Zu meiner völligen Überraschung hatte er nämlich unter anderem die gesamte deutsche sexualwissenschaftliche Literatur vor 1933 gesammelt, und das, obwohl er kein Deutsch lesen konnte. Für seine eigenen Reports hatte er nur ein paar Auszüge übersetzen lassen. Hier aber stand ich nun vor vielen Regalreihen mit deutschen Büchern und Zeitschriften, teilweise noch aus dem tiefsten 19. Jhdt. bis in die Jahre von Kinseys eigener Tätigkeit. Dazu kamen noch Originalmaterialien wie Fotos, Zeitungsartikel, Filmprogramme usw. und sogar zwei originale, handschriftlich ausgefüllte Psychobiologische Fragebögen aus Hirschfelds Institut. Einer davon umfasste ein ganzes Heft. Es war überwältigend. Zwar hatte ich vorher schon hier und da etwas von Hirschfeld, Bloch, Reich, F. S. Krauss und anderen sexologischen Pionieren gehört, aber mir war niemals klar geworden, wie viele es gewesen waren und welches enorme Gesamtwerk sie hinterlassen hatten.


Foto: Kinsey Institute

Paul Gebhard
(1917-2015)
Direktor des Kinsey-Instituts 1956-1982

Es war ein Schatz, der unbedingt gehoben werden musste. Auf kurze Anfrage bestätigte man mir auch, dass vor mir noch niemand am Institut diese deutsche Literatur hatte lesen können. Ich war also tatsächlich der Erste. Ich schlug sofort vor, diesen Bestand für das Kinsey-Institut zu erschließen. Der Direktor Paul Gebhard machte mich dann auch gleich zum besonders bezahlten Research Associate, und ich ging an die Arbeit. Seitdem pendelte ich zwischen San Francisco und Bloomington hin und her, sammelte dort das Material und verarbeitete es zuhause in Kalifornien. Mein Gehalt bezog ich seitdem je zur Hälfte von unserem Fortbildungsinstitut und der Indiana University.

Das Opernhaus der Indiana University in Bloomington


Foto: IU

Blick in den Zuschauerraum

(Bei meinen wiederholten, längeren Besuchen in Bloomington entdeckte ich übrigens auch die Musikhochschule der Universität und ihr modernes Opernhaus. Dort stellten Studentinnen und Studenten im Orchester, Chor und als Solisten ihr Können unter Beweis. Die Opernaufführungen waren oft gleichzeitig auch ihre akademischen Abschlussarbeiten. Anschließend wurden dann viele von ihnen von europäischen Häusern engagiert. Ich erinnere mich noch besonders gut an zwei sehr gute Vorstellungen, die den meisten Opernhäusern in Deutschland zur Ehre gereicht hätten: Mozarts Le Nozze di Figaro und Mussorgskis Boris Godunow. Gerade das letztere Werk mit seinen Massenszenen ist für die Regie besonders anspruchsvoll und wurde völlig adäquat realisiert.)

1. Eine Wanderausstellung

Das erste Ergebnis meiner Arbeit war eine Ausstellung von 50 Schautafeln The Birth of Sexology 1908-1933 für den sexologischen Weltkongress 1983 in Washington DC. Die deutsche Sexualwissenschaft hatte in diesem Jahr nämlich drei Gedenktage zu begehen: 75 Jahre seit Gründung der ersten Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908), 70 Jahre seit Gründung der ersten sexualwissenschaftlichen Gesellschaften (1913) und 50 Jahre seit der Plünderung und Schließung des ersten Instituts für Sexualwissenschaft (1933). Deshalb wurde die Ausstellung auch zusätzlich von verschiedenen deutschen und österreichischen Stellen gefördert und war so erfolgreich, dass sie anschließend nicht nur in verschiedenen Städten Deutschlands (Hamburg, Kiel, Oldenburg, Marburg) gezeigt werden konnte, sondern auch in Kopenhagen, Stockholm, Göteborg und Zürich. (Mein Versuch, sie noch im Jubiläumsjahr nach Berlin zu bringen, war am Präsidenten der Freien Universität (FU), Eberhard Lämmert, gescheitert, der nicht begriff, worum es sich handelte. Als er sie dann später in Marburg gesehen hatte, entschuldigte er sich bei mir: Ich hatte ja keine Ahnung.) Sie ging dann noch nach Hong Kong und Schanghai, wo ich sie meinem Kollegen Liu Dalin für sein China Sex Museum schenkte. Er bewahrt sie bis heute mit seinen verschiedenen Sammlungen auf. Für diese Ausstellung produzierte ich mit dem Rest des Geldes noch schnell eine Begleitbroschüre in englischer Sprache, die kostenlos an alle Kongressteilnehmer verteilt und danach noch ins Deutsche übersetzt wurde: Anfänge der Sexualwissenschaft (22).

Eine Jubiläumsausstellung 1983
Die Ausstellung feierte ein dreifaches Jubiläum von Ereignissen:
75 Jahre seit Erscheinen der ersten Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908).
70 Jahre seit Gründung der ersten sexualwissenschaftlichen Gesellschaften (1913).
50 Jahre seit der Schließung des ersten Instituts für Sexualwissenschaft (1933).


Meine Begleitbroschüre zur Ausstellung
Links: Amerikanische Originalausgabe. Rechts: Deutsche Übersetzung

In Kopenhagen hatte meine Ausstellung übrigens eine interessante Nebenfolge. Der dortige Organisator war der Psychiater und bekannte Sexologe Preben Hertoft, der nun auch die Geschichte der dänischen Sexologie erforschte. Deren größter Pionier war der Sexualreformer J. H. Leunbach gewesen. Er hatte mit Hirschfeld 1928 in Kopenhagen auf einem Kongress die Weltliga für Sexualreform (WLSR) gegründet. Von seiner Witwe, Budda Leunbach, erhielt Hertoft nun alte, private Dokumentarfilme aus den dreißiger Jahren über die Aktivitäten Wilhelm Reichs und seiner SexPol in Dänemark. Später gab Hertoft auch mir die Gelegenheit, sie zu sehen.

2. Das Aktfoto

Mein nächstes Projekt für das Kinsey-Institut war ein Beitrag zur ersten historischen Gesamtausstellung von Aktfotografie im Münchner Stadtmuseum. Auf Wunsch des sehr aufgeschlossenen Direktors Christoph Stölzl sollte ich die Fotosammlung des Kinsey-Instituts für einen Beitrag nutzen unter dem Titel Der verbotene Akt – ‚unzüchtige‘ Fotos von 1850-1950. Ich schrieb also einen entsprechenden Aufsatz für den geplanten Sammelband, der auch pünktlich erschien und mehrere Auflagen erlebte. (23) Außerdem sollten in einem abgetrennten Sonderbereich des Museums, unzugänglich für Jugendliche, die entsprechenden Fotos selbst ausgestellt werden – teilweise sehr harte Pornografie.

Der Bildband zur Ausstellung

M. Köhler, Gisela Barche, Hg.
Das Aktfoto: Ansichten vom Körper im fotographischen Zeitalter:
Ästhetik, Geschichte, Ideologie
, C. J. Bucher, München 1985.
Mein Beitrag befindet sich auf den Seiten 240-252

Da aber zeigte sich ein erstes, ernstes Problem: Paul Gebhard wurde emeritiert, und ihm folgte eine Direktorin, der jedes Verständnis für meine Projekte fehlte. Sie verhinderte sogar durch nachträgliche, unübliche Geldforderungen, dass für die Münchner Ausstellung und den illustrierten Begleitband die vorgesehen historischen Fotos des Kinsey-Instituts genutzt werden konnten – eine verpasste, große Chance. Der sehr verärgerte Christoph Stölzl besorgte sich einfach kostenlose Ersatzfotos aus Paris, die ich dann auch in meinen Buchbeitrag einarbeitete. Einige Jahre später hatte ich noch einmal Gelegenheit, auf Einladung einer Bundesbehörde etwas zum Thema Pornographie zu sagen. Dazu gehörte auch der Hinweis, dass der Begriff im Hinblick auf unser antikes griechisch-römisches Erbe relativiert werden muss.

3. Ein ungeschriebenes Buch

Der nächste logische Schritt wäre nun eine eigene, umfassende Studie zur Geschichte der Sexualwissenschaft gewesen. Das Kinsey-Institut besaß ja dafür alles erforderliche Material.  Die neue Direktorin aber sah sich leider nicht in der Lage, mich für ein solches Großprojekt ausreichend zu fördern und beließ es bei der bisherigen Bezahlung. Stattdessen verlangte sie, dass ich für meine Pläne Drittmittel einwerben sollte.

Diesem Verlangen kam ich pflichtschuldigst nach - allerdings mit vorhersehbarem Ergebnis: Die amerikanischen Stellen wiesen darauf hin, dass meine Projekte ja deutschen Wissenschaftlern gewidmet waren - also waren allein deutsche Stellen für eine finanzielle Förderung zuständig. Die deutschen Stellen wiederum lehnten umgekehrt meine Anträge mit der Begründung ab, es handle sich ja hier um die Erschließung einer amerikanischen Institutsbibliothek, also konnten nur amerikanische Förderer dafür in Frage kommen. Offensichtlich begriffen sie alle nicht, worum es sich bei diesem Projekt überhaupt handelte und machten sich auch keinerlei Mühe, meine Anträge sorgfältig genug zu prüfen. Sehr wahrscheinlich fehlte ihnen dafür auch einfach der nötige Sachverstand.

Es kümmerte jedenfalls niemanden, auf keiner Seite des Atlantik, dass es damals, sowohl in den USA wie in Europa, nur noch wenige Zeitzeugen gab, die man persönlich befragen konnte. Schon bald darauf waren auch diese verstorben. Im Endergebnis kam das nötige Geld von keiner Seite zusammen, und so wurde mir die letzte Gelegenheit genommen, eine gründliche Darstellung der sexologischen Anfangsgeschichte und ihrer komplexen kulturellen Hintergründe zu verfassen. Es gibt zwar in den USA keine Habilitation, aber dies wäre eine Art amerikanische Habilitationsschrift geworden. Die verschiedenen europäischen geistigen Strömungen, die sich gegen Ende des 19. Jhdts. in der Berliner Sexualwissenschaft kristallisierten, reichen ja mindestens bis in die Zeit der deutschen Klassik, ja teilweise sogar noch weiter in die Geschichte zurück. Eine entsprechend umfassende Darstellung gibt es bis heute nicht. (24)

Der Versuch Michel Foucaults blieb wegen seines allzu frühen Todes leider Stückwerk. Wahrscheinlich hätte er im Laufe der Zeit noch das Fehlende nachgeliefert, wenn man ihn darauf hingewiesen hätte. Aber diese Spekulation ist nun müßig. Eine recht achtbare Darstellung von Vern Bullough, die bei Karl-Heinrich Ulrichs und Richard von Krafft-Ebing ansetzt, aber auch englische und amerikanische Beiträge berücksichtigt, erschien 1994 unter dem Titel Science in the Bedroom. (Sie ist in meinem Online-Archiv frei zugänglich, ebenso ihre spanische Übersetzung Ciencia en la alcoba.Die brave Fleißarbeit von Volkmar Sigusch Geschichte der Sexualwissenschaft (2008) greift immerhin meinen elf Jahre vorher gemachten Vorschlag auf, Paolo Mantegazza (1831-1910) zu einem Mitbegründer unserer Wissenschaft zu machen, aber der folgende Text ist dann doch ganz germanozentrisch geraten und liefert so nur ein fragmentarisches, einseitiges und deshalb falsches Bild. Dafür wäre der Titel Geschichte der deutschen Sexualwissenschaft passender und ehrlicher gewesen. Für eine gründliche und wirklich sachgerechte Studie müsste man jedenfalls kultur- und ideengeschichtlich viel weiter ausholen - mindestens bis zur französischen und englischen Aufklärung. In der Tat, eine gründliche Geschichte der Sexual-Wissenschaft ist gar nicht möglich ohne ihre Grundvoraussetzung, d.h. die allmähliche Herausbildung des historisch völlig neuen, weitgefassten und vieldeutigen Begriffs Sexualität in den westlichen Ländern der letzten beiden Jahrhunderte. Jeder ernsthafte Darstellungsversuch muss diese Entwicklung ideologiekritisch nachzeichnen, sonst bleibt er oberflächlich als blinde und naive Stoffhuberei.

Moderne Wortschöpfungen wie sexuality, sexual intercourse und sexual behavior erschienen überhaupt erst zu Beginn des 19. Jhdts, wie man heute mithilfe des Ngram Viewers bei Google Books leicht nachprüfen kann. Die entsprechenden deutschen Ausdrücke wurden sogar erst Jahrzehnte später geprägt.

Diese konzeptionelle und sprachliche Entwicklung war letztlich eine Folge der westeuropäischen Aufklärung und wäre ohne sie nicht vorstellbar. In der französischen Literatur finden sich mögliche Wegmarken bei Olympe de Gouges und Rousseau und de Sade, später dann über Morel, Parent-Duchatelet, Rémy de Gourmont und Charcot bis zu Simone de Beauvoir und eben Foucault. Sehr wichtig für Europa aber wurden zwei historische Dokumente der französischen Revolution: Die Déclaration universelle des droits de l'homme von 1789 und der Code pénal von 1791, der zum ersten Mal die traditionellen religiösen Elemente aus dem Strafrecht entfernte (bestätigt durch Napoleons Neufassung von 1810). Im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs und unter seinem Einfluss wurden so z.B. homosexuelle Kontakte zwischen Männern entkriminalisiert, auch in Deutschland (Bayern, Württemberg, Hannover, Baden). Dies wiederum hatte wichtige Auswirkungen auf die deutsche öffentliche Diskussion des Themas.

Frühe französische Schriften zu sexologischen Themen


Von links: 1. Olympe de Gouges (1748-1793), politische Aktivistin und Feministin, bekannt für ihre Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791). Sie wurde unter dem Terrorrégime der französischen Revolution guillotiniert.
2. Alexandre J. B. Parent du Chatelet (1790-1836), Autor der Studie
Prostitution in der Stadt Paris (1836).
3. Bénédict Augustin Morel (1809-1873) entwickelte die Idee einer erblichen, fortschreitenden Degeneration. Diese Idee beeinflusste die wissenschaftliche Diskussion für lange Zeit.

Noch interessanter sind die älteren englischsprachigen Quellen, die ich für meine Darstellung nutzen wollte  - von Mary Wollstonecraft über Bentham, Malthus und Francis Place bis zur Malthusian League um Robert Drysdale. Dies wiederum hätte zu einer Untersuchung der Zensur als einschränkende ständige Begleiterin aller Sexualforschung geführt - von damals bis heute. (Auch heute ist die Sexualforschung noch nirgends völlig frei. Aber das wäre ein Thema für eine besondere Untersuchung.) Die Wechselwirkung zwischen den reaktionären und progressiven Kräften des 19. und 20. Jhdts. verdiente gerade in diesem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit. (Dabei finden wir übrigens Marx und Engels auf der sexuell reaktionären Seite.)

Selbstverständlich hätte ich daher die ganze Studie auch in den größeren Kontext zweier Revolutionen gestellt, die beide in England ihren Anfang nahmen: Das war erstens die industrielle Revolution mit ihren weitreichenden sozialen (und damit auch sexuellen) Folgen, und das war zweitens die durch Darwin angestoßene wissenschaftliche Revolution in der Biologie, die seit der Publikation von The Origin of Species1859 (Die Entstehung der Arten) jahrzehntelang zu Kontroversen, Missverständnissen und Umdeutungen führte, etwa die des Sozialdarwinismus. Dabei wurde das Prinzip survival of the fittest (Überleben des Bestangepassten) umgedeutet in survival of the strongest (Überleben des Stärkeren), was, biologisch gesehen, natürlich blanker Unsinn ist. Wie wir ja alle wissen, haben die großen, starken Dinosaurier die damals kleinen, schwachen Säugetiere nicht überlebt, die eben an die neuen Umweltbedingungen besser angepasst waren. Der sozialdarwinistische Unsinn spukte aber vielerorts bis weit ins 20. Jhdt. hinein, besonders auch außerhalb Englands. Beispiele dafür waren u.a. ein neuer, pseudowissenschaftlicher Rassismus und, in dessen Gefolge, ein neuer Antisemitismus, der nicht mehr religiös oder einfach fremdenfeindlich, sondern rassistisch argumentierte.

Magnus Hirschfelds Kritik des Rassismus

Magnus Hirschfelds letztes Werk erschien 1938 nach seinem Tod in englischer Übersetzung. Darin kritisierte er die irrige Vorstellung, es gebe unterschiedliche, höherwertige und minderwertige Menschenrassen. Für ihn war Rasse ein ideologischer, wissenschaftlich wertloser Begriff, der nur zur ungerechten Diskriminierung und Unterdrückung von willkürlich definierten sozialen Gruppen diente. Es war außerdem wohl das erste Buch mit dem Wort Rassismus im Titel. Vor allem aber war es auch ein Angriff auf die nazistische Rassenlehre, in der sich der jüdische Autor selbst als rassisch minderwertig definiert fand.

Eine weitere Folge der missverstandenen Evolutionslehre war die sog. Eugenik, d.h. die Idee einer Höherzüchtung des Menschengeschlechts durch Ausschaltung unerwünschter Erbanlagen. Das Resultat sollte eine biologisch verbesserte Bevölkerung sein. Deshalb führten im Laufe der Zeit viele Länder, auch die USA, teilweise skandalöse, drastische Maßnahmen ein wie etwa die Zwangssterilisierung bestimmter minderwertiger Gruppen. In Nazi-Deutschland organisierte man sogar in einem sog. Euthanasie-Programm die systematische Ermordung lebensunwerten Lebens. All dies hat die Eugenik inzwischen nachhaltig diskreditiert. Einige eugenische Ziele und Methoden wurden jedoch anfangs auch von Sexologen unterstützt, dann aber wieder von anderen in Zweifel gezogen. In gewisser Weise setzt sich der Streit über den wahren Sinn und das richtige Maß der Eugenik sogar immer noch fort. Das Thema ist aber zu komplex, als dass ich hier näher darauf eingehen könnte. Regierungen haben ja auch sehr häufig positive eugenische Anreize geschaffen, wie z.B. die gezielte Förderung der Empfängnisverhütung, den erleichterten Zugang zur Verhütung und Behandlung von sexuell übertragbaren Krankheiten, Finanzhilfen zur Steigerung der Geburtenrate oder offizielle Einladungen an Einwanderer aus bestimmten Ländern. Auch hierbei lassen sich gute und schlechte Aspekte ausmachen und diskutieren, aber dies ist nicht der Ort dafür. Heute stellen sich eugenische Fragen neu im Zusammenhang mit Spenderinsemination, Pränataldiagnostik, Embryonenselektion, Genmanipulation und Klonieren.

Eugenik und eugenische Gesetze

Francis Galton, ein Verwandter von Charles Darwin, prägte den Ausdruck Eugenik
und war ihr erster Propagandist.

Links: Francis Galton (1822-1911), der Vater der Eugenik. Rechts: Einige Auswüchse, wie etwa bestimmte eugenische Gesetze, wurden später offiziell bedauert, wie etwa in dieser Gedenktafel aus dem amerikanischen Bundesstaat Indiana.
(Dort waren etwa 2500 Personen in Staatsobhut zwangssterilisiert worden.)

Aber zurück zur Geschichte der Sexualwissenschaft und den Details der konkreten Entwicklung: Die traditionelle britische Kultur bietet manche drastischen Beweise für sexuelle Ignoranz, Prüderie und Heuchelei. Bekannte homosexuelle Opfer waren Oscar Wilde im 19. und Alan Turing im 20. Jhdt. Was die literarische Behandlung der Homosexualität angeht, so erwiesen sich die Schriften von John Addington Symonds, Edward Carpenter, E. M. Forster und Radcliffe Hall auf längere Sicht als Meilensteine auf dem Wege zur sexuellen Aufklärung.

Britische Schriften zum Thema Homosexualität

Von links: 1. John Addington Symonds (1840-1893), ein eminenter homosexueller Gelehrter, schrieb zum Thema unter dem übervorsichtigen Titel A Problem in Greek Ethics (Ein Problem in der griechischen Ethik).
2. Edward Carpenter (1844-1929), ein früher Schwulenaktivist, verfasste eine Reihe entsprechender Schriften.
3. Radclyffe Hall (1880-1943), eine lesbische Autorin, ist besonders für ihren Roman
The Well of Loneliness bekannt.

Die bedeutendsten Bücher des wichtigsten sexologischen Autors, Havelock Ellis, waren allerdings in seiner englischen Wahlheimat verboten. Seine Studies in the Psychology of Sex wurden dann in den USA publiziert, aber waren selbst dort legal nur Ärzten zugänglich. Schließlich aber gewann ein anderer gebürtiger Australier und Freund Hirschfelds, Norman Haire, auch in Großbritannien noch einen gewissen reformerischen Einfluss. Haire arbeitete eng mit der Feministin Dora Russell zusammen, die mit ihrem Ehemann, dem Philosophen Bertrand Russell, immer wieder sehr energisch für sexuelle Reformen eintrat. Ein Höhepunkt dieser Zusammenarbeit war der Kongress der World League for Sexual Reform (WLSR) in London 1929.

Kulturhistorisch sehr aufschlussreich waren auch die Anti-Masturbationskampagnen der Amerikaner  Graham und Kellogg, auf die entsprechende, angeblich sexuell dämpfende Nahrungsmittel wie Graham Crackers und Kellogg’s Corn Flakes zurückgehen. Andererseits begann im 19. Jhdt. aber auch die amerikanische Frauenbewegung, die dann im 20. Jhdt. eine erhebliche Bedeutung für unsere Wissenschaft erlangen sollte. Verheerend wurde aber leider das Wirken von Anthony Comstock und seinen politischen Verbündeten, die ein wahres Schreckensregiment gegen alle Versuche sexueller Aufklärung errichteten. Ihr negativer politischer Einfluss war noch bis in die 1950er Jahre spürbar, als der US-Kongress Druck auf die Rockefeller Foundation ausübte und so eine weitere Förderung Alfred Kinseys verhinderte. Die sexualwissenschaftlich interessierten Rockefellers waren allerdings auch schon vorher durch etablierte Wissenschaftler jahrelang sabotiert worden. (25) Als Gegensatz dazu verdienten dann aber auch unabhängige amerikanische sexologische Pioniere eine Würdigung, angefangen bei dem Sexualaufklärer Winfield Scott Hall (1861-1942) und dem Gynäkologen Robert Latou Dickinson (1861-1950) über Margaret Sanger die unermüdliche Kämpferin für Empfängnisverhütung und Förderin entsprechender Forschung, bis hin zu Hugo Gernsback (1884-1967) mit seiner populären Zeitschrift Sexology - The Magazine of Sex Science (1933-1967). In diesen kleinen, billigen Heftchen wurden in volkstümlicher Form durchaus seriöse Forschungen vorgestellt. So publizierte z.B. René Guyon dort von August 1949 - August 1951 in Fortsetzungen ein ganzes, anderweitig nicht publiziertes Werk The Sexual Problem in the Historical Period. In diesem Zusammenhang ist auch noch der Bestseller des holländischen Gynäkologen T. H. van de Velde von 1926 zu erwähnen: Ideal Marriage (deutsch Die vollkommene Ehe). Obwohl es auf dem katholischen Index verbotener Bücher stand, war es in den USA, aber auch in Europa, jahrzehntelang das populärste Aufklärungsbuch überhaupt.

(Übrigens: Das englische Wort Sexology war bereits 1867 im Titel eines amerikanischen Buches von Elizabeth Osgood Goodrich Willard erschienen: Sexology as the Philosophy of Life: Implying Social Organization and Government. Es handelte sich hier also nicht um Sexualwissenschaft in unserem heutigen Sinne, sondern um ein philosophisch-moralistisches Pamphlet zur allgemeinen Weltverbesserung. Für die Autorin ist sex, so ähnlich wie das chinesische Yin und Yang, ein fundamentales Ordnungsprinzip der Natur, dem sich die Menschheit zu ihrem Besten unterwerfen sollte. Allerdings bleibt der Text im Ganzen etwas nebulös. Ob das Wort sexology eine Neuschöpfung der Autorin war oder schon vorher existierte, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich hätte es aber sicherlich herausgefunden.)

Kurz zusammengefasst: Die Entwicklung in Großbritannien und in den USA in ihrem Schwanken zwischen libertärem Pioniergeist und puritanischem Erbe hat einen ganz eigenen Charakter und ist ein wichtiger, in Deutschland leider kaum bekannter Aspekt der Geschichte der Sexualwissenschaft. All das kann ich hier nur noch andeuten. Auf jeden Fall hätte ich mein Buch in englischer Sprache geschrieben und allein schon dadurch eine sehr große Zahl von Lesern erreicht, die bis heute nichts von dieser Geschichte wissen.

Was nun den wahren Ahnherrn unserer Wissensschaft angeht, so ist dieser eigentlich unbestimmbar. Schließlich hatte es schon im goldenen Zeitalter des Islam (ca. 800-1300 moderner Zeitrechnung) eine umfangreiche arabische Literatur zu sexologischen Themen gegeben, auch in Andalusien (Al-Andalus). Im dortigen Cordoba wurde allerdings die damals bedeu-tendste Bibliothek Europas mit vielen wichtigen Texten zweimal zerstört – im 10. Jhdt. von moslemischen Extremisten und im 15. Jhdt. von fanatischen christlichen Eroberern: Ein weiteres Beispiel für eine vielerorts immer wieder aufflammende Wissenschaftsfeindlichkeit.

Zweisprachige Dissertation
Arabisch/Deutsch

Im goldenen Zeitalter des Islam (ca. 9.-14. Jhdt.) entstand im Morgenland und im moslemischen Spanien eine umfangreiche sexologische Literatur, die nur noch teilweise erhalten ist. Einige deutsche medizinische Fakultäten haben vor Jahren einige der noch verfügbaren Texte von ihren arabischen Studenten übersetzen lassen und als zweisprachige Dissertationen veröffentlicht.
Das Bild zeigt das Titelblatt einer dieser Dissertationen von der Universität Würzburg aus der Sammlung des Haeberle-Hirschfeld-Archivs.

Es ist also nicht einfach, die Entwicklung der sexuellen Aufklärung mit ihrem Auf und Ab über die Jahrhunderte zu beschreiben. Zu viele geistige Strömungen in Europa und den USA kamen hier über einen großen Zeitraum zusammen, bis der hochgebildete Iwan Bloch sie 1906 alle unter dem Namen Sexualwissenschaft bündelte und als besondere, eigene Forschungsanstrengung etablierte.

Dass dies in Berlin geschah, ist allerdings kein Zufall. Kein anderer Ort in Europa erlebte gegen Ende des 19. Jhdts. eine so schnelle und dramatische Vergrößerung und Veränderung, kein anderer symbolisierte den Einbruch des Neuen so offensichtlich wie das Berlin der Kaiserzeit. Sexuelle Probleme wurden mit der Zeit auch in Wien, Paris und London öffentlich diskussionsfähig, aber in Berlin wurden sie besonders deutlich und dringlich. Hier machten sich die vielfältigen Erscheinungen des abendländischen Fortschritts sehr drastisch bemerkbar, und es war unvermeidlich, dass sie auch das Sexualleben erfassten: Ein schnelles Wachstum von Industriegiganten wie Borsig, Siemens & Halske und AEG bezeugte die rapide Industrialisierung der Stadt. Für die große Zahl von Arbeitern entstanden die Massenquartiere mit ihren mehrfachen Hinterhöfen, die Heinrich Zille so realistisch gezeichnet hat. Damit einher gingen das Elend eines neuen Proletariats, eine Zunahme von Prostitution und Geschlechtskrankheiten sowie ein Anwachsen der Kriminalität. Dazu kam ein intensivierter Kampf um Strafrechtsreform und Empfängnisverhütung. Andererseits erlebte der immer wieder erstaunte Durchschnittsbürger auch viel Positives: Dramatische Fortschritte in der Medizin und den Naturwissenschaften, vermehrte Zulassung von Frauen zum Studium, Elektrifizierung und Telefon, laufend verbesserte Post- und Eisenbahnverbindungen, innerstädtische Untergrundbahnen, die schnelle Verbreitung von Automobil, Autobus und der Elektrischen und somit das Verschwinden von Pferden und Pferdemist aus dem Straßenverkehr, das erste Zeppelin Luftschiff (1900), das erste motorgetriebene Flugzeug auf dem Tempelhofer Feld (1909), eine täglich mehrmals aktualisierte Presse, eine unübersehbare Zunahme öffentlicher Werbung, die ersten Großkaufhäuser mit ihrer Überfülle von Waren, industriell gefertigte Modekonfektion, die Anfänge des Kintopp i.e. des revolutionären Mediums Film. Dem gegenüber standen radikal neue, oft als skandalös empfundene Richtungen in der Literatur, in der Musik, in Oper und Ballett, im Sprechtheater und in der bildenden Kunst. All das kam zusammen und erzeugte eine bis dahin unbekannte, ständig zunehmende Komplexität der sozialen Umgebung. Viele Individuen, im Voraus verängstigt von kommenden Dingen, entwickelten eine moderne Nervosität und Empfindlichkeit, die zu ständig zweifelnder Selbstbefragung führte. Andere wiederum reagierten mit Trotz und innerer Rebellion. Gleichzeitig entstanden alternative, naturbegeisterte Bewegungen wie die Freikörperkultur (FKK) und der 1901 in Berlin-Steglitz gegründete Wandervogel. Sensible Künstler aller Sparten und genaue Beobachter der Gesellschaft wie der homosexuelle Kosmopolit und Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler registrierten die allgemeine Beschleunigung dieser Jahre aufmerksam und ließen sich selbst von ihr inspirieren. Ein dieser aufregenden Zeit gemäßer Soziologe war der beliebte Berliner Professor Georg Simmel, dessen Vorträge öffentlich zugänglich waren, und der an markanten Einzelheiten des Alltagslebens Anzeichen größerer kultureller Tendenzen erkannte und so für seine Hörer und Leser den Geist der Zeit erhellte. Wer es sich leisten konnte, reiste auch, wie Graf Kessler, ins Ausland, um dort Vergleiche anzustellen und sich so seiner selbst zu versichern. Hirschfeld (1893) und Moll (1898) unternahmen noch vor der Jahrhundertwende längere Informationsreisen in die USA. Aber auch Bloch und andere sexologisch interessierte Kollegen, die nur innerhalb Europas reisten, erkannten die rasante technische und kulturelle Entwicklung der neuen Zeit mit allen ihren Gefahren und Chancen und suchten darin ihren eigenen Platz und Einfluss zu sichern. So konnten sie noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ihre entscheidenden Wegmarken setzen: Mehrere grundlegende Buchpublikationen von Moll und Bloch um die Jahrhundertwende, Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitäre Komité (WhK) 1897, sein Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen (1899) und seine Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908), ein erstes Handbuch der Sexualwissenschaften von Moll (1911), den ersten Band eines mehrbändig geplanten Handbuchs der Sexualwissenschaft von Bloch (1912) und zwei konkurrierende sexologische Gesellschaften 1913.

Sicherlich: Auch Mantegazza ist eine Figur, an der man glaubhaft vieles festmachen kann, wie ich es 1997 ja auch selbst getan habe. Am Ende hätte ich aber wohl doch den deutschen, auch von Sigusch erwähnten Wilhelm von Humboldt als den eigentlich zentralen Anreger gewählt, nicht nur wegen seines sexologisch interessanten Privatlebens. Als Gelehrter fand er einen noch heute hilfreichen Ansatz zum Studium der Sexualität, indem er sie zum Zentralbegriff einer Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlechte machen wollte. Auch mit dieser Inspiration spielte er eine seiner vielen Rollen in der europäischen Geistesgeschichte, die aber von der - auch nach ihm benannten - Universität bis heute nicht gewürdigt wird.

In diesem Zusammenhang erinnere mich auch noch an längere Gespräche mit dem Historiker Peter Gay (1923-2015), den ich in Berlin besuchte, als er Fellow am Institute for Advanced Study im Grunewald war. Er war ein Schüler von des Yale-Historikers Hajo Holborn und seit 1969 selbst dort Professor. Da ich um diese Zeit noch am gleichen Ort als Amerikanist geforscht und Holborn gut gekannt hatte, ergab sich ein natürlicher Anknüpfungspunkt. Er schrieb an einer großangelegten, psychoanalytisch inspirierten Kulturgeschichte der Bourgeoisie im 19. Jhdt., die sich auch mit deren sexuellen Einstellungen und Erfahrungen befasste, und deren erster Band bereits erschienen und von mir rezensiert worden war (The Bourgeois Experience …). Wir unterhielten uns ausführlich nicht nur über die englischsprachige Literatur, die er selbstverständlich kannte, sondern auch über Bloch, Moll, Hirschfeld und die Pionierphase der Sexualwissenschaft, von der er viel weniger wusste. Es interessierte ihn aber so sehr, dass er mich bei der Institutsleitung ebenfalls als Fellow vorschlug. Aber zum Glück wurde nichts daraus, denn es hätte mich wieder in eine traditionelle akademische Richtung gedrängt, und mein weiteres Leben wäre dann viel weniger reichhaltig verlaufen. Ironie des Schicksals: Auf völlig unerwartete Weise kam ich wenige Jahre später dann doch noch nach Berlin, und zwar für eine viel längere Zeit als den jeweiligen Fellows zugestanden wurde.

Ich blieb zunächst aber noch dem Kinsey-Institut als Research Associate verbunden und lieferte dort die entsprechenden Materialien ab, auf die ich bei meinen Recherchen stieß, so z.B. unveröffentlichte Texte von Max Marcuse, die ich in Israel gesammelt hatte und auch Material von und über René Guyon, das ich von seinem amerikanischen Übersetzer erhielt. Einiges davon nutzte ich für einen Aufsatz über Guyon als Vorkämpfer für sexuelle Rechte.

Noch während dieser Sammelaktivitäten hatte ich Gelegenheit, in New York mit dem bekannten Psychiater und Psychiatriekritiker Thomas Szasz zu debattieren. Er hatte gerade ein kritisches Buch über Sexualtherapie veröffentlicht, das mir überspitzt und unfair erschien. So sehr ich seine Hauptwerke schätzte, so konnte ich doch diese allzu beißende Attacke auf meine therapeutischen Kollegen nicht unwidersprochen lassen. Unter dem Titel The Manufacture of Gladness, den ich bewusst als Kompliment an ihn gewählt hatte, hielt ich einen Vortrag gegen seine Thesen. Szasz gab mir unter vier Augen nur zu, dass ihm der Titel meines Beitrags gefiel, ansonsten aber blieb er unnachgiebig. Sein eigener Vortrag war, wie nicht anders erwartet, sarkastisch und provokant. Es war eine lebhafte Veranstaltung, und unsere gegensätzlichen Standpunkte wurden dann auch, zusammen mit anderen Beiträgen, in einem Sammelband publiziert. (26)


Gene zu Anfang der achtziger Jahre

Anfangs der achtziger Jahre begannen mein Partner Gene und ich, unsere Sommer statt in Hawai’i in Europa zu verbringen. Wir reisten dabei jedes Mal zuerst nach Freiburg Br. Dort wohnten wir bei einer alten, nun längst verstorbenen Freundin, die uns auch schon in San Francisco besucht hatte. Sie fuhr uns in ihrem Volkswagen kreuz und quer durch den Schwarzwald, den ich so auch selber von vielen neuen Seiten kennenlernte. Von dort aus fuhren Gene und ich dann nach Heidelberg oder in die Schweiz (vor allem nach Genf, Montreux und Zürich), aber auch nach Paris, denn an alle diese Orte hatte ich die schönsten Erinnerungen, die ich ihm nahebringen wollte. Außerdem besuchten wir Belgien (Brüssel und Brügge), die Niederlande (Amsterdam und Utrecht) und Italien (die Amalfiküste, Capri, Rom, Florenz, Verona und Venedig). Es waren anregende, für mich auch sentimentale Reisen. Leider wurden ihre Ziele bald zunehmend von meinem Engagement für die AIDS-Vorbeugung bestimmt, und dies überschattete natürlich dann auch unsere Eindrücke vor Ort.


Die DGSS

Irgendwann in diesen 80er Jahren erhielt ich in San Francisco einen Brief von einem mir bisher unbekannter Rolf Gindorf (1939-2016). Er lud mich ein, Präsident der von ihm gegründeten Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) zu werden. Ich lebte zwar noch auf Dauer in den USA, sah aber hier eine Chance, die deutsche sexologische Szene besser kennen zu lernen. Also flog ich nach Düsseldorf für ein persönliches Gespräch und ging schließlich auf sein Angebot ein. Es war ein Schritt, den ich nicht bereute, denn in den folgenden Jahren erreichten wir eine fruchtbare Zusammenarbeit mit mehreren gemeinsam organisierten internationalen Kongressen und Publikationen. Nach meiner Übersiedlung nach Berlin kam als Mitorganisator noch ein früherer Ostberliner hinzu - der Humanontogenetiker Karl Friedrich Wessel, mit dem zusammen wir 1992, 1994 und 1997 Kongresse im Senatssaal der Humboldt-Universität organisierten. (27) Der Höhepunkt war dann der kombinierte EFS und DGSS-Kongress im Jahre 2000 in Berlin (s.u.).

Unsere Vorstandssitzungen fanden immer in Düsseldorf statt, mit Rolf Gindorf und seinem Partner Wolfgang, Karla Etschenberg und Gunter Runkel, teilweise auch noch mit Ernest Borneman. Es war immer eine einträchtige Runde, die schnell zu Entscheidungen kam. Anschließend gab es dann jedes Mal ein gemeinsames Essen in einem der traditionellen Lokale. Wenn es sich bei unseren Reisen zur Sommerzeit ergab, begleitete Gene mich auch zu den Vorstandssitzungen. Für mich gehörte das alles zu den angenehmsten Seiten meiner Arbeit. Bei einem unserer Kongresse in Düsseldorf lernte ich auch den von uns allen geschätzten, brillanten Soziologen Alphons Silbermann (1909-2000) kennen.


Wolfgang und Rolf Gindorf
nach ihrer Registrierung als Lebenspartner

Allerdings erfuhr ich bei all diesen Unternehmungen auch sehr bald, wie kleinkariert und verbiestert die sexologische Landschaft in Deutschland war. In den USA war ich Offenheit nach allen Seiten gewöhnt, aber die deutschen Gruppen und Grüppchen grenzten sich mit albernen Eifersüchteleien voneinander ab und fühlten sich dabei in provinzieller Ahnungslosigkeit noch allem Amerikanischen überlegen. Es war einfach nur lächerlich und ein Hinweis darauf, dass sich die deutsche Sexualwissenschaft, kaum wiedererstanden, schon wieder im Niedergang befand.


Sexualwissenschaftliche Schriftenreihe
Mit Rolf Gindorf gab ich für die DGSS eine dreibändige Schriftenreihe zu verschiedenen
Themen heraus, die Beiträge von deutschen und ausländischen Forschern enthielt.
Hier der zweite Band von 1987.

Allmählich lernte ich auch meinen Vorgänger als DGSS-Präsident näher kennen, den in Berlin geborenen, älteren Kollegen Ernest Borneman, der mich für mehrere Tage auf sein stattliches Anwesen in Österreich einlud, einen großzügig und modern umgebauten Bauernhof. Dort traf ich auch seine warmherzige Frau Eva, die als Übersetzerin arbeitete, und mit der ich mich auf Anhieb gut verstand. Borneman selbst zeigt mir als Hausherr seine Reihe von Gästezimmern und seine eindrucksvolle, sehr umfangreiche Bibliothek. Er beklagte sich, dass es ihm nie gelungen sei, Gruppen von Interessenten in seine ideale Forschungs- und Tagungsstätte einzuladen. Nach diesem Besuch und in Laufe unserer weiteren Bekanntschaft wurde mir der Grund aber klar: Ernest Borneman war zu keiner wirklichen Kooperation fähig. Er war ein vielseitig begabter, auf den verschiedensten Feldern tätiger, sehr intelligenter, fleißiger Autor, der wirklich schreiben konnte und sich damit von seinen Konkurrenten vorteilhaft abhob. Aber letztlich war er ein lone wolf, ja, ein knauseriger Egomane, der ständig über Geldmangel klagte und oft allzu kurzsichtig nur an seinen eigenen Vorteil dachte. Im Grunde war er unempfindlich für die Interessen und Gefühle anderer.

Zum Beispiel vergesse ich nie meinen zweiten Besuch bei ihm in Österreich. Genauer gesagt, war es nur der Versuch eines Besuchs, denn er endete bereits vor der Haustür. Ich hatte mich telefonisch von Genf aus nach einem geeigneten Termin erkundigt, und so waren wir übereingekommen, an welchem Tag ich ihn besuchen sollte. Ich teilte ihm dann auch noch die Ankunftszeit meines Zuges mit, die er mir als passend bestätigte. Also fuhr ich, wie verabredet, von Genf nach dem kleinen Ort Scharten, der seinem Hof am nächsten lag. Vor dort nahm ich ein Taxi, aber als ich bei Borneman ankam, sah ich, wie er selber gerade ein anderes Taxi bestieg und mir beim Abfahren zurief: Tut mir leid, ich muss zu einer Fernsehaufnahme nach Wien. Und weg war er. Was sollte ich machen? Ich fuhr nach Innsbruck, wo ich den dortigen Sexualmediziner Kurt Loewit kannte und im Landestheater eine sehr schöne Aufführung von Johann Straussens Zigeunerbaron sah (Ja, das alles auf Ehr, das kann ich und noch mehr ….).

Ich begriff allerdings bald, dass mein unzuverlässiger Gastgeber ein schweres Schicksal hinter sich hatte. Wie man hörte, hatte Ernest Borneman einen jüdischen Familienhintergrund, aber Näheres erfuhr ich nie, und er selber sprach nicht darüber (ein neuerer Wikipedia-Eintrag erwähnt jüdische Eltern). Jedenfalls war er als politisch links orientierter 18-Jähriger ohne Abitur vor den Nazis aus Berlin geflohen. In England und später in Kanada musste er sich dann unter schwierigsten Bedingungen durchkämpfen (daher auch die leichte Änderung seines Namens). Dabei war und blieb er in jeder Beziehung Autodidakt, was seine Leistung noch eindrucksvoller machte. Was er selbst von seinem beruflichen Werdegang und von seiner Arbeit erzählte, war eine Mischung von Dichtung und Wahrheit, die kein genaues Nachfragen vertrug. Einmal erwähnte er in einem Gespräch seine seine Arbeit mit Wilhelm Reich. Als ich dann immer genauer nachbohrte, löste sich diese Arbeit jedoch in ziemlich dünne Luft auf: Er hatte als Schüler in Berlin einmal mit Reich gesprochen. Mich störte sein häufiges Geflunker aber nie, denn ich bewunderte die konkreten Resultate seiner Arbeitskraft, obwohl sie mir inhaltlich wenig bedeuteten. Auch sein ehrgeizigstes Werk, Das Patriarchat, mit dem er die Frauenbewegung unterstützen wollte, schien mir, bei allem gelehrtem Fleiß, irgendwie unzeitig mit seiner eigenwilligen, weit hergeholten und durchaus angreifbaren historischen Analyse. (Archäologen, Prähistoriker und Ethnologen streiten bis heute über die Geschlechtsrollenverteilung in den verschiedensten vorliterarischen Gesellschaften und deren Friedfertigkeit oder Gewaltbereitschaft). Ich hatte nicht den Eindruck, dass das Buch gesellschaftlich etwas bewegen würde, denn die Dynamik des neu erwachenden Feminismus speiste sich damals nicht aus tiefgründiger Reflexion über die Menschheitsgeschichte, sondern aus anderen Quellen, die Borneman aber nicht wahrnahm. Insgesamt jedoch schätzte ich seine psychoanalytisch inspirierten Bücher als interessante Zeugnisse einer früheren Gedankenwelt. Ich empfand auch die akademischen Angriffe auf ihn als billig, ungerecht und töricht, besonders wenn es um seine berufliche Vorgeschichte ging. Ich selbst hatte das Glück gehabt, an den besten Universitäten zu studieren, aber ich hasste die engstirnige deutsche Marotte, selbst bei unbestreitbaren Leistungen dafür nachträglich noch einen offiziellen Berechtigungsnachweis zu fordern. Allzu oft fragte man in Deutschland nicht: Kann er das?, sondern: Ist er berechtigt, das zu können?. Auch Borneman muss das gestört und belastet haben. Ich war jedenfalls längst schon zu amerikanisiert, um diesen lähmenden deutschen Ungeist ernst zu nehmen. Für mich roch er auch lange nach 1968 immer noch wie der Muff von tausend Jahren.

So hatte hatte es Borneman selbst nach seiner Rückkehr nach Deutschland nicht leicht. In Österreich fand er endlich eine gewisse Anerkennung, aber seine innere Unsicherheit und sein Misstrauen blieben. Das galt auch für seine völlig intransparenten Forschungsprojekte - angeblich immer Resultate von Teamarbeit. Ich wurde aber den Verdacht niemals los, dass er alles allein und selber machte. Gleichzeitig merkte ich, dass ihm die empirische Forschung in den USA von Kinsey bis Masters & Johnson im Wesentlichen fremd geblieben war. Wissenschaftlich hatten wir uns daher wenig zu sagen. Ich ließ dies jedoch auf sich beruhen und versuchte nur, ihn als einen gebürtigen Berliner davon zu überzeugen, dass seine Bibliothek nach seinem Tod nur in Berlin die richtige Heimstatt finden würde. Ja, als ich selber nach Berlin umzog, wiederholte ich meine Argumente immer dringlicher. Als er mich dann zweimal in Berlin besuchte, stimmte er mir anscheinend zu und deutete einen Sinneswandel an. In Wirklichkeit aber hatte er längst unwiderruflich anders entschieden. Überhaupt besaß er keinerlei Sinn für die Geschichte der Sexualwissenschaft und für die Rolle Berlins in dieser Geschichte. Er fühlte sich recht einseitig der Psychoanalyse verpflichtet und konnte mit den Werken von Bloch, Moll und Hirschfeld wenig anfangen. Auch die grundlegenden Periodika Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908) und Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik (1914-1932) kannte er offensichtlich nicht.

Im  Rückblick er scheint es mir auch seltsam, dass er nie das Wiener Institut für Sexualforschung von Leo Schidrowitz erwähnte, das 1938, mitsamt seiner umfangreichen Bibliothek, beim Anschluss Österreichs den Nazis zum Opfer gefallen war. Bis heute fehlt eine gründliche wissenschaftliche Darstellung und Würdigung dieser ungewöhnlichen Privatinitiative. Borneman hätte sie leicht als Präzedenzfall zur Grundlage und Rechtfertigung der eigenen Arbeit machen können. Damit hätte er sich als herausragender Erneuerer in eine andere echte Wiener Tradition gestellt. Aber da er selbst akademischer Außenseiter war, wollte er sich wohl nicht auch noch für einen anderen Außenseiter wie Schidrowitz stark machen und suchte lieber Respektabilität, indem er sich auf die Psychoanalyse berief. Kurioserweise gab es aber bei ihm gewisse biographische Parallelen zu Schidrowitz. Auch der war ein vielseitiger Schriftsteller, Büchersammler, sexologischer Autodidakt und Exilant gewesen, und er war nach dem Ende der Nazizeit nach Österreich zurückgekehrt. Und beide waren außerdem noch echte Experten auf nichtwissenschaftlichen, international populären, volksnahen Gebieten: Bei Borneman  war es der Jazz, bei Schidrowitz der Fußball. (28)

Zumindest aber hatte ich erwartet, dass sich Borneman als geborener Berliner genauer über das Institut für Sexualwissenschaft von Hirschfeld informieren würde. Aber ganz offensichtlich tat er das nicht. Als wir ihm 1990 im Rathaus Schöneberg die erste Hirschfeld-Medaille verliehen, lieferte er statt einer passenden Dankesrede völlig unvorbereitet und aus dem Stegreif eine heftige, emotionale Tirade über die Bedrohung durch eine neue Prüderie, die bald eine Panik über die Sexualität von Kindern lostreten würde. Das war sicherlich ein diskussionswürdiges Thema, aber nicht zu diesem Anlass an diesem Ort! Es blieb dann dem anderen Medaillen-Empfänger, dem Niederländer Herman Musaph überlassen, die peinliche Situation zu retten und den historischen Kontext herzustellen. Borneman selbst hatte nie ein Gespür für die Erwartungen, die wir alle in ihn setzten. Er war einfach nur mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Nach dem Tod seiner Frau wohnte er dann allein auf seinem entlegenen Landsitz, isoliert von Freunden und Bekannten und fern von allem städtischen Leben. Die wenigen Male, die ich ihn noch allein traf, schien er mir auch innerlich noch mehr vereinsamt als früher. Bei einem gemeinsamen Treffen stellte er Gindorf und mir zwar noch eine neue, jüngere Partnerin vor, aber ich spürte zwischen den beiden doch eine gewisse Disharmonie, die Borneman gestisch und verbal allzu eifrig zu überdecken versuchte und gerade dadurch deutlich machte. Sehr gerne aber schrieb ich auf seine Einladung noch einen Beitrag für eine Festschrift zu seinem 80. Geburtstag. Sein tragisches Ende im gleichen Jahr überraschte mich jedenfalls nicht wirklich.

Festschrift zum 80. Geburtstag von Ernest Borneman

S. Standow Hg. Ein lüderliches Leben. Portrait eines Unangepaßten,
Werner Pieper's MedienXperimente, Alte Schmiede, Löhrbach 1995.
Zweite Ausgabe mit neuem Titelbild. Der Grüne Zweig Taschenbuch. 1995


Drei Gastprofessuren

1. Kiel

Im Wintersemester 1983-84 wurde ich zum Gastprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel ernannt, und zwar auf Initiative des dortigen Sexualmediziners Prof. Reinhard Wille (1930-2014), bei dem ich auch wohnte. Er hatte unser Institut in San Francisco besucht und kannte mich von den Heidelberger Fortbildungstagen. Wir nutzten die Gelegenheit, meine Ausstellung zur Geburt der Sexualwissenschaft in der Stadtbibliothek einem größeren Publikum zu zeigen und versuchten auch, verschiedene Doktoranden für dieses Thema zu begeistern. Dafür hatte ich eigens unpubliziertes historisches Material aus den USA mitgebracht, besonders über Hirschfelds Mitarbeiter Ludwig Levy Lenz. Leider aber fanden wir keine Interessenten. Allerdings gab es in diesem Gastsemester eine für mich sehr denkwürdige Unterbrechung: Gleich im Herbst lud mich das Psychologische Institut der Universität Heidelberg zu einem Vortrag ein über die Geschichte der Sexualwissenschaft. So kam es, dass ich im gleichen Hörsaal des Hauptgebäudes, in dem ich 17 Jahre vorher als wissenschaftlicher Assistent und Amerikanist ein Seminar über Alexis de Tocqueville geleitet hatte, nun als Professor mein neues Arbeitsgebiet vorstellen konnte. (29) Natürlich empfand ich dabei eine besondere Genugtuung. Wille und ich hätten aber beinahe noch ein ungewöhnliches Großprojekt zum Thema Pornographie gemeinsam angehen können. Durch die Vermittlung von Rolf Hochhuth, den ich durch einen Freund in der Schweiz kennenlernte, bekamen wir in Kiel eine Chance, wie sie sich nur einmal in einem Forscherleben bietet und niemals wiederkehrt. Es begann auch vielversprechend mit Inspektionen der bislang unbekannten, sehr kostbaren Quellen, stieß dann aber bald auf mehreren Ebenen an unüberwindliche Grenzen des Unverständnisses. Das bedaure ich bis heute, denn es lag eben in der Natur dieses wahrlich einmaligen Projektes, dass es sich nicht mehr wiederbeleben lässt. Nähere Angaben kann ich aus Gründen der Diskretion hier leider nicht machen.


Foto: Sexuologie
Prof. Reinhard Wille
(1930-2014)

Dennoch war mein norddeutscher Aufenthalt für mich ein großer Gewinn, denn ich konnte von meinem großzügigen, vielseitig interessierten und rastlos tätigen Gastgeber eine Menge lernen. Auch später blieben wir in freundschaftlichem Kontakt, und so besuchte ich ihn und seine Familie noch mehrfach von Berlin aus in seinem schönen Haus in Kiel. Da er neben der Medizin auch Rechtswissenschaft studiert hatte, blieb an juristischen Fragen interessiert. Zur Feier seines 60. Geburtstags 1990 lud er mich deshalb ein, bei seinem Festsymposium einen Vortrag über ein medizinisch-juristisches Thema zu halten. Ich ergriff die Gelegenheit, dort über die zwiespältige Rolle Hirschfelds im Eulenburg-Skandal zu sprechen, der unter Wilhelm II das deutsche Kaiserreich erschüttert hatte.

2. San Francisco

Im Sommer 1984 ging ich zurück nach Kalifornien und übernahm eine sehr erfolgreiche sexologische Vorlesung, die mein Kollege, der Biologe Bernard Goldstein, an der San Francisco State University über viele Jahre hin aufgebaut hatte. Er musste sie abgeben, weil er in eine sehr anspruchsvolle Verwaltungsaufgabe im übergeordneten Universitätssystem aufrückte. Da wir uns gegenseitig schätzten und ich selbst mit einem erfolgreichen Lehrbuch aufwarten konnte, erhielt ich von Crellin Pauling, dem Leiter der Abteilung Biologie, für meine Gastrolle den Titel eines Distinguished Visiting Professor.



Fotos: SFSU

San Francisco State University
Oben: Teilansicht des Campus mit Blick auf die Bibliothek.
Unten: das Auditorium des McKenna Theaters, in dem ich meine Vorlesung hielt.

Mit über 600 Hörern war dies bei weitem die größte Vorlesung der Universität. Da alle regulären Hörsäle zu klein dafür waren, musste sie im größten Auditorium der Universität abgehalten werden, dem McKenna Theater (ein weiteres Foto - aufgenommen bei einer anderen Gelegenheit - findet sich hier). Für mich war das eine neue, belebende Erfahrung. Die Universität pflegte eine progressive, lockere Atmosphäre mit vielen Kultur- und Informationsangeboten. So unterhielt sie z.B. auch ein von Student(inn)en geführtes Zentrum für Sexualberatung. Dazu kam noch eine belebende ethnische Mischung. Damals war bereits absehbar, dass, ebenso wie in Berkeley, der asiatischstämmige Anteil an der Studentenschaft schnell und erheblich zunehmen würde. (Bei der Abschlussprüfung zu meiner Vorlesung erhielt ein Chinese American die beste Note, der mir während des Semesters nie aufgefallen war.) Mein studentisches Publikum war sehr wissbegierig und diskussionsfreudig, besonders, wenn ich ihm auf der Bühne die schwulen und lesbischen Aktivist(inn)en präsentierte, die sonst in unserem viel kleineren Institut auftraten. Auch die mit mir befreundeten Transsexuellen, Fetischisten und Sadomasochisten ergriffen gerne die Gelegenheit, einer größeren Versammlung Rede und Antwort zu stehen. Meine Vorlesung wurde, wie in den USA üblich, auch von den Student(inn)en bewertet und bekam eine hervorragende Gesamtnote. Da sie also ihren früheren Erfolg ungeschmälert fortsetzen konnte, und da ihr Initiator Bernard Goldstein nicht mehr zur Verfügung stand, hätte ich sie gerne weitergeführt. Das war aber leider unmöglich, denn für das nun folgende Wintersemester 1984-85 war ich schon als Gastprofessor (professeur invité) an der Medizinischen Fakultät der Universität Genf eingeteilt.

3. Genf

In Genf war es meine Aufgabe, sexologische Fortbildungsseminare für Ärzte durchzuführen, und zwar in der damals für die Schweiz bahnbrechend innovativen Abteilung Unité de gynécologie psychosomatique et sexologie. Deren Leiter, Prof. Willy Pasini, hatte mehrfach unser Institut in San Francisco besucht, sich von der Qualität unserer Arbeit überzeugt und mich deshalb eingeladen, einiges von unseren Programmen in Genf umzusetzen.


Mit Prof. Willy Pasini (links)

Außerdem hatte ich in einem Aufsatz schon die sexologische Tradition in der französischen Schweiz beschrieben, und dies verschaffte mir einen umso leichteren Einstieg. Ich wohnte in einem Ärztezimmer der hoch am Berg gelegenen Psychiatrischen Klinik mit großem Park und herrlichem Blick auf den Genfer See. Von dort fuhr ich morgens in mein Büro und unseren Seminarraum in der Stadt. Während dieser Zeit lernte ich auch den eminenten Psychoanalytiker Prof. André Haynal besser kennen und schätzen, der ebenfalls unser Institut in San Francisco gut kannte, und den ich in späteren Jahren, ebenso wie Prof. Pasini, noch mehrmals in Genf besuchte. Nebenher recherchierte ich noch über den Psychiater und ersten schweizerischen Sexologen Auguste Forel und besuchte dabei seinen Enkel Armand Forel im nahen Nyon ebenso wie einen Forel-Kenner an der Universität von Lausanne. Insofern war meine Tätigkeit also nur akademische Routine. Allerdings erlebte ich im Herbst 1984 noch eine interessante Abwechslung: Ich wurde, wie übrigens auch Volkmar Sigusch aus Frankfurt, zur Teilnahme an einer Ringvorlesung zum Thema Sexualität an der Freien Universität Berlin eingeladen. Dort sprach ich dann ganz allgemein über sexuelle Minderheiten in San Francisco. (30)

Im gleichen Jahr bat mich mein Berliner Verlag, für eine Jubiläumsausgabe von Hirschfelds großer Studie der Homosexualität eine passende Einführung aus heutiger Sicht zu schreiben. Das Buch erschien dann auch pünktlich zum 70. Jahrestag seiner Erstveröffentlichung.


Jubliläumsausgabe von Hirschfelds Studie der Homosexualität von 1914
mit meiner Einführung von 1984


AIDS

Bald aber musste ich alle meine gewohnten Beschäftigungen aufgeben, denn - so sehr ich mich auch anfangs sträubte - ich wurde durch mehrere Umstände gezwungen, mich intensiv mit der neuen, sexuell übertragbaren Krankheit AIDS zu befassen, denn mein Aufenthalt in Genf nahm im Frühjahr 1985 eine überraschende Wendung: Wie man mir mitteilte, lagen bereits 17 AIDS-Patienten in der Universitätsklinik. Damals hörte man in europäischen Fachkreisen bereits manche positiven Gerüchte über die verschiedenen Vorbeugungs- und Versorgungsprogramme in San Francisco. Da ich gerade von dort hergekommen war, bat man mich, für einen kleinen, erlauchten Kreis von Klinikdirektoren über eben diese Programme einen Vortrag zu halten. Dafür ließ ich mir von unserem Fortbildungsinstitut etwa zwei Dutzend aktuelle Dias anfertigen und zuschicken. Dieser Vortrag mit seinen drastischen offiziellen Beispielen schockierte dann aber mein vornehmes Publikum derart, dass alle wortlos den Raum verließen. Auf die praktische Seite der Vorbeugung, d.h. die damit verbundenen konkreten sexuellen Details, waren die hohen Herrschaften in keiner Weise vorbereitet. (Es waren tatsächlich nur Herren.) Da die AIDS-Prävention unter dem Namen Safe Sex zuerst von schwulen Ärzten für schwule Männer entwickelt worden war, und mein Vortrag sich auch darauf konzentrierte, führte er meine zuhörenden Zuschauer in gewisse intime Aspekte einer Welt ein, die zwar in San Francisco allgemein bekannt war, von der sie aber in Genf am liebsten gar nichts erfahren hätten. Dazu kamen noch Projekte von Sadomasochistenclubs und in der Prostitutions- und Drogenszene, von denen ich ebenfalls berichten und Illustrationen zeigen konnte. All das war für mein damaliges Publikum einfach zu viel.

Bald aber musste ich alle meine gewohnten Beschäftigungen aufgeben, denn - so sehr ich mich auch anfangs sträubte - ich wurde durch mehrere Umstände gezwungen, mich intensiv mit der neuen, sexuell übertragbaren Krankheit AIDS zu befassen, denn mein Aufenthalt in Genf nahm im Frühjahr 1985 eine überraschende Wendung: Wie man mir mitteilte, lagen bereits 17 AIDS-Patienten in der Universitätsklinik. Damals hörte man in europäischen Fachkreisen bereits manche positiven Gerüchte über die verschiedenen Vorbeugungs- und Versorgungsprogramme in San Francisco. Da ich gerade von dort hergekommen war, bat man mich, für einen kleinen, erlauchten Kreis von Klinikdirektoren über eben diese Programme einen Vortrag zu halten. Dafür ließ ich mir von unserem Fortbildungsinstitut etwa zwei Dutzend aktuelle Dias anfertigen und zuschicken. Dieser Vortrag mit seinen drastischen offiziellen Beispielen schockierte dann aber mein vornehmes Publikum derart, dass alle wortlos den Raum verließen. Auf die praktische Seite der Vorbeugung, d.h. die damit verbundenen konkreten sexuellen Details, waren die hohen Herrschaften in keiner Weise vorbereitet. (Es waren tatsächlich nur Herren.) Da die AIDS-Prävention unter dem Namen Safe Sex zuerst von schwulen Ärzten für schwule Männer entwickelt worden war, und mein Vortrag sich auch darauf konzentrierte, führte er meine zuhörenden Zuschauer in gewisse intime Aspekte einer Welt ein, die zwar in San Francisco allgemein bekannt war, von der sie aber in Genf am liebsten gar nichts erfahren hätten. Dazu kamen noch Projekte von Sadomasochistenclubs und in der Prostitutions- und Drogenszene, von denen ich ebenfalls berichten und Illustrationen zeigen konnte. All das war für mein damaliges Publikum einfach zu viel.

Berichte von diesem Skandal machten aber schnell die Runde, so dass ich mit meinen Dias bald in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland in immer größere, immer vollere Säle eingeladen wurde. Wie ich mich erinnere, machte ich auch ein entsprechendes kurzes Video für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln. Es folgte eine aufregende, hektische Zeit mit vielen Reisen, an deren genaue Abfolge ich mich heute nicht mehr erinnern kann.

Ich weiß aber noch, dass In Bremen in einer Talkshow mit Lea Rosh auftrat und im Berliner Tempodrom und auch in Hamburg an Benefizveranstaltungen zugunsten der AIDS-Hilfe teilnahm. In Hamburg waren bekannte Künstler dabei wie Konstantin Wecker, Wolf Biermann, Lotti Huber und andere. (Vom Hamburger Institut für Sexualforschung erschien leider niemand.) Ich selbst verkündete auf der Bühne, ich habe etwas für schwulen Sex mitgebracht und warf dann Kondome als Mannesmann-Röhren ins johlende Publikum. Das Hamburger Gesundheitsamt bat mich daraufhin, ein Tonband über den Kondomgebrauch zu besprechen, das telefonisch frei abgehört werden konnte.

Bald kam ich auch mit Vertretern verschiedener politischer Parteien ins Gespräch, z.B. in Nürnberg bei einer Tagung der Grünen, denen ich einen Text für ihre Aufklärungsbroschüre schrieb. (31) Für die SPD nahm ich in Bonn an einer Diskussion in ihrer Baracke teil. (32) Zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Rolf Rosenbrock besuchte ich auch den SPD-Bundesvorsitzenden Hans-Jochen Vogel, der daraufhin eine AIDS Enquète-Kommission anregte, die auch zustande kam. (Da ich noch in den USA lebte, kam ich selbst als Teilnehmer nicht in Frage.) Durch den SPD-Politiker Volker Hauff bekam ich dann Verbindung zur Zeitschrift Die Neue Gesellschaft /Frankfurter Hefte, für die ich zwei Beiträge über AIDS verfasste. (33) Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich in einer Berliner Aufklärungsaktion, zusammen mit den bekannten Politik-Persönlichkeiten Walter Momper (SPD) und Hanna-Renate Laurien (CDU), vor dem KaDeWe Kondome an die Passanten verteilte.

Drei Publikationen zum Thema AIDS

Mit Beginn der AIDS-Krise begann ich eine Reihe von Veröffentlichungen zum Thema in
englischer, deutscher und italienischer Sprache. Dabei wandte ich mich in Büchern,
wissenschaftlichen Zeitschriften, Zeitungen und populären Massenmedien
an sehr unterschiedliche Lesergruppen für sehr unterschiedliche Zwecke.
Hier eine etwas willkürliche kleine Auswahl meiner deutschen Publikationen.
(Alle drei Titel entstanden noch in San Francisco.)

1. E. J. Haeberle: Die erste, besonders für Heterosexuelle geschriebene Safer Sex-Broschüre
(24 Seiten). Sie war mitten im Centerfold-Foto des Männer-Magazins Penthouse
eingeheftet und konnte leicht herausgenommen werden. Deutsche Ausgabe April 1986

2. E. J. Haeberle u. A. Bedürftig, Hg.: AIDS: Beratung, Betreuung, Vorbeugung - Anleitungen für die
Praxis, Mit einem Geleitwort von Ulf Fink, Berlin, de Gruyter 1987. (433 Seiten)

3. E. J. Haeberle, Safer Sex, Heyne Taschenbuch, 1987 (91 Seiten)

Irgendwann in dieser Zeit schrieb ich auch einen Artikel über die AIDS-Vorbeugung für eine italienische Vierteljahrsschrift. (34) Vielleicht war es diese Publikation, die mir drei Einladungen nach Italien einbrachte; so genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls war dies mein Thema in Modena, Rom und Mailand. An der Universität von Modena reagierten die Zuhörer höflich, wenn auch ziemlich verstört. In Rom sprach ich vor einem verständigen Ärztepublikum, kurioserweise im Ospedale di Santo Spirito, in dessen altehrwürdigen Mauern wohl zum ersten Mal jemand vom Katheder aus für den Gebrauch von Kondomen warb. An der Universität Mailand aber gab es einen regelrechten Eklat. Mein Vortrag war im Corriere della Sera angekündigt worden und zog ein großes Publikum an. Organisator war der in Italien sehr bekannte Prof. Carlo Lorenzo Cazzullo (1915-2010). Da sich in Norditalien die meisten AIDS-Patienten angeblich über den Drogengebrauch infiziert hatten, brachte ich aus San Francisco einen dokumentarischen Lehrfilm unseres Institutes mit. Er zeigte den Kondomgebrauch eines drogenabhängigen heterosexuellen Paares. Kaum aber waren die ersten Szenen angelaufen, unterbrach mich der Gastgeber, ließ den Film ausschalten, erklärte die Veranstaltung für beendet, verließ den Saal und ließ mich und das Publikum schockiert und ratlos zurück. Einige der anwesenden Ärzte und Medizinstudenten nahmen mich dann mit in ein ruhiges Weinlokal und erklärten mir, der Professor sei ein frommer Katholik, und ihm passe die ganze Richtung nicht. Leider aber sei er verantwortlich für die AIDS-Bekämpfung nicht nur in Mailand, sondern in der gesamten Lombardei. Es war für mich eine interessante Lektion über die psychologischen und sozialpolitischen Schwierigkeiten bei der AIDS-Vorbeugung.

Auch an unserem kalifornischen Stamm-Institut verfolgte mich das Thema weiter. So kam z. B. der gesamte Gesundheitsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zu Besuch, für den ich, zusammen mit dem sehr kompetenten und hilfreichen deutschen Konsul vor Ort, ein mehrtägiges Programm organisierte. Diese Berliner Landespolitiker aller Parteien waren von unserem Umgang in San Francisco mit der neuen Epidemie sehr beeindruckt (San Francisco AIDS Foundation, Shanti, Stop Aids Project etc.). Eine wichtige Rolle dabei spielte auch die schwule Ärztevereinigung Bay Area Physicians for Human Rights (BAPHR), die ja die ersten Safe Sex-Empfehlungen entwickelt hatte. Da einer meiner Institutskollegen dort Mitglied war, kannte ich die Gruppierung sehr gut und hatte auch, obwohl Nichtmediziner, schon seit Jahren regelmäßig an ihren Sylvesterfeiern teilgenommen. Außerdem unternahm ich zwei Studienreisen zu den Centers for Disease Control (CDC) in Atlanta GA, die mein Verständnis der Probleme weiter vertieften. Vor allem aber suchte ich auch für mich selber und meinen möglichen Beitrag zur AIDS-Vorbeugung fachmännischen Rat. In diesem Zusammenhang lernte ich noch zwei Persönlichkeiten näher kennen, die für mich sehr wichtig wurden - den Direktor des Gesundheitsamtes von San Francisco, Mervyn Silverman (später Präsident von amfAR) und den Epidemiologen und AIDS-Forscher Don Francis, beide bekannt als unabhängige, kritische Geister. Von ihnen lernte ich in langen Diskussionen sehr viel. Durch die Vermittlung von Dr. Silverman konnte ich dann zusätzlich die AIDS-Programme in Chicago, Minneapolis und Los Angeles besuchen und studieren. Diese Reisen machten mir die verschiedenen Formen und die Dringlichkeit solcher Programme noch einmal sehr deutlich. Die entsprechenden Berichte schickte ich an die schon erwähnte BZgA nach Köln. In San Francisco erlebten wir bald darauf noch die freiwillige Schließung der Schwulenbäder durch ihre Betreiber. Dr. Silverman begleitete mich auch noch nach Berlin zu dem dortigen ersten AIDS-Kongress, veranstaltet von Ulf Fink, dem Senator für Gesundheit und Soziales. Dieser war sofort auf meinen Vorschlag eingegangen, den weltweit ersten Kongress zu den sozialen Aspekten von AIDS zu organisieren. Dabei stand auch ein Vortrag von mir auf dem Programm. (35)

Ein Jahr später, 1988, war es uns von der DGSS möglich, in Düsseldorf einen eigenen Kongress zu organisieren unter dem Thema Sexualwissenschaft und Sexualpolitik / Schwerpunkt: AIDS. Dort hielt ich einen Vortrag unter dem Titel AIDS und die Aufgaben der Sexualwissenschaft, dessen erste Sätze sich leider für Deutschland als prophetisch erweisen sollten:

AIDS ist heute der entscheidende Testfall für die Sexualwissenschaft. Wenn sie diesem Problem gegenüber versagt, dann hat sie ihre Existenzberechtigung verloren. Die bisher noch weitgehend hilflose Medizin kann und wird auch jahrzehntelang weiter Niederlagen gegen diese Krankheit überleben. Die Psychologie und die Pädagogik, die Soziologie, die Jurisprudenz, die Ökonomie und die Politikwissenschaft - obwohl alle gefordert - können sich dieser Forderung noch auf lange Zeit ungestraft entziehen. Ihr Überleben hängt weder wissenschaftstheoretisch noch praktisch-institutionell davon ab, wie sie mit AIDS fertig werden. Die Sexualwissenschaft aber, die, an nur wenigen Universitäten widerwillig geduldet, ohnehin eine allgemein beargwöhnte Kümmerexistenz fristet, muss nun ihren Wert beweisen, oder sie wird verdientermaßen von der akademischen Szene verschwinden.

Währenddessen kämpfte nicht nur unser Institut in San Francisco schon einige Jahre an vorderster Front für die AIDS-Prävention. Auch viele meiner amerikanischen Kollegen engagierten und profilierten sich in diesem Kampf, so etwa Eli Coleman an der University of Minnesota und Milton Diamond an der University of Hawai'i.

Irgendwann in dieser Zeit wurde ich auch an die Universität Bielefeld eingeladen, wo ich vor einem großen Studentenpublikum über AIDS-Vorbeugung sprach. Ich erinnere mich zwar an das genaue Datum nicht mehr, aber umso bestimmter an ein Treffen mit dem Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann und seinen Mitarbeitern. Besonders wichtig aber war mir ein Besuch bei dem Soziologen Niklas Luhmann, der mich zu einem längeren Gespräch in seinem Hause empfing. Er bleibt mir als ein äußerst höflicher und feinfühliger Mann im Gedächtnis, der dann auch einen Beitrag zu einem unserer DGSS-Sammelbände schrieb. (36)

Für alle meine Aufklärungsaktivitäten in Deutschland nahm ich mir Urlaub von unserem Institut in San Francisco. Von einigen formellen Einladungen abgesehen, zahlte ich dabei meine Reise- und Hotelkosten immer selbst, und zwar aus Überzeugung, denn AIDS war für mich längst kein abstraktes Thema mehr. Einige meiner engsten Freunde waren inzwischen daran gestorben, und gute Kollegen waren bereits erkrankt. Überhaupt wurde die Epidemie in den USA sehr schnell immer bedrohlicher, und die Politik reagierte viel zu langsam und uneinheitlich. Während es in San Francisco relativ bald sinnvolle Programme gab, sah die Lage in New York völlig anders aus. Dort mussten Betroffene und Besorgte wie etwa der bekannte Autor Larry Kramer und seine Gay Men's Health Crisis (GMHC) schwer kämpfen, um überhaupt offiziell Gehör zu finden. Wie erbittert dieser Kampf war, geht aus meinen Berichten an die bereits erwähnte BzgA in Köln hervor. In Deutschland konnte ich hoffen, noch etwas zu einer rechtzeitigen Präventionspolitik beizutragen. Ich schrieb also weitere Aufsätze für verschiedene Zeitschriften und für den Sender Freies Berlin (SFB) auch die erste deutsche Schulfunksendung zum Thema. (37) Außerdem erschien von mir in der Wochenzeitung DIE ZEIT ein 5-seitiger Artikel über AIDS, der auf der Titelseite begann und viel Aufsehen erregte. In Berlin suchte ich, zusammen mit dem Filmemacher Rosa von Praunheim, den Gesundheitssenator Ulf Fink (CDU) auf. Wir schlugen ihm verschiedene Maßnahmen vor, die er auch durchaus vernünftig fand und praktisch in Angriff nahm.

Bald erhielt ich auch einen Termin bei der Gesundheitsministerin Prof. Rita Süssmuth in Bonn, die bereit war, die erfolgreiche Präventionspolitik San Franciscos zu übernehmen. Sie wurde dabei von einem offen schwulen, überraschend gut informierten Mitarbeiter beraten, den ich bei dieser Gelegenheit kennen lernte. Wie sich herausstellte, lagen wir beide völlig auf einer Linie. Das galt auch für einige Fachleute in der Konrad-Adenauer-Stiftung, die sich vor Ort längst ein eigenes Bild gemacht hatten, und mit denen ich in diesem Zusammenhang ebenfalls sprechen konnte. Die Ministerin und andere in der CDU trafen aber auf Widerstände vonseiten der CSU. Der bayerische Landespolitiker und Jurist Dr. Peter Gauweiler, schlecht beraten von einem schwedisch-deutschen Arzt namens Michael Koch, warb für verschiedene medizinische Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung der neuen, unheimlichen Krankheit. Um diese sinnlosen Maßnahmen zu verhindern, nahmen mich der Senator Fink und die Bundesministerin Süssmuth mit ins Fernsehen zu live Talkshows, einmal sogar mit Peter Gauweiler als Gegenüber, wo wir gegen die bayerischen Pläne argumentierten und am Ende wohl auch die Zuschauer überzeugten. Jedenfalls folgte die Bundesregierung bald darauf konsequent der amerikanischen Linie, die sich dann auch als richtig und erfolgreich erwies.

Außerdem nahm ich auch noch in München an einer Gesprächsrunde mit Peter Gauweiler teil, die von der Süddeutschen Zeitung organisiert wurde. (38) Hartnäckig, wie ich war, bat ich ihn anschließend noch um einen Termin in seinem Büro. Er empfing mich denn auch zu einem Gespräch unter vier Augen und erwies sich dabei als höflicher, korrekter und durchaus sympathischer Gegner. Aber keiner von uns beiden konnte den anderen von seiner Meinung überzeugen. Sein Berater Michael Koch war übrigens privat ebenfalls recht umgänglich. Es ergab sich mehrfach, dass ich in verschiedenen Städten mit ihm ein Bier trinken ging. Er war eigentlich ein Kumpeltyp, amüsant und gemütlich und sicherlich auch ein sehr guter Landarzt in Schweden. Leider verstand er - wie viele Ärzte - gar nichts vom menschlichen Sexualverhalten, und deshalb waren auch seine Ratschläge für Herrn Gauweiler falsch.

Ich erwähne diese Einzelheiten, weil ohne sie das Folgende unverständlich wäre: 

Plötzlich und unerwartet erschien 1986 an allen deutschen Zeitungsständen eine Sondernummer der Zeitschrift KonkretOperation AIDS: Das Geschäft mit der Angst. Sexualforscher geben Auskunft. (39) Es war eine Sammlung polemischer Aufsätze aller damals führenden deutschen Sexologen - Dokumente der Ignoranz, Verdrängung und Verharmlosung ohne einen einzigen praktischen Vorschlag zur Vorbeugung und Bekämpfung. Kurz, es war die ungewollte, aber unleugbare und schwarz auf weiß gedruckte Bankrotterklärung der deutschen Sexualwissenschaft. Sie gipfelte in dem bizarren Satz von Günter Amendt: ‚Safe-Sex ist Ausdruck des US-amerikanischen Moral-Imperialismus. (Siehe Anhang). Das Schlimmste aber war ein Beitrag von Volkmar Sigusch, in dem er mich persönlich angriff und versuchte, mich als eine Art akademischen Hochstapler hinzustellen. Er hatte auch schon vorher versucht, mich in der Fachzeitschrift Sexualmedizin zu diskreditieren. Diese hatte aber nur einen begrenzten Leserkreis, und viele ihrer Leser kannten mich gut genug, um Sigusch nicht ernst zu nehmen.

Der neue Fall wog aber schwerer, denn jeder Uninformierte konnte an jedem Zeitungskiosk ein Konkret-Heft kaufen. Seine wiederholten Angriffe waren umso seltsamer, als wir beide Mitglieder der International Academy of Sex Research (IASR) waren, die nur ausgewiesene Fachleute aufnahm. Er wusste auch, dass ich bereits Gastprofessor an den medizinischen Fakultäten der Universitäten Kiel und Genf gewesen war und jedes Jahr von der Gesellschaft für praktische Sexualmedizin als Referent zu ihren Fortbildungstagen in Heidelberg eingeladen wurde. Außerdem lag zu dieser Zeit ja schon die deutsche Übersetzung meines Lehrbuchs in den Buchhandlungen, und viele andere meiner Publikationen waren auch in deutschen Bibliotheken vorhanden. So waren seine hämischen Herabsetzungen meiner Arbeit für jeden Kenner leicht als Neid und Angst vor Konkurrenz zu durchschauen. Sein neuester Angriff aber richtete sich konkret an die gesamte deutschsprachige Öffentlichkeit. Er war auch deshalb besonders peinlich, weil ja einige prominente Politiker schon öffentlich mit mir aufgetreten waren. Diese mussten nun also um ihren eigenen Ruf fürchten, wenn sie einem Schwindler wie mir aufgesessen waren. Also blieb mir nichts anderes übrig, als diesen Politikern, vor allem dem Senator Fink und der Ministerin Süssmuth, für alle Fälle und zu ihrem eigenen Schutz, meine Personalpapiere zuzuschicken. Ohne den Verleumdungsversuch von Herrn Sigusch hätte es ja dazu keinen Anlass gegeben.


Von San Francisco zurück nach Deutschland

Kaum waren meine Papiere in Berlin und Bonn angekommen, so erhielt ich von dort - und sogar noch von der Stadtverwaltung in Hamburg - Stellenangebote, denn keiner meiner deutschen Gegner hatte auch nur annähernd eine vergleichbare akademische Laufbahn vorzuweisen, wie z. B. insgesamt fünf Jahre Studium und Forschung an drei amerikanischen Eliteuniversitäten (Cornell, Yale, UC Berkeley), mehrjährige wissenschaftliche Mitarbeit am Kinsey-Institut, Gastprofessuren in drei Ländern (Deutschland, USA, Schweiz), ein in vier Sprachen verfügbares Lehrbuch und weitere wissenschaftliche Publikationen in insgesamt sechs Sprachen usw.. Allerdings hatte ich wenig Lust auf eine Rückkehr nach Deutschland, denn ich genoss mein gutes Leben in Kalifornien. Im Laufe der Jahre hatte ich ja den Staat mit guten Freunden immer wieder per Auto erkundet, und zwar in seiner ganzen Länge und Breite von Süden nach Norden und umgekehrt - von San Diego und Los Angeles über San Simeon und Hearst's Castle, an der Küste entlang über Big Sur, Carmel und Monterey nach Palo Alto und San José bis zum Yosemite Valley, nach Modesto, Sonora und den historischen Goldgruben, nach Sacramento, Lake Tahoe, Santa Rosa, den Redwoods, Napa Valleyund dem Valley of the Moon und zurück nach Sonoma und Marin County. Schon allein die Aufzählung dieser Namen weckt in mir jetzt wieder lange schlummernde, beglückende Empfindungen. Wie oft hatten wir in den typisch kalifornischen, luxuriös-bequemen Golfclub- und Resort Hotels Urlaub gemacht! Selbst heute, da ich in der schönsten und wärmsten Gegend Deutschlands wohne, überwältigt mich noch manchmal die Erinnerung an diese wunderbare Zeit, und dann packt mich wieder das Heimweh nach dem "Golden State California".

Und nun erst San Francisco selbst, die schönste Stadt der Welt! Ihre einzigartige Lage in einer geschützten Meeresbucht, ihr ideales Klima und ethnische Vielfalt mit eigenen chinesischen, japanischen, mexikanischen und italienischen Vierteln, mit vorzüglichen Restaurants, den grandiosen innerstädtischen Erholungsgebieten Presidio und Golden Gate Park und seinen Museen, dann Lincoln Parkund Sutro Heights und ihren atemberaubenden Aussichten auf die Golden Gate Bridge und den Pazifik, mit seinen modernisierten Piers vom Maritime Museum am Ghirardelli Square vorbei an der Cannery und Fisherman's Wharf bis zum Embarcadero und Ferry Building. Wie oft waren wir über die Bucht mit der Fähre nach Tiburon und Sausalito zum Essen gefahren! Wie oft hatten wir den unvergesslichen Fernblick auf die Stadt genossen, die wie eine märchenhafte Fata Morgana aus dem Meer aufzusteigen schien! Unsere Stadt mit ihrer freundlich entspannten, pittoresken Einkaufsstraße Union Street und dem langen Uferweg im Marina District bis zum Palace of Fine Arts! Wie oft haben wir uns daran auf langen Spaziergängen erfreut! Und dann der historische Union Square im Zentrum, umgeben von großen Hotels und Geschäften in unmittelbarer Nachbarschaft zum Theaterviertel, wo Klassiker, aktuelle Stücke und Musicals gespielt wurden! Und das neue Konzerthaus für die San Francisco Symphony (damals geleitet von Seiji Ozawa und Herbert Blomstedt)! Und dann hatten wir beide auch noch ein Dauerabonnement an unserem Opernhaus, in dem Jahr für Jahr die bekanntesten Weltstars auftraten! (40)

Unser San Francisco


Foto: Wikimedia Commons

Stadtsilhouette in den 70er und 80er Jahren als wir in San Francisco wohnten.

Die wunderbare Stadt, die wir so liebten, gibt es nun leider nicht mehr: Inzwischen ist die obige Ansicht durch einen zentral platzierten Wolkenkratzer verschandelt worden, der mit seinen über 300 m etwa 100 m höher als das damals höchste Gebäude (die Bank of America, hier als brauner Klotz erkennbar). Der neue, schlanke Turm mit seiner enormen Höhe und gläsernen Fassade ist ein unpassender Fremdkörper - eine Bausünde, die San Franciscos unwürdig ist. Uns war dieser Anblick damals glücklicherweise erspart geblieben.

Ein weiterer Skandal besteht darin, dass es sich bei diesem Salesforce Tower um ein reines Bürogebäude handelt, das keinerlei Erleichterung für den überhitzten Wohnungsmarkt bringt und für die Büroarbeiter zusätzlichen Pendelverkehr notwendig macht. In der Stadt selbst ist das Wohnen für Normalbürger längst unerschwinglich geworden. Die neuen Milliardäre und Multimillionäre im nahen Silicon Valley zahlen unbedenklich jeden verlangten Preis für eine Wohnung in der Stadt. (Die Miete für unsere damalige, luxuriöse Wohnung hat sich verzehnfacht und steigt weiter.)

Es steht zu befürchten, dass die Skyline von San Francisco am Ende genauso banal und verwechselbar aussieht wie die von Miami, Houston, Duluth und Pittsburgh, ja noch schlimmer, auch wie die von Hong Kong, Chengdu, Tianjin, Chongqing, Seoul, Manila, Osaka und vielen anderen asiatischen Städten - eine weltweite elende Gleichmacherei, die jeden eigenen städtischen Wesenszug auslöscht.

Wenn überhaupt, dann hätte man den Büroturm aus rein praktischen Gründen in San José bauen müssen, wo außerdem die Erdbebengefahr viel geringer ist. Diese bisher eigentlich gesichtslose Stadt hat immerhin einen eigenen Flughafen und liegt sehr viel näher am Silicon Valley als San Francisco, wo mittlerweile aber schon weitere, viel zu hohe architektonische Allerweltstürme geplant sind. Für die Investoren ist eben hier etwas anderes entscheidend: Der Mythos, die Magie und das Flair der Stadt am Goldenen Tor, also gerade das, was sie nun mit ihrem Geld zerstören.

Gene hat einen jüngeren Bruder im Silicon Valley (Sunnyvale), den er jeweils im Herbst besucht, und was er mir danach berichtet, klingt jedes Mal schlimmer: San Francisco hat jetzt viele tausend Obdachlose, die sich ihr früheres Zuhause nicht mehr leisten können. Viele von ihnen hatten vormals ärztlich verschriebene Schmerzmittel (Opioide) eingenommen und waren von diesen abhängig geworden. Nun sind sie süchtig und konsumieren notgedrungen billigere „Straßendrogen“ (zumeist Heroin). Ihr trauriger Anblick und der Schmutz, den sie hinterlassen, beeinträchtigen bereits heute das Tourismusgeschäft. Das zeigt sich u.a. auch daran, dass jetzt immer öfter große Kongresse abgesagt werden. Die Stadt kann ihren Obdachlosen nicht wirklich helfen, muss aber trotzdem jährlich etwa 300 Millionen Dollar an Straßenreinigung und verschiedenen Hilfsprogrammen für sie aufbringen – ein weiteres Beispiel dafür, wie ein ungezügelter Kapitalismus seinen Gewinnern erlaubt, die von ihnen verursachten sozialen Kosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Für San Francisco ist die Situation im Grunde ausweglos, denn die häufigen Verstöße der Obdachlosen gegen Verordnungen und Gesetze können nicht mehr geahndet werden. Geldstrafen können sie nicht bezahlen, und sie einzusperren, würde die Stadt noch mehr kosten. So entstehen immer größere verdreckte, rechtsfreie Räume.

Aber zurück zu damals: Es war nicht nur die Stadt selbst, die mich borbehalten warenezaubert gefangen hielt. Dazu kamen noch unser aufregend anregendes, innovatives Institut, meine interessanten Kollegen und guten Freunde, unsere große, bequeme Wohnung mit herrlicher Aussicht, Fitness-Raum, Sauna und Schwimmbad im Hause - all das konnte mir in der alten Bundesrepublik niemand bieten. Außerdem: Gene besaß auch ein schönes Haus mit Garten im damals noch recht ländlichen Modesto, in dem wir zum Auspannen immer wieder einmal mehrere ruhige Tage oder eine ganze Woche verbrachten. Er verkaufte es nach seinem Umzug nach Berlin.

Unsere Wohnung in San Francisco
Cathedral Hill, 1100 Gough Street

 

Von unserer großen Wohnung mit einem Gästezimmer und zwei Badezimmern hatten wir
eine herrliche Aussicht auf die Innenstadt. Schwimmbad, Sauna und Fitnessbereich befanden sich
in einem Anbau zu ebener Erde.
Links: Das Gebäude mit Blick auf die katholische St. Mary’s Kathedrale.
Rechts: Teilansicht unseres Schwimmbades mit Jacuzzi.

Andererseits aber eröffnete sich nun vielleicht eine Chance, die Sexualwissenschaft irgendwie doch wieder an ihren Geburtsort Berlin zurück zu bringen. So entschied ich mich 1988 nach langem Zögern und mit einigen Zweifeln, ein Angebot des Bundesgesundheitsamtes (BGA) anzunehmen und kehrte damit nach insgesamt 23 Jahren aus den USA zurück. Vorsichtshalber behielt ich aber noch meine Wohnung in San Francisco, hielt mir dort alle Optionen offen und verbrachte auch alle Urlaube in meinem vertrauten kalifornischen Zuhause. In Berlin hatte ich, sozusagen auf Abruf, nur einfach möbliert gemietet, denn das erste Jahr meiner Anstellung galt ja formal ohnehin noch als Probezeit. Ich hatte also Muße genug, mir ein endgültiges Urteil zu bilden. Beim Ablauf dieses Jahres jedoch bekam ich von höheren Mächten eine deutliche Botschaft: Kurz hintereinander gab es in San Francisco ein schweres Erdbeben, und in Berlin wurde die Mauer geöffnet. Damit war die Entscheidung gefallen. Jetzt war ich wieder einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und das verdankte ich im Grunde niemand anderem als Herrn Sigusch, dem ich mich dafür noch heute verpflichtet fühle.

Unsere Wohnung in Berlin
Fasanenstr. 62

Oben links: Blick auf unser Gebäude vom Fasanenplatz. Unsere Wohnung ist die zweite von oben (6. Etage) mit zwei runden Erkern. Oben links ist der erste, weiter rechts der zweite, aber der sich daran anschließende Balkon ist hier durch die Blätter eines großen Baumes verdeckt.
Unsere asiatischen Möbel hatten wir aus San Francisco mitgebracht.
Oben rechts: Eine runde Ecke unseres Wohnzimmers.
Unten: Ich sitze hier auf dem Sofa in einem unserer Erker.


Unsere Wohnung in Berlin
Ende 1989 - Ende 2012

Von oben links: Mein Partner Gene am Esstisch und in unserem Wohnzimmer.
Mitte: Ausblicke auf den winterlichen Fasanenplatz: 1. Von meinem Schreibtisch aus
2. Von unserem Speiseraum.
Unten: Gene in der ersten Frühlingssonne auf unserem Balkon.

Nach seiner Frühpensionierung als Lehrer zog Gene auf Dauer zu mir nach Berlin und half mir als unbezahlter "Forschungsassistent". Seither begleitete er mich auch auf allen Auslandsreisen. Vor meiner Abreise aus San Francisco erhielt ich noch einen Brief aus Schanghai von einem mir unbekannten Prof. Liu Dalin. Er fragte mich, ob ich bereit wäre, an der dort geplanten ersten landesweiten Sexualumfrage mitzuarbeiten. Wie er an meine Adresse kam, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls schickte ich ihm sofort meine grundsätzliche Zusage. Von Berlin aus antwortete ich ihm dann ausführlicher und erhielt auch ausführliche Antworten.

Zunächst aber galt es, sich in meiner neuen beruflichen Umgebung zurecht zu finden. Anders als ich erhofft hatte, wurde ich beim Bundesgesundheitsamt (BGA) nicht als Sexualwissenschaftler, sondern als Direktor für Information und Dokumentation in einem neu geschaffenen AIDS-Zentrum eingestellt. Im Grunde lief es darauf hinaus, dass ich mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) zusammenarbeiten, Informationsmaterialien entwickeln, Berichte schreiben, Anfragen beantworten und eine entsprechende Forschungsbibliothek aufbauen sollte, was ich natürlich auch gerne tat. Aber mit Sexualwissenschaft hatte das eigentlich wenig zu tun. Immerhin gelang es Rolf Gindorf und mir, im Juni 1988 in Düsseldorf einen DGSS-Kongress zu organisieren, der sich unter dem Titel Sexualwissenschaft und Sexualpolitik. u.a. auch mit dem aktuellen Thema AIDS befasste. Der erweiterte Kongress-Sammelband erschien dann später in unserer Schriftenreihe zu Beginn meiner Gastprofessur an der Humboldt-Universität. Er enthielt Beiträge aus Deutschland, Österreich, Tschechien, China, Hong Kong, den Niederlanden und den USA.

1. Eine erste Verbindung nach China

Unter den Umständen kam mir die chinesische Einladung sehr gelegen. Wie sich allmählich herausstellte, handelte es sich um ein inoffizielles, rein privat finanziertes Projekt, das in großen Teilen Chinas möglichst viele Fragebögen an möglichst viele Personen in wichtigen Bevölkerungsgruppen verteilen wollte und so auf brauchbare Basisinformationen hoffte. Zumindest wollte man Genaueres über das Sexualverhalten von Jugendlichen, Ehepaaren, Soldaten und Straftätern erfahren. Dafür hatte man auch entsprechende Unterstützer innerhalb dieser Gruppen gewonnen, was mir in Falle der Armee und des Strafvollzugs sehr ungewöhnlich vorkam. Mein Beitrag sollte vor allem in der Gestaltung der Fragebögen und der Schulungsmaterialien für die Mitarbeiter bestehen. Da ich Chinesisch weder las noch sprach, war das sicherlich ein schwieriges Unterfangen, denn ich würde dabei vollständig auf Übersetzer und in China vor Ort auf Dolmetscher angewiesen sein.

Ich besprach dann die ganze Angelegenheit mit dem Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, Prof. Dieter Großklaus. Er war selbst kurze Zeit vorher in China gewesen und sah eine Chance, die soeben geknüpften Verbindungen zu vertiefen. Deshalb ermunterte er mich zu einer Dienstreise, bei der ich der Sache auf den Grund gehen könnte. So flog ich im Mai 1989 nach Schanghai und wurde dort von Prof. Liu am Flughafen abgeholt, der mich mit Auto und Fahrer sofort in mein Wohnquartier in der Stadt brachte. Der Flughafen selbst war eine Ansammlung von Holzbaracken, und die Stadt machte im Vorbeifahren einen grauen, heruntergekommenen Eindruck, der mich stark an Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR erinnerte. Man sah auch nur wenige Autos, stattdessen aber hunderte von Frauen und Männern auf Fahrrädern – alle in der gleichen dunkelblauen Kleidung.

Das Shanghai College of Traditional Medicine


Im Studentenheim dieser Hochschule wohnte ich während meines Besuchs.

Ich wurde in einem Studentenheim untergebracht, fand aber nur wenig Schlaf, denn die ganze Nacht über lärmten Studenten mit irgendwelchen Demonstrationen, deren Sinn ich nicht kannte. Am Tage erfuhr ich dann, völlig überrascht, dass nicht nur in Schanghai, sondern auch in Peking und anderen Städte Chinas eine Art Ausnahmezustand eingetreten war. Bald demonstrierten auf den Straßen nicht nur Studenten, sondern ganze Fabrikbelegschaften und legten den Verkehr lahm. Im Fernsehen liefen live Diskussionen zwischen Demonstranten und Regierungsvertretern. Ich verstand natürlich kein Wort, ließ mir aber erklären, dass hier eine große Unzufriedenheit bei der Bevölkerung zum Ausdruck kam, die auf grundlegende Reformen drängte. Die vorgesehenen Treffen mit den Mitarbeitern unserer geplanten Sexualumfrage gestalteten sich als schwierig, denn auch die Universitäten wurden bestreikt. Trotz allem gelang es uns aber, unser Programm mehr oder weniger erfolgreich durchzuführen. Den genauen Verlauf hielt ich dann in einem Reisebericht fest.

Die erste landesweite Sexualumfrage in China

  

Links: Mit Prof. Liu und einem Dolmetscher bei der Vorstellung
des Forschungsprojekts in der Shanghai Academy of Social Sciences.
Rechts: Besuch beim Zentrum für Familienplanung in Schanghai. Neben mir Herr Wang Zhong, der, soeben aus den USA zurückgekehrt, ein aktuelles Video über AIDS produziert hatte. Es war wissenschaftlich und technisch auf dem damals neuesten Stand.

Besonders gut in Erinnerung ist mir der Besuch eines Muster- und Vorzeigegefängnisses für jugendliche Straftäter, das in der Tat einen vorbildlichen Eindruck machte. Die Jugendlichen saßen zumeist wegen verschiedener Gewaltdelikte ein wie Raub, Körperverletzung oder Vergewaltigung. Das Gefängnis bot ihnen Ausbildungen in verschiedenen Handwerksberufen oder, bei entsprechendem Talent, auch in der bildenden Kunst und Musik. Außerdem hatten sie eine eigene Fußballmannschaft, die außerhalb gegen reguläre Jugendmannschaften spielte. Der Direktor führte mich persönlich herum, denn er wollte unsere Umfrage soweit wie möglich unterstützen. Er war ein kluger, ungewöhnlicher Mann, der unseren Mitarbeitern erlaubte, unsere Fragebögen an alle seine Häftlinge zu verteilen, anonym ausfüllen zu lassen und wieder einzusammeln. Sicherlich war sein Gefängnis untypisch, und zwar nicht nur für China.

  

Von links: 1. In Schanghai mit dem Gefängnisdirektor, Herrn Zhu.
2. In Hangzhou mit Prof. Gu

Schließlich fuhr man mich noch in die damals verschmutze, chemisch verpestete, ehemals als paradiesisch berühmte Stadt Hangzhou am noch berühmteren West-See. Es war eine deprimierende Erfahrung. Dennoch wichtig war ein Gespräch mit Prof. Gu Ying Chun vom Soziologischen Forschungsinstitut der Zhejiang Social Science Academy. Prof. Gu war ein in China wohlbekannter Hegel-Forscher, der auch schon eine Konferenz über das Werk Max Webers organisiert hat. Sein Interesse an der chinesischen und deutschen Sexualforschung rührt aber von seiner wichtigen Position in der chinesischen Frauenforschung her. Das Gespräch drehte sich um den notwendigerweise interdisziplinären Charakter der Sexualforschung und um die Betonung der gesellschaftlichen und historischen Aspekte. Hier stellten wir eine große Übereinstimmung fest.

Als ich dann von Schanghai über Hong Kong nach Berlin zurückflog, dauerten die Unruhen in China noch an. Kaum zwei Wochen später, beim Welt-AIDS-Kongress in Montréal, sah ich am Fernsehbildschirm meines Hotelzimmers die Niederschlagung der Proteste in Peking.

Ich befürchtete dann, dass unsere Arbeit vergeblich gewesen war, und dass die Umfrageergebnisse niemals im Druck erscheinen würden. Aber da hatte ich meine chinesischen Kollegen unterschätzt. Insgesamt waren über 20 000 Fragebögen ausgefüllt und analysiert worden, und so erschien unser Werk 1992 als umfangreiches Buch voller Statistiken zuerst in chinesischer, dann fünf Jahre später, in der Bearbeitung von Man Lun Ng und mir selbst, auch in englischer Sprache. Beide Fassungen enthielten mein Vorwort. (41)

Deutsche Sexualwissenschaftler in Schanghai 1931 und 1989

Oben: Magnus Hirschfeld (Mitte) mit dem Schanghaier Frauenclub 1931.
Unten: An der Shanghai Academy of Social Sciences 1989, E.H. Haeberle (Mitte) und Liu Dalin
(rechts hinter ihm) und die Hauptmitarbeiter der ersten landesweiten Sexualumfrage in China.

Seither hat sich in China sehr viel zum Besseren gewandelt, und das spiegelte sich nach und nach auch in meinen späteren Reiseberichten wider. (Diese weiteren Reisen wurden privat von mir selbst oder von meinen chinesischen Gastgebern bezahlt.) Der enorme wirtschaftliche Aufschwung des Landes machte allerdings auch unsere damaligen Forschungsergebnisse sehr bald hinfällig. Wie heute selbst der flüchtigste Beobachter sieht, hat sich in Chinas Städten durch offensichtliche westliche Einflüsse auch das Sexualverhalten gründlich geändert. Außerdem: In Hangzhou und am West-See mit seinem Weltkulturerbe ist die Luft wieder rein. Die alte Schönheit ist zurückgekehrt, und wieder kommen Besucher aller Welt, um sie zu sehen. Die frühere britische Kolonie Hong Kong gehört wieder zu China, und Schanghai, mit über doppelt so vielen Einwohnern und mehr und höheren Wolkenkratzern als New York, ist nun die modernste, aufregendste Stadt der Welt. Aber zunächst noch einmal zurück nach Berlin:

2. Zusammenarbeit mit Kollegen in Berlin

Am 9. November 1989 öffnete sich die Berliner Mauer, und damit ergab sich eine weitere Möglichkeit, sexualwissenschaftlich aktiv zu werden. Die schon erwähnte International Academy of Sex Research (IASR), hatte im Voraus beschlossen, ihre nächste Jahrestagung 1990 an der Charité in Berlin abzuhalten. Gastgeber sollte der Hormonforscher Prof. Günter Dörner sein, wie auch ich selbst ein Akademiemitglied, der auch schon entsprechende Vorbereitungen traf. Plötzlich aber wurde der Tagungsort von Berlin nach Sigtuna in Schweden verlegt. Der Grund dafür wurde mir niemals klar, ich vermutete aber, dass er mit dem Widerstand einiger deutscher Akademiekollegen gegen Dörner zusammenhing.

Ich selbst hatte ihn einige Jahre vorher zum ersten Mal bei einem der sexualmedizinischen Fortbildungstage in Heidelberg getroffen. Das muss in einem Juni gewesen sein, denn dort fand gerade die jährliche Schwulenparade (Christopher Street Day Parade) statt. Dörner war damals noch DDR-Bürger und verstand sich selbst als Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen. Er schlug deshalb vor, dass wir beide gemeinsam in dieser Parade mitmarschieren sollten. Das taten wir denn auch und unterhielten uns dabei prächtig. So lernte ich ihn gleich von seiner angenehmen menschlichen Seite kennen. Wissenschaftlich war er jedoch unter vielen deutschen Sexologen kontrovers, ja verhasst. Sie verteufelten und verspotteten ihn als Ratten-Dörner, denn er hatte versucht, mit Experimenten an Ratten nachzuweisen, dass Homosexualität durch eine gewisse vorgeburtliche hormonelle Störung entsteht. Für ihn hätte dieser Nachweis eine unverschuldete angeborene Anlage zur Homosexualität bestätigt und damit das beste Argument für eine Abschaffung des berüchtigten § 175 geliefert. Tatsächlich erfolgte die entsprechende Strafrechtsreform in der DDR auch früher als in der BRD.

Die deutschen Kollegen aber sahen das anders, denn Dörner hatte einmal erwogen, dass man mithilfe seiner Forschungen die homosexuelle Veranlagung auch durch frühzeitige medizinische Intervention verhindern könnte. Das trug ihm den Ruf eines intoleranten Konformitätsapostels ein. Was mich selbst betrifft, so hatte ich seine Homosexualitätshypothesen niemals ernst genommen und fühlte mich daher von ihnen auch in keiner Weise bedroht. Alfred Kinsey hatte ja schon viele Jahre vorher die Fragwürdigkeit aller entsprechenden Hormonforschung aufgezeigt. (42) Ich machte Dörner gleich bei unserem ersten Treffen meinen Standpunkt klar. Damit war das Thema zwischen uns abgehakt, wurde nie wieder angesprochen und störte uns nicht mehr bei unserer späteren Zusammenarbeit.

Diese Zusammenarbeit ergab sich 1990 wegen der erst geplanten, dann geplatzten Akademietagung in Berlin. Als ich ihn dabei näher kennenlernte, taten ihm längst seine früheren Überlegungen leid. Ja, inzwischen hatte Dörner der WHO gegenüber die Homosexualität an sich für gesund erklärt und gefordert, sie aus ihrer Liste von Krankheiten, der International Classification of Diseases (ICD) zu streichen. Unter diesen Umständen schienen mir nun die immer noch andauernden Feindseligkeiten gegen ihn reichlich übertrieben. Jedenfalls hatte sich mein Freund John De Cecco, der Herausgeber des Journal of Homosexuality, schon auf eine Auseinandersetzung mit Dörner auf dessen heimischem Territorium gefreut. Andererseits aber plante auch die Deutsche Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS), deren Präsident ich war, einen eigenen Kongress in diesem Jahr. Also suchte ich Günter Dörner in seinem Institut auf, um auszuloten, ob wir vielleicht gemeinsam hier etwas Positives bewerkstelligen könnten. Wir kamen dann bald zu der folgenden Lösung:

Wir würden einen zweiteiligen gemeinsamen Kongress organisieren - den ersten Teil, wie ursprünglich geplant, unter der Leitung von Günter Dörner an der Charité, und den zweiten unter meiner Leitung irgendwo in West-Berlin. Aber wo? Da kam mir eine alte Verbindung zur Hilfe: Die frühere Gesundheitsministerin Prof. Süssmuth war inzwischen Bundestagspräsidentin geworden und damit Hausherrin des Reichstags. Da sie mich kannte, entsprach sie gern meiner Bitte, dort meinen Kongressteil veranstalten zu dürfen. Der sollte nun, zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte, ausschließlich den Bisexualitäten  gewidmet sein, einem Thema, das nicht zuletzt durch die AIDS-Krise aktuell geworden war. Erfreulicherweise wurde unser erster gesamtdeutscher und internationaler Doppelkongress ein voller Erfolg. An der Charité präsentierte De Cecco im Beisein von Dörner seine Kritik an ihm, der sie gelassen ertrug, und die wichtigsten amerikanischen Akademiemitglieder trafen sich auf ihrem Rückflug von Sigtuna sehr gerne im Berliner Reichstag wieder. Er hatte ja für uns alle eine besondere historische Bedeutung. Schließlich war dort 1926 von Albert Moll der letzte deutsche Sexologenkongress eröffnet worden, bevor die Nazis der ganzen Pionierphase unserer Wissenschaft ein Ende machten. Unser eigenes Treffen war übrigens die letzte externe Veranstaltung im alten, zwischenrenovierten Reichstag. Danach wurde er von Christo verhüllt und von Norman Foster umgebaut. Unsere Referate über die Bisexualitäten erschienen in Buchform sowohl in deutscher wie in englischer Sprache. (43) Erwähnen sollte ich auch noch, dass wir bei unserem Berliner DGSS-Kongress zum ersten Mal eine von mir entworfene Hirschfeld-Medaille für Sexualwissenschaft und Sexualreform an verdiente Kollegen verliehen. 1990 waren dies der in Berlin geborene Österreicher Ernest Borneman und der Niederländer Herman Musaph, der als Jude von den Nazis verfolgt worden war. (44)

3.Bisexualitäten-Kongress

Der Kongress Bisexualities im Reichstag 1990


Foto: Milton Diamond

Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) organisierte  ich den ersten wissenschaftlichen Kongress zum Thema Bisexualität. Dafür hatte mir die Bundestagspräsidentin Prof. Rita Süssmuth den Reichstag zur Verfügung gestellt. Somit konnten wir an ein großes historisches Vorbild anknüpfen, denn eben hier hatte 1926 Albert Moll seinen  Ersten Internationalen Kongress für Sexualforschung eröffnen können. Viele Teilnehmer unseres Kongresses waren Mitglieder der International Academy of Sex Research (IASR).
Das Bild zeigt einige von uns während einer Kongresspause:
Erste Reihe von links: Rolf Gindorf,  Erwin J. Haeberle, John Gagnon, Milton Diamond, Richard Green, Martin Weinberg, Günter Dörner, John Money, stehend hinter ihm: Eli Coleman. Ebenfalls stehend zwischen Diamond und Green, Reinhard Wille, und hinter ihm: Theo Sandfort, sitzend vor ihm: Rob Tielman. Sitzend zwischen und hinter Haeberle und Gagnon: A. X. van Naerssen. Die Kongressbeiträge erschienen später in Buchform sowohl in deutscher wie in englischer Sprache.

Unterdessen war, von uns unbemerkt, in Sachen Sexualwissenschaft an der Humboldt-Universität etwas anderes im Gange. Deren erster frei gewählter Rektor, Prof. Heinrich Fink, tat offiziell immer so, als ginge es ihm vor allem um seine Humboldtianer, also die Professoren und Studenten seiner Universität. Tatsächlich aber verhandelte er insgeheim mit externen Sexualwissenschaftlern über eine Neugründung von Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, das 1933 von den Nazis geplündert und geschlossen worden war. Als Ergebnis dieser konspirativen Treffen legten die Externen dann völlig überraschend ein entsprechendes Memorandum vor. Dabei hatte die Humboldt-Universität durchaus interessierte eigene Leute für eine sexologische Neugründung, und zwar nicht nur Günter Dörner, sondern auch den Verhaltensforscher Günter Tembrock, den Entwicklungspsychologen Hans-Dieter Schmidt, den schon erwähnten Philosophen und Begründer der Humanontogenetik Karl-Friedrich Wessel und dessen Assistenten, den Mediziner Hartmut Bosinski.

  
       Günter Dörner (1929 - 2018)       Karl-Friedrich Wessel (1935- )

Als diese Gruppe von Finks heimlichen Manövern erfuhr, fühlte sie sich - völlig zu Recht - hintergangen und bat Bosinski und mich, schnell weitere Memoranden einzureichen, um so eine breitere Diskussion anzustoßen. Beide wurden aber von Fink demonstrativ ignoriert. (45) Ich hatte allerdings als Einziger das von der WHO geforderte Studienfach Menschliche Sexualität vorgeschlagen. (46) Nur dies wäre auf lange Sicht eine Überlebensgarantie für ein neues Institut gewesen. Stattdessen wurde noch einmal der gleiche Fehler gemacht wie vorher in Hamburg und Frankfurt:

Dörner, erbost über die heimliche Verschwörung der HU-Außenseiter, sorgte dafür, dass die Charité schnell eine Professur für Sexualmedizin ausschrieb. Damit war die externe Initiative sofort und für immer erledigt. Warum Fink und seine Mitverschwörer diese unvermeidliche, ja fast automatische Reaktion der Universitätsmedizin nicht vorhersahen, ist mir bis heute unbegreiflich. Vielleicht aber sahen die Mediziner unter ihnen sie doch voraus, wollten in Wahrheit genau dieses Ergebnis und hatten ihre naiven Gefolgsleute bewusst als nützliche Idioten missbraucht. Ich war jedenfalls sehr enttäuscht, obwohl - oder gerade weil - ich selbst keinen persönlichen Vorteil zu erwarten hatte. Ich kam ja schon aus Altersgründen für ein neues, universitäres Institut nicht mehr in Frage. Aber sogar, wenn mein Alter kein Hin-dernis gewesen wäre, hätte ich meine viel bessere Stellung an einem Bundesinstitut niemals für eine Universitätsposition aufgegeben.

Als die Berufung schließlich erfolgte, war ich 60 Jahre alt und saß ich mit meinem Archiv für Sexualwissenschaft bereits auf dem Charité-Gelände in schöneren und größeren Räumen, als die HU mir jemals hätte bieten können. Außerdem hatte ich viel mehr Handlungsfreiheit, keine Lehrverpflichtungen und keine lästigen Verwaltungsaufgaben. Kurz, ich konnte beim Bund für mein Fach mehr erreichen - und erreichte am Ende auch tatsächlich mehr - als das anderswo möglich gewesen wäre.

Ich sah aber mit Betrübnis, dass nun auch an einer Berliner Universität wieder einmal die sexologische Zukunft verbaut wurde. Vergebens suchte ich Dörner klarzumachen, dass die Ausschreibung ein Fehler war, dass die Sexualität keine Krankheit ist, und dass sexualmedizinische Institute auf Dauer nicht überlebensfähig sind. Diese eiserne Regel wird durch ihre einzige Ausnahme bestätigt - das sexologische Institut an der Karls-Universität in Prag, dessen Gründer, Josef Hynie, bei Hirschfeld in Berlin gelernt hatte. (47) Erfahrungsgemäß wird überall sonst in der Welt die Sexualmedizin nach der Emeritierung des jeweiligen Leiters abgewickelt. Die neu verfügbaren Stellen werden dann anderen Abteilungen der medizinischen Fakultät zugeschlagen, wo sie immer dringend gebraucht werden. Mir war dieses Muster schon aus den USA wohlbekannt. In der Tat, unser eigenes Fortbildungsinstitut in San Francisco war eigentlich als Sezession von der medizinischen Fakultät der University of California entstanden.

Herbert E. Vandervoort als sexologischer Pionier an der UC San Francisco


Von links: 1. Prof. Herbert E. Vandervoort (1928-1976).
2. Broschüre von 1972, geschrieben von einigen unserer späteren Institutskolleginnen und herausgegeben von Vandervoort und Ted McIlvenna, der nach Vandervoorts plötzlichem Tod unser Institut gründete.

Als Professor an der medizinischen Fakultät der UC San Francisco, wollte Herbert Vandervoort dort ein eigenes sexologisches Institut gründen, das sich umfassend der sexuellen Gesundheit widmen sollte. Er gehörte u.a. auch zu den Unterzeichnern der WHO-Erklärung von 1975, in der eben dies und ein eigenes Studienfach menschliche Sexualität gefordert wurde. Ich selbst hatte ihn damals kennengelernt und ausführlich mit ihm gesprochen, denn ich schrieb noch an den Schlusskapiteln meines Lehrbuchs. Vandervoort hatte intern und extern ein junges, dynamisches Team um sich versammelt, dem auch ich beitreten sollte. Als er ganz plötzlich im besten Mannesalter starb, waren seine ehrgeizigen Pläne nicht mehr realisierbar. Das Team löste sich auf, und einige davon, wie Lonnie Barbach und Bernie Zilbergeld, machten sich selbständig und waren dann als Therapeuten und Autoren sehr erfolgreich, andere wurden Mitbegründer unseres neuen, privaten Instituts.

Von alledem wollte Dörner aber nichts hören, und mit dem Totschlagargument Hirschfeld war auch Mediziner wischte er meine Bedenken vom Tisch. Die Stelle wurde dann schließlich mit dem sehr tüchtigen Klaus M. Beier besetzt, einem in Kiel gerade habilitierten Sexualmediziner. Ich fürchtete nur, und fürchte noch immer, dass seine berufliche Tüchtigkeit am Ende sein Institut nicht retten wird. Schon jetzt gibt es ein neues warnendes Beispiel: Hartmut Bosinski wurde nach einigen Jahren selbst Professor für Sexualmedizin in Kiel, dann aber aus der Universität hinausgedrängt, und sein Fach wurde kurzerhand von der Psychiatrie übernommen.

Heinrich Fink wurde übrigens bald darauf aus seinem Amt entlassen und in der Presse als Stasi-Heiner verspottet. Wie sich herausstellte, war er inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen.

Ein Charité-Institut für Sexualmedizin ließ aber zunächst noch auf sich warten. Wie schon erwähnt, wurde sie erst 1996 eingerichtet. Bis dahin gab es noch einiges für mich selbst zu tun. 

4. Einladung nach Hong Kong

Im Frühjahr 1990 erhielt ich aus Hong Kong eine Einladung zum ersten sexologischen Kongress in Asien. Organisator war Prof. Man Lun Ng, ein Ko-Autor unserer landesweiten Sexualumfrage in China, den ich in diesem Zusammenhang ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Gleichzeitig wollte das dortige Goethe-Institut meine Ausstellung zur Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933 zeigen, die sich noch in Zürich befand. Deren Transportkosten und meine Reisekosten wurden gerne übernommen. Bei der Konferenz selbst hatte ich die Ehre, sowohl den Eröffnungsvortrag wie auch den Schlussvortrag zu halten, den ersteren zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der Sexualwissenschaft, den letzteren zum Thema AIDS-Vorbeugung. Die Ausstellung fand ein sehr positives Echo und blieb zunächst in Hong Kong, denn sie sollte später in die Volkrepublik China weitergeschickt werden, was auch schon zwei Jahre später möglich wurde. Die Konferenz hatte Teilnehmer aus Hong Kong, der Volksrepublik China, Taiwan, Japan, Indien, Thailand und Singapur. Durch ihren ersten großen Erfolg ermutigt, beschlossen sie, einen sexologischen Dachverband  für Asien zu gründen, die Asian Federation for Sexology (AFS). Mein Kollege Milton Diamond, der aus Hawai’i angereist war, und ich selbst wurden offiziell  zu Beratern dieser neuen Organisation ernannt. In der Folgezeit sollte sie sich in der Tat als sehr fruchtbar und nützlich erweisen. Nach einigen Jahren änderte sie ihren Namen in Asia-Oceania Federation for Sexology (AOFS)  und nahm auch Mitglieder in Australien und anderen Ländern des Pazifik auf. Sie hielt dann im Zweijahresrhythmus Kongresse in weiteren asiatischen Ländern ab. Tagungsorte waren u.a. Schanghai, Neu-Delhi, Taipei, Seoul, Singapur, Mumbai, Bangkok usw.. Von der Konferenz in Hong Kong wurde ein Sammelband publiziert. Er enthielt auch einen Beitrag von mir mit dem Titel Hirschfeld, Asia and Sexology.

Hong Kong 1990: Die erste asiatische Konferenz zum Thema Sexualität


Oben von links: 1. Auf dem Rednerpodium, 2. Blick in Ausstellung
The Birth of Sexology in Berlin 1908-1933" im Foyer der Universität.
Unten von links: 1. Mit Prof. M.L. Ng, dem Veranstalter und
Prof. M. Diamond. (Beide sind heute noch Mitglieder meines Archiv-Beirates.)
2. Kongress-Publikation mit meinem Beitrag Hirschfeld, Asia and Sexology.

Während meines Aufenthaltes verfolgte ich noch ein persönliches wissenschaftliches Anliegen: Hirschfelds letzter Schüler und Erbe, Li Shiu Tong, stammte aus Hong Kong, war aber schon seit sehr langer Zeit für Sexualforscher unauffindbar. Es bestand jedoch die Möglichkeit, dass er noch lebte, und es war auch denkbar, dass er inzwischen in seine Geburtsstadt zurückgekehrt war. Ich gab also entsprechende Zeitungs- und Radiointerviews, um ihn zu finden, oder wenigstens jemanden, der ihn kannte oder gekannt hatte. Leider führten diese Versuche zu keinem Ergebnis. Wie sich am Ende jedoch herausstellte, war er 1990 tatsächlich noch am Leben. Aber erst Jahre nach seinem Tod 1993 fand Ralf Dose von der Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft den letzten Wohnsitz des letzten unmittelbaren Zeugen und einige seiner Hinterlassenschaften in Vancouver, Kanada.

Meine Verbindung zur Universität Hong Kong

Oben: Wappen der Universität, mit dem lateinischen Wahlspruch Weisheit und Wahrheit.
Mitte: Eingang zu den Gasthäusern. In einem davon wohnte ich während der Konferenz 1990.
Unten: Da ich - mit Prof. Ng von der HKU – Mitautor der Studie Sexual Behavior in Modern China war und dann als Mitherausgeber und Mitübersetzer ihrer amerikanischen Ausgabe fungierte, wurde ich 2005 zum Honorarprofessor an der dortigen Medizinischen Fakultät ernannt. Dort leitete ich bei meinen folgenden China-Reisen Seminare und Workshops.
Ab 2008 wechselte ich zum Familieninstitut über, das meine englischen und chinesischen Online-Kurse zur Ausbildung ihrer Student(inn)en nutzte.
Meine Honorarprofessur ging dann 2012 nach insgesamt 7 Jahren zu Ende.

Wir ausländischen Referenten wohnten sehr angenehm auf einem Hügel in den traditionellen Gasthäusern der Universität und wurden dort auch verpflegt. Vor allem hatten wir von dort eine immer wieder belebende Aussicht auf die Stadt, und so ist uns allen die Konferenz in der angenehmsten Erinnerung geblieben. Von uns wenigen Westlern abgesehen, kamen die vielen Teilnehmer aus Hong Kong, der Volksrepublik China, Taiwan, Japan, Indien, Thailand und Singapur. Durch ihren ersten großen Erfolg ermutigt, beschlossen sie, einen sexologischen Dachverband für Asien zu gründen, die Asian Federation for Sexology (AFS). Mein Kollege Milton Diamond, der aus Hawai’i angereist war, und ich selbst wurden offiziell zu Beratern dieser neuen Organisation ernannt. Später wurde die Organisation umbenannt, um weitere Länder miteinzubeziehen und hieß dann Asia Oceania Federation for Sexology (AOFS). Ihre weiteren Kongresse wurden dann in Schanghai, Neu-Delhi. Taipei, Seoul, Kobe, Singapur und weiteren Städten Asiens und des pazifischen Raumes organisiert.


Logo der Asia Oceania Federation for Sexology

5. Reise nach Ungarn

Im folgenden Jahr 1991 reisten Gene und ich nach Ungarn. Ich bekam nämlich von Dr. Imre Aszódi (1921-2006), den ich von früheren Fortbildungstagungen in Heidelberg kannte, eine Einladung an die Ungarische Akademie der Wissenschaften in Miskolc und hielt dort zwei Vorträge. Anschließend machten wir mit ihm und seiner Frau eine längere Autoreise über Land und sahen dabei viele gut erhaltene bauliche Zeugnisse der alten k. und k. Donaumonarchie. Die Dörfer und Kleinstädte atmeten immer noch eine besondere, friedliche, gelassene Atmosphäre, und so bekamen wir eine Ahnung von der stabil verläss-lichen, ruhigen und, verglichen mit heute, gemütlichen guten alten Zeit unter Kaiser Franz-Joseph.

Auf mehreren früheren Kongressen hatte ich auch den Psychiater Dr. Bela Buda kennengelernt, der damals als Drogenbeauftragter für die Regierung arbeitete. Durch seine Vermittlung erhielt ich die willkommene Gelegenheit, an der Semmelweis-Universität in Budapest mein Online-Archiv vorzuführen, das auf großes Interesse stieß. In dieser Zeit lernte ich auch den eminenten Psychologen Dr. Vilmos Szilágyi kennen, der von da an regelmäßig unsere Kongresse in Deutschland besuchte, viele meiner Texte in Ungarische übersetzte und bis heute Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats ist. In der Folgezeit kehrten Gene und ich noch zweimal zurück nach Budapest und machten dort Urlaub auf der Margaretheninsel (Margit-sziget). Dort führten wir dann weitere Gespräche mit den Drs. Aszódi, Buda und Szilágyi und erlebten in der Stadt herrliche Opernaufführungen, sowohl in der alten Oper wie im Erkel-Theater (La Bohème, La Gioconda, A cigánybáró (Der Zigeunerbaron). Außerdem besuchten wir auch jedes Mal die städtischen Sehenswürdigkeiten, die schönen traditionellen Cafés und Restaurants sowie die Operettenkonzerte im Pesti Vigado. Kurz: Wir waren von Ungarn begeistert und denken noch heute gerne an diese Besuche zurück.

In Budapest

  

Von links: Dr. Bela Buda (1939-2013). Durch seine Vermittlung erhielt ich die Gelegenheit, an der Semmelweis-Universität in Budapest mein Online-Archiv vorzuführen. Dr. Vilmos Szilágyi (1929 -), Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats und wichtiger Beiträger zu meinem Archiv.

Außerdem erinnere ich mich, dass ich bald nach der Wende auf Einladung Vorträge an den Universitäten Jena und Greifswald hielt. Die Themen und genauen Daten sind mir aber inzwischen entfallen. Wichtiger war 1992 meine dritte Einladung nach China.

6. Erneute Reise nach China

Wie oben erwähnt, war die AOFS auch an dem nächsten asiatischen Sexologenkongress, beteiligt, der 1992 in Schanghai stattfand. Wiederum wurde dort meine Ausstellung gezeigt, und ich selbst stand als Referent auf dem Programm. Ich begann meine Reise aber in Peking, wo ich zu Vorträgen und einem Gedankenaustausch an der Beijing Medical University eingeladen war. Mein dortiger Gastgeber war Prof. Wang Xiao Dao, der Präsident der ersten landesweiten Chinesischen Gesellschaft für Sexologie.

  
Von links: Mit Prof. Wang Xiao Dao, am Eingang der der Beijing Medical University.
Mit Prof. Ma Xiao Nian im Garten des kaiserlichen Sommerpalastes.

Diese Begegnung erwies sich für die folgenden Jahre als erfreulich fruchtbar. Die chinesischen Kollegen nahmen mich schon beim ersten Mal mit zu Ausflügen in die Umgebung zum Sommerpalast, den Ming-Gräbern und der großen Mauer. Natürlich nutzte ich auch die Gelegenheit, den ehemaligen Kaiserpalast zu besichtigen, der von meinem Hotel aus zu Fuß erreichbar war.

Bei einem längeren Spaziergang in der Stadt bemerkte ich etwas Interessantes: Zwei uniformierte Soldaten der Volksarmee schlenderten Hand in Hand eine belebte Geschäftsstrasse entlang ohne dass die vielen anderen Passanten ihnen die geringste Beachtung schenkten. Ich selbst war offensichtlich der Einzige, dem das überhaupt auffiel. Dies war für mich eine wertvolle Lektion über sozial konstruierte Wahrnehmungen, denn in den USA hätte dies öffentliche Händchenhalten von zwei Männern in Uniform damals großes Aufsehen erregt, als Beweis für Homosexualität gegolten und zur unehrenhaften Entlassung aus der Armee geführt. Im damaligen China hingegen war es nur ein selbstverständlicher Ausdruck von Freundschaft und Kameradschaft und verdiente deshalb keine besondere Aufmerksamkeit. Ob sich dies unter westlichem Einfluss inzwischen geändert hat, weiß ich nicht. In den USA und Nordeuropa jedenfalls sind, anders als in vielen anderen Ländern, "händchenhaltende" Männer, ob uniformiert oder nicht, immer noch quasi automatisch einer sexuellen Beziehung verdächtig. Homosexuelle sind nun zwar grundsätzlich in unseren Armeen willkommen, aber öffentlich Hand in Hand zu gehen, würde wohl nach wie vor als unnötige Provokation gewertet.


Mit Prof. Wang (Erste Reihe, zweiter von rechts)
und dessen Kollegen an der Beijing Medical University.

Von Peking aus sollte ich für ein Kolloquium an der Universität Nanjing weiter reisen - ein Abenteuer, da ich nicht Chinesisch sprach. Deshalb begleitete mich Prof. Ma zum Bahnhof, um sicherzustellen, dass ich den richtigen Zug bestieg. Tatsächlich wäre dies ohne seine Hilfe wohl unmöglich gewesen, da sowohl die Fahrkarte wie alle Bahnsteigschilder in chinesischer Sprache abgefasst waren und niemand vom Bahnpersonal eine Fremdsprache sprach. Im Zug selber konnte ich weder meine Mitreisenden noch den Zugschaffner verstehen. Auch die Stationsschilder konnte ich nicht lesen. Ich stieg dann einfach nach der Uhrzeit des Fahrplans aus und hatte Glück: Es war tatsächlich Nanjing, wo schon eine Universitätsdelegation auf mich wartete. Auch hier wurde ich in einem sehr schönen Gästehaus untergebracht und bemerkte beim Frühstück mehrere amerikanische Professoren, die ebenfalls eingeladen waren. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass sie sehr unterschiedliche Fächer vertraten. Für mich war das ein Zeichen, dass auch diese Universität dabei war, so schnell wie möglich internationalen Anschluss zu finden. Nach einem Besuch der faszinierenden Altstadt und der auf einem Hügel gelegenen, sehr würdigen Gedenkstätte für Sun Yatsen fuhr ich zwei Tage später, wieder mit dem Zug, weiter. Mein Gastgeber, Prof. Chu Zhao Rui, begleitet mich zum Kongress nach Schanghai.


Mit Prof. Rui im Zug nach Schanghai.

Wie sich am Ende zeigte, war dies alle Mühen wert gewesen, denn dort sah ich das Ergebnis meiner allerersten China-Reise 1989 endlich im Druck: Das in chinesischer Sprache publizierte Buch Sexualverhalten im modernen China - Bericht über die landesweite Befragung von 20.000 Personen, bei dem ich als Ko-Autor mitgearbeitet und das Vorwort geschrieben hatte. Für alle Kongressteilnehmer war dies natürlich eine Sensation.


Originalausgabe von 1992 unserer Studie Sexualverhalten im modernen China

Es ist keine Frage, dass sexologische Kenntnisse und Fähigkeiten in China und anderen asiatischen Ländern in Zukunft dringend gebraucht werden. Die Bedrohung durch AIDS ist dabei nur ein Faktor unter vielen. Wichtiger sind demographische Entwicklungen: Das Pubertäts-alter sinkt und das Heiratsalter steigt, während gleichzeitig die traditionellen Muster der sozialen Kontrolle von Jugendlichen unter westlichem Einfluss verblassen. Hinzu kommt, dass prozentual der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung zunimmt. Außerdem: Durch das Ideal der lange propagierten Ein-Kind-Familie wird von der Regierung indirekt, aber überdeutlich die These veranschaulicht und propagiert, dass die Fortpflanzung nicht der Hauptzweck der Sexualität ist. Am Rande des Kongresses ergaben sich deshalb aufschlussreiche Gespräche mit chinesischen und japanischen Journalisten und auch mit der großen Schanghaier Tageszeitung Wen Hui, die für Lehrer(innen) ein sexualpädagogisches Fortbildungsprogramm anbot – noch eine bemerkenswerte Privatiniative.

  
Von links: Mit Prof. Liu Dalin in einem der berühmten Gärten Suzhous 1992,
Mit Prof. Milton Diamond in meinem Archiv-Büro in Berlin 1999.

Nach dem Abschluss des Kongresses wurde mit den ausländischen Kongressteilnehmern ein Tagesausflug nach Suzhou organisiert, einer alten Stadt, die für ihre Gärten berühmt ist. Sie wurden seinerzeit von bedeutenden kaiserlichen Beamten oder Generälen für ihre Ruhesitze angelegt und sind in der Tat überwältigend schön, besonders für die heutigen westlichen Besucher, die hier vielleicht zum ersten Mal erleben, was chinesische Gartenkunst bedeutet: Eine eigene, unvergleichliche künstlerische Leistung, die zu Recht zum Weltkulturerbe gehört. Wir besichtigten zwei dieser Gärten und ein Museum und aßen dann eine köstliche vegetarische Mahlzeit in einem buddhistischen Tempel, der, wie viele andere im heutigen China, unter der Leitung geschäftstüchtiger Mönche (Restaurant, Andenkenläden, Trauer-feiern usw.), ein lebendiges touristisches und religiöses Leben beherbergt.

Ich erinnere mich auch noch, dass ich 1992 den Rückflug von China nach Berlin in Taormina unterbrach, um an dem ersten Kongress einer von mir mitbegründeten European Federation of Sexology (EFS) teilzunehmen. Diesen längst überfälligen Dachverband europäischer sexologischer Gesellschaften hatten wir schon ein Jahr vorher ins Leben gerufen. Wir Gründungsmitglieder kannten uns alle seit Jahren von vielen internationalen Kongressen, besonders natürlich auch von unserem Weltkongress in Heidelberg 1987. Außer mir waren es u.a. noch Willy Pasini (Genf), Romano Forleo (Rom), Robert Porto (Marseille), Prof. Jaroslav Zvěřina (Prag), Maj-Brit Bergström-Walan (Stockholm), Piet Nijs (Leuven), Wolf Eicher (München), Gorm Wagner (Kopenhagen) und Gilbert Tordjman (Paris). Ich wurde dann auch für einige Jahre der EFS-Generalsekretär und erhielt dafür auch schriftliche Anerkennung.(48) In der Folgezeit organisierten wir dann im Zweijahresrhythmus weitere Kongresse. Ich selbst war Referent in Kopenhagen (1994), Marseille (1996), Lissabon (1998), Berlin (2000), Brighton (2004), Prag (2006) Rom (2008), Porto (2010) und Madrid (2012). Außerdem sprach ich bei einem Kongress der Nordic Association for Clinical Sexology (NACS) in Reykjavik (1995).


Heutiges Logo der EFS



Ehrenpreis der EFS 2004


Gastprofessor an der Humboldt-Universität

Durch Vermittlung von Karl-Friedrich Wessel bekam ich 1992 von der Humboldt-Universität einen mehrfach verlängerten Gast-Vertrag ausdrücklich als Professor für Sexualwissenschaft, ein Novum in der Berliner Universitätsgeschichte. Damit war ich tatsächlich in Berlin der allererste Universitätsprofessor, der ganz offiziell das Fach Sexualwissenschaft in Forschung und Lehre vertrat. (Wohlgemerkt: Gemeint war die Sexualwissenschaft in ihrem ursprünglichen, umfassenden Sinne wie zu Blochs und Hirschfelds Zeiten, nicht etwa nur ein Teilgebiet wie Sexualmedizin, Geschlechterstudien oder Homosexualitätsstudien.) Der Vertrag war zunächst auf ein bezahltes Semester befristet, wurde dann aber - ohne Bezahlung - stillschweigend immer wieder verlängert. So setzte ich meine universitäre Arbeit als Bundesbeamter mit Billigung meiner Behörde fort, und zwar unter der Verwaltungsrubrik unbezahlte genehmigte Nebentätigkeit. Meine Veranstaltungen wurden zu Beginn jedes Semesters im Vorlesungsverzeichnis angekündigt, aber weil es kein reguläres Fach Sexualwissenschaft gab, fanden sie im Rahmen eines Studium generale statt. Sie wurden von Studentinnen und Studenten aller drei Berliner Universitäten besucht (HU, FU, TU), und so waren meine Vorlesungen und Seminare immer überfüllt. Das Interesse vonseiten der Studierenden war und blieb also enorm. An der Technischen Universität (TU) gab es glücklicherweise einen Studiengang öffentliche Gesundheit, der die Sexualwissenschaft als relevant anerkannte, und daher konnte ich den Student(inn)en von dort sogar die für sie notwendigen Scheine ausstellen.

Überschrift und erste Paragraphen meines Vertrages

Als Gründungsmitglied und Generalsekretär der EFS und als Präsident der DGSS konnte ich dann, wieder mit Unterstützung meines Kollegen Wessel, weitere internationale sexologische Kongresse an der Humboldt-Universität veranstalten. Bei unserem DGSS- Kongress 1992 ließen wir die Originaldokumente von Hirschfelds Promotion von 1892 kopieren und verteilten sie in einer von mir entworfenen Sondermappe an alle Teilnehmer(innen):

Dabei verliehen wir unsere Hirschfeld-Medaillen an Imre Aszódi aus Ungarn, John De Cecco und Ruth Westheimer aus den USA, und Liu Dalin aus China. Im Frühjahr 1993, zu Hirschfelds Geburts- und Todestag, hielt ich auch noch eine öffentliche Vorlesung zur internationalen Situation der Sexualwissenschaft. Den Text publizierte die Universität dann als Broschüre. (49)

Im Sommer 1993 fand in Berlin die 9. Internationale AIDS-Konferenz statt. Als Mitarbeiter des AIDS-Zentrums beim Robert Koch-Institut war ich - sozusagen automatisch - als Teilnehmer angemeldet. Es gelang mir aber, zusätzlich inoffiziell und persönlich einen Beitrag zu leisten. Unter anderem war ich ja auch noch Präsident der DGSS, und als solcher gab ich mit Rolf Gindorf zusammen ein Taschenbuch heraus Sexology Today – A Brief Introduction. Dieses kleine Buch von 141 Seiten enthielt historische und aktuelle Beiträge von mir selbst, Gindorf und anderen zum Thema Sexualwissenschaft und AIDS. Es wurde von der Wellcome Foundation – Positive Action bezahlt und kostenlos an alle Konferenzteilnehmer verteilt.


E. J. Haeberle und R. Gindorf, Hg.
Gratisbroschüre für die Teilnehmer an der 9. Internationalen AIDS-Konferenz in Berlin 1993.

Am 14. Mai 1993, zu Hirschfelds Geburts- und Todestag, hielt ich auch noch eine öffentliche Vorlesung zur internationalen Situation der Sexualwissenschaft. Den Text publizierte die Universität dann in einer eigenen Publikationsreihe als Broschüre.

Meine Vorlesung Berlin und die internationale Sexualwissenschaft


Broschüre der Humboldt-Universität

Zurück zur Humboldt-Universität: Die dortige technische Ausrüstung war damals leider immer noch mangelhaft. Für meine Vorlesung musste ich mich mit Folien und entsprechenden Projektoren behelfen, und wenn ich Handzettel, Fragebögen, Grafiken oder Bibliographien verteilen wollte, so musste ich sie vorher im Robert Koch-Institut kopieren und von dort mitbringen.

Die feste Bestuhlung von anno dunnemals in den Hörsälen entsprach angeblich feuerpolizeilichen Vorschriften, verhinderte aber, dass sie für größere wissenschaftliche Kongresse genutzt werden konnten, die ja oft viele Räume für Seminar- und Arbeitsgruppen brauchen. Ich selbst war das von vielen Kongressen in vielen Ländern gewohnt, und an amerikanischen Universitäten ist das ohnehin selbstverständlich. Dabei werden in größeren und kleineren Stuhlreihen in lockerer Form aufgestellt, so dass sie, je nach Bedarf und Teilnehmerzahl, leicht umgruppiert werden können. Solche Kongresse hätte auch die Humboldt-Universität in der vorlesungsfreien Zeit und auch an Wochenenden veranstalten können, aber die fest angeschraubten, durchgehenden Bänke verhinderten dies. Den Vorteil hatten natürlich die Berliner Kongresshotels, die offensichtlich keinen solchen Vorschriften unterlagen und die nicht nur große Auditorien, sondern auch, je nach Bedarf, in zusätzlichen Räumen, lockere Bestuhlungen anbieten konnten. So verdienten sie mit ihren Angeboten regelmäßig viel Geld. Die Universität aber zeigte keinerlei Interesse an dieser Verdienstmöglichkeit. Unsere eigenen DGSS-Kongresse konnten wir allerdings immer im großen Senatssaal des Hauptgebäudes Unter den Linden veranstalten, denn wir hatten dort, bei gewohnt internationaler Zusammensetzung, immer nur ein paar hundert Teilnehmer.

Zum Schluss noch eine besondere Erinnerung: In diesen Jahren stieg ich immer wieder - ich weiß nicht wie oft - die Eingangstreppe des Universitäts-Hauptgebäudes hinauf. Dabei sah ich natürlich jedes Mal die bekannte Bemerkung von Karl Marx, die dort, denkmalgeschützt, in goldenen Lettern auf rotem Marmor verewigt ist: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Dabei dachte ich immer: Mein lieber Karl, eben darauf kommt es nicht an, denn die Welt verändert sich ständig und wird sich ewig weiter verändern, auch ohne menschliches Zutun. Vielleicht wolltest Du ja stattdessen schreiben: Es kommt darauf an, sie zu verbessern, aber da stockte Dir wohl die Feder, denn damit hättest Du unweigerlich die ewige Streitfrage aufgeworfen: Wer entscheidet, warum, wann, wo und für wen etwas besser oder schlechter ist? Das Gezänk darüber wolltest Du Dir an dieser Stelle wohl ersparen.

Was meine Gastprofessur an der Humboldt-Universität betraf, so fiel sie in eine Zeit rapider Veränderungen, auch städtebaulicher Art. Mehrmals die Woche ging ich zu Fuß von meinem Bundes-Büro im Bendlerblock (mit Blick auf den Innenhof und die männliche Bronzestatue) zur Humboldt-Universität. Dabei durchquerte ich den Tiergarten und setzte dann meinen Weg über die Leipziger Straße, die Friedrichstraße, den Gendarmenmarkt und den Opernplatz (Bebelplatz) fort. Anfangs standen in dieser Gegend noch eindrucksvolle, teilweise unvollendete, von der DDR als Prestige-Objekte konzipierte Gebäude. Diese wurden aber von den Westlern als aserbaidschanische Postmoderne verspottet und nach und nach abgerissen. So erlebte ich im Laufe der Semester in der alten Mitte Berlins die Zerstörung der pittoresken sozialistischen Architekturfantasien, neue Schuttwüsten und schließlich den Wiederaufbau im nüchternen Geist des Kapitalismus. Die moderneren Gebäude waren dann vor allem kommerziell effizient. Gleichzeitig verbesserten sich auch die Universitätsräumlichkeiten, wurden zumindest innen heller und sauberer, und der früher in der DDR allgegenwärtige scheußliche Geruch des landesweit einzigen Putzmittels verschwand. Eines allerdings störte mich bis zum Schluss: In den Hörsälen saßen meine Studenten eingeklemmt in altmodischen, durchgehenden, festen Bankreihen, beengter noch als die Gymnasiasten des seligen Prof. Unrat im Blauen Engel. Das zwang der Interaktion von Lehrenden und Lernenden eine gewisse Förmlichkeit auf, die ich selbst aus Kiel und Genf nicht gewohnt war, ganz zu schweigen von den USA. Es gelang mir aber, meinen lockeren Vortragsstil zum großen Teil beizubehalten.

Bilanz meiner Gastprofessur an der HU 1992-1994

Meine Lehrveranstaltungen als Gastprofessor an der Humboldt-Universität sind inzwischen vollständig dokumentiert, d.h. sowohl meine Vorlesung und meine Seminare wie auch andere Publikationen aus diesen Jahren.

  1. Der Deutsche Taschenbuch Verlag (dtv), München, hatte die Unterlagen meiner Vorlesung Einführung in die Sexualwissenschaft, gleich zu Anfang erworben. Ihre Publikation hatte sich jedoch aus verschiedenen verlagsinternen Gründen immer wieder verzögert. Als das Buch als dtv-Atlas Sexualität dann im Druck erschien, wurde es auch - von links nach rechts - ins Kroatische, Spanische und Ungarische übersetzt.
  2. (Von links): Die vor mir herausgegebene und vom Wellcome Trust geförderte Gratis-Broschüre Sexology Today für die Teilnehmer der 9. Internationale AIDS-Konferenz in Berlin (1993). Im gleichen Jahr hielt ich noch eine besondere öffentliche Vorlesung, die von der Universität selbst publiziert wurde: Berlin und die internationale Sexualwissenschaft.
    Außerdem hatte ich in dieser Zeit Seminare geleitet, von denen hier zwei dokumentiert sind:
    1. Das Seminar Sexuelle Orientierung basierte auf dem von mir 1990 im Berliner Reichstag organisierten Kongress Bisexualitäten, dessen Resultate zuerst in deutscher und dann in englischer Sprache in Buchform erschienen: Haeberle/Gindorf, Hg. Bisexualitäten – Ideologie und Praxis des Sexualkontaktes mit beiden Geschlechtern und Bisexualities – The Ideology and Practice of Sexual Contact with both Men and Women.
    2. Das Seminar Vorarbeiten zu einem Hirschfeld-Film wurde zusammen mit dem Regisseur Rosa von Praunheim durchgeführt und resultierte 1999 in seinem biographischen Spielfilm Der Einstein des Sex.
  3. Im Herbst 1992 unternahm ich meine dritte Reise nach China, wo ich u.a. am ersten Sexologenkongress in der Volksrepublik teilnahm. Dieser fand vom 12.-16. September in Schanghai statt und zeigte auch meine Ausstellung zur Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933. Außerdem wurde die erste landesweite chinesische Sexualumfrage vorgestellt, an der ich als einziger nicht-chinesischer Ko-Autor mitgearbeitet hatte:


    Links: Chinesische Originalausgabe von: Liu, Ng, Zhou, Haeberle:
    Sexualverhalten im modernen China (1992). Rechts: Amerikanische Ausgabe 1997


    Von links: Prof. Haeberle (mit Dolmetscher) spricht zur Eröffnung des ersten
    chinesischen Sexologenkongresses in Schanghai


    Von links: Prof. Haeberle und Prof. Liu Dalin in Schanghai am Eingang der Ausstellung
    Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933

Im Frühjahr 1994 aber wurde plötzlich eine weitere Verlängerung meiner Gastprofessur von einem Herrn aus der Verwaltung mit unhaltbaren, ungebührlichen, ja beleidigenden und offensichtlich vorgeschobenen Gründen verhindert, und das, obwohl für die Universität schon längst keine Kosten mehr angefallen waren. Er schrieb einen Brief an die mir unbekannte Dekanin für Kultur- und Bibliothekswissenschaft, Prof. Dr. Ruth Tesmar, die damals anscheinend für meine Gastprofessur zuständig war. Darin teilte er ihr seine Bedenken hinsichtlich meiner fachlichen Kompetenz mit. Von wem er diese Einschätzung hatte, blieb unklar. Seine eigene Meinung konnte es jedenfalls nicht sein, denn er hatte noch nie eine einzige meiner Veranstaltungen besucht. Aber heute kann sich meine Leserschaft ihr eigenes Urteil bilden, denn meine mehrsemestrige Vorlesung und meine Seminare sind inzwischen fast lückenlos dokumentiert und auf den vorigen Seiten mit entsprechenden Illustrationen kurz zusammengefasst. Es stellte sich dann heraus, dass der Brief von einem/r gewissen, mir ebenfalls völlig unbekannten Dr. Pieper initiiert worden war, wiederum ohne jede konkrete Kenntnis meiner Vorlesungen oder Seminare. Wahrscheinlich war Dr. Pieper einfach auf irgendwelche hinterhältigen Verleumdungen meiner deutschen Neider hereingefallen, an denen es mir ja bis heute nie gemangelt hat. Warum Dr. Pieper aber deren Geschwätz ungeprüft ernst nahm, und warum dann auch noch die Dekanin dasselbe tat, wird mir ewig unverständlich bleiben. Auch sie kannte ja meine Arbeit nicht. Auf jeden Fall aber waren weder der Schreiber des Briefes noch Dr. Pieper zu ihrem Urteil berechtigt und natürlich dafür auch in keiner Weise qualifiziert. Und das galt ebenso für Prof. Tesmar. (Dr. Pieper schickte später eine halbherzige, lahme und unzureichende Entschuldigung an meinen Kollegen Wessel, aber nicht an mich. Ich selber war der Universität ganz offensichtlich keine Briefmarke wert.)

Das Vorlesungsverzeichnis für das neue Semester war allerdings schon gedruckt und verteilt. Und darin waren auch wieder meine geplanten Veranstaltungen angekündigt, darunter auch ein gemeinsam organisiertes Seminar mit dem später an die Charité berufenen Sexualmediziner Prof. Klaus M. Beier. Dies und anderes durfte nun aber nicht mehr stattfinden, denn der kuriose Brief forderte die Dekanin auf, dafür Sorge zu tragen, dass Prof. Haeberle die Durchführung von Lehrveranstaltungen untersagt wird.

Dieser erstaunliche Satz wirft für mich selbst heute noch die Frage auf, inwiefern eine Universitätsverwaltung berechtigt sein kann, einer Professorin in einer wissenschaftlichen Frage Anweisungen zu erteilen. Schließlich ging es ja um meine wissenschaftliche Qualifikation und nicht um irgendeine verwaltungstechnische Petitesse. War die Freiheit in Forschung und Lehre nun ausgerechnet für die Humboldt-Universität zur leeren Phrase geworden? Bestimmten nun ihre Bürokraten, was wissenschaftlich wertvoll war und was nicht? Musste also eine Dekanin tatsächlich den Befehl einer Verwaltung ausführen, der meine Vorlesungen und Seminare missfielen, obwohl sie diese gar nicht kannte? Von einem sachkundigen Fakultätsbeschluss erfuhr ich jedenfalls nichts, und meine mutmaßlichen externen Verleumder kamen wohlweislich nie aus ihrer Deckung.

Wie dem aber auch immer gewesen sein mag, Prof. Tesmar besaß leider nicht die Höflichkeit, mir meine Suspendierung persönlich mitzuteilen und mich selber anzuhören, und so erfuhr ich davon nur indirekt und etwas verspätet durch den Kollegen Wessel. (Eine solche Missachtung einfachster Anstandsregeln wäre an einer amerikanischen Universität undenkbar.) Ironischerweise übernahm später ausgerechnet die HU-Bibliothek meine Bücher, Zeitschriften und Sammlungen als Haeberle-Hirschfeld-Archiv. Außerdem stellte mir der Universitäts-Rektor Prof. Mlynek nach meiner Pensionierung 2001 für die Fortsetzung meiner Arbeit neue, große Räume in Berlin-Pankow zur Verfügung, und mein Online-Archiv lief noch bis 2013 auf dem Server der Humboldt-Universität.

Um die ganze Absurdität der Episode noch einmal deutlich zu machen, erlaube ich mir, hier abschließend etwas zu wiederholen:

Kurz vor und kurz nach meiner Gastprofessur organisierte ich als Präsident der DGSS in der Humboldt-Universität zwei internationale Kongresse zu sexualwissenschaftlichen Grundsatzfragen. So wurde meine Lehrtätigkeit an der HU gewissermaßen von diesen beiden Kongressen eingerahmt. Sie fanden im Senatssaal des Hauptgebäudes Unter den Linden 6 statt, und die damalige HU-Präsidentin, Prof. Dürkop, sprach beide Male die Willkommens- und Begrüßungsworte.

Im Sommer 1992 stand unser Kongress unter dem Thema Sexualität, Recht und Ethik (Mitveranstalter: Prof. Karl-Friedrich Wessel vom Institut für Humanontogenetik). Wir verliehen dabei unsere Hirschfeld-Medaillen an John De Cecco, USA (für Sexualforschung) und
an Imre Aszódi, Ungarn (für Sexualreform).

Sexualität, Recht und Ethik / Sexualities, Law, and Ethics

(Berlin 1992, als IV. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft,
unter der Schirmherrschaft des Berliner Senators für Wissenschaft und Forschung) (für Sexualforschung) und an Ruth Westheimer, USA (für Sexualreform).

Nach meinem Rauswurf im Frühjahr veranstaltete ich im Sommer 1994 noch einen zweiten Kongress zu einem weiteren, grundlegenden Thema, wiederum mit Prof. Wessel als Mitveranstalter. Dabei verliehen wir unsere Hirschfeld-Medaillen an Liu Dalin, China und Ruth Westheimer.

Vom Sinn und Nutzen der Sexualwissenschaft /
The Meaning and Uses of Sexology

(Berlin 1994, als V. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft)



Das Archiv für Sexualwissenschaft

1. In Berlin-Spandau

Die Art und Weise, wie die Universität sich meiner Dienste entledigt hatte, war sicherlich würdelos und empörend, aber letztlich kam mir meine Entlassung doch sehr zupass. Zur gleichen Zeit ermöglichte mir nämlich das Robert Koch-Institut, in Spandau ein Archiv für Sexualwissenschaft aufbauen - eine langersehnte Herausforderung, die mich fortan ganz in Anspruch nahm.

Das Archiv für Sexualwissenschaft 1994-1996

 
Vor dem Haus des neuen Archivs in Berlin-Spandau.
Das Schild mit dem Bundesadler rechts oben am Eingangstor weist unser Archiv als Teil des Robert Koch-Instituts aus.

Schon im März 1994 konnte ich das neue Archiv in Berlin-Spandau eröffnen (Flankenschanze 48). Unser neues Archiv war wochentags zu den üblichen Bürozeiten frei zugänglich. Tatsächlich besuchten uns dort auch von Anfang an Interessenten aus dem In- und Ausland. Im Sommer des gleichen Jahres organisierte ich als Präsident der DGSS zusammen mit dem HU-Kollegen K.F. Wessel, in der Humboldt-Universität einen internationalen Kongress The Meaning and Uses of Sexology. Dort verliehen wir unsere Hirschfeld-Medaillen an Liu Dalin und Ruth Westheimer. Für das Abschiedsessen gab es ein großes Buffet in unseren neuen Spandauer Räumen.

  
Fotos: E. J. Haeberle

Prof. Liu Dalin, Dr. Ruth Westheimer

Zunächst schaffte ich meine eigene Fachbibliothek in die neuen Räume und begann, sie mithilfe eines jungen Mitarbeiters zu katalogisieren. Dann machte ich mich an die Arbeit, gemeinsam mit dem weiteren Ko-Autor Man Lun Ng, das chinesische Original unserer Sexualumfrage für eine amerikanische Ausgabe zu bearbeiten. Da Ng als Professor an der Universität Hong Kong sowohl des Chinesischen wie des Englischen mächtig war, erwies sich diese Aufgabe, wenn auch nicht als leicht, so doch mit umfangreicher Korrespondenz, viel Geduld und großem Zeitaufwand lösbar. Bei dieser Arbeit und auch bei späteren Besuchen als Honorarprofessor in Hong Kong lernte ich sehr viel von diesem geschätzten Kollegen, der dann auch Mitglied in meinem wissenschaftlichen Beirat wurde.. Währenddessen schrieb ich aber noch verschiedene sexualwissenschaftliche Aufsätze für deutsche, skandinavische, französische und ungarische Publikationen.


Prof. Man Lun Ng

Im zweiten Jahr unseres neuen Archivs konnte ich mit einem Mitarbeiter eine Broschüre über die Situation der Sexualwissenschaft in Europa herausgeben, und zwar als offizielle Publikation des Robert Koch-Instituts (RKI) unter dem Titel Sexology in Europe. Der Inhalt wurde von uns dann zu einer globalen Übersicht ausgeweitet und in Form eines Online-Verzeichnisses ins Netz gestellt.

Sexology in Europe:
A Directory of Institutions, Organizations, Resource Centers, Training Programs,
and Scientific Journals

Erwin J. Haeberle und Wolfgang Simons (Hg.), Robert Koch-Institut, RKI-Hefte Nr. 3, 1995 

2. Einladung nach Stockholm

Unter anderem hatte ich auch einiges zum Thema AIDS -Aufklärung in der Arbeitswelt publiziert (50) und wurde daher Im Sommer 1994 als Referent zu einer arbeitsmedizinischen Tagung nach Stockholm eingeladen. Sie fand in einer sehr großzügigen Anlage des schwedischen Gewerkschaftsbundes weit draußen in den Schären statt.

Eine Publikation des AIDS-Zentrums

E. J. Haeberle , Hg. mit C. Pätzold, S. Hausdörfer, S. Anders: HIV/AIDS-Aufklärung in der Arbeitswelt I, AZHeft 9/1992, Berlin, AIDS-Zentrum im Bundesgesundheitsamt (389 Seiten)

In Stockholm wohnte ich anschließend noch für eine Woche im Hotel und besuchte dort auch die von mir sehr verehrte Pionierin der Sexualerziehung in Schweden, Maj-Briht Bergstöm-Walan, und ihre Lebensgefährtin. Bei herrlichem Sommerwetter saßen wir unter freiem Himmel, aßen Lachs und sprachen nicht nur über Sex, sondern auch über den von uns allen geliebten Jussi Björling, dessen Aufnahme schwedischer Lieder ich morgens früh zum ersten Mal im Radio gehört hatte. Zum Abschied schenkten mir die beiden Frauen dann eben diese CD, die ich noch heute immer wieder gerne höre.


Foto: Wikimedia Commons

Maj-Briht Bergstöm-Walan
1924-2014

Die Reise hatte noch zwei weitere kulturelle Höhepunkte: Außerhalb Stockholms, im historischen Drottningholm-Theater, sah ich die Aufführung der Oper Orlando Paladino von Joseph Haydn und in der Stadt eine umfassende Ausstellung der Werke des genialischen ungarischen Malers Csontváry, die man außerhalb seines Geburtslandes so gut wie nie zu sehen bekommt.

3. Umzug nach Berlin-Mitte

Zwei Jahre später, 1996, erfolgte dann der nächste große Schritt: Das Robert Koch-Institut bot mir an, in größere Räume auf dem Charité-Gelände in Berlin Mitte umzuziehen. Das Bundesgesundheitsministerium verfügte dort nämlich über ein Haus, das gerade renoviert worden war. Also zog ich mit allem, was sich inzwischen angesammelt hatte, in die Hannoversche Straße 27 und belegte dort das Erdgeschoss. Nach einiger Zeit zog dann das Deutsche Rheuma-Forschungszentrum (DRFZ) als Untermieter provisorisch in die oberen Geschosse ein und wartete auf seinen Neubau in der Nähe. Unser ideal gelegenes gemeinsames Gebäude - oben Rheuma, unten Sex - wurde bald von Spöttern Haus der steifen Glieder genannt, aber es war ein Ort intensiver Aufbauarbeit. Durch ein Berliner Wiedereingliederungsprogramm von Arbeitslosen konnte ich genügend geeignete Mitarbeiter finden, die für jeweils ein Jahr vom Land Berlin bezahlt wurden. Zeitweilig beschäftigte ich auf diese Weise bis zu einem Dutzend, zum Teil sehr junge, tüchtige Leute. Für die Arbeitsplätze standen uns jedenfalls genügend Räume und Computer zur Verfügung.

Das Archiv für Sexualwissenschaft in Berlin-Mitte 1996-2001

 

Außen: Blick auf das Gebäude von der Hofseite

Innen: Ein Schrank mit einem Teil der Archiv-Sammlungen.
Hier: Gastgeschenke aus China  

Hier sind einige Beispiele für chinesische Geschenke, die sich im Laufe der Jahre bei uns angesammelt haben. Teilweise wurden sie mir in China selbst übergeben, teilweise von meinen Besuchern nach Berlin mitgebracht. Heute sind sie Teil meines Haeberle-Hirschfeld-Archivs in der HU-Zentralbibliothek.

Geschenke aus China

Von links: 1. Eine Schriftrolle mit meinem Namen und einem Gedicht: Ein persönlich gehaltenes Geschenk von Prof. Liu Dalin und Dr. Hu Hongxia vom China Sex Museum in Tongli. Das Gedicht ist ein Chinese couplet,
d.h. in einer Form, bei der zwei senkrechte Zeilen mit gleicher Anzahl von Zeichen (hier sieben) in Intonation und Reim zusammenpassen müssen.
Der Text heiß auf deutsch etwa:
Die Geschichte besteht aus Millionen von Liebesgeschichten;
Wer weiß nicht, wie wichtig sie sind?

2. Lust-Buddha. Die tibetisch-tantrische Bronzeskulptur zeigt Buddha in erotischer Umarmung mit Shakti, der weiblichen elementaren Lebenskraft.
3. Altertümliche Brautgabe. Wenn die Braut den Deckel dieser kleinen Porzellanfrucht hob, zeigte sich darunter ein Paar beim Geschlechtsverkehr als Illustration ihrer ehelichen Pflichten.

Einige meiner jüngeren Mitarbeiter besaßen sehr gute Computerkenntnisse und erklärten mir, dass wir unbedingt das damals noch relativ neue Internet nutzen müssten. Ich war in dieser Beziehung noch recht unbedarft, aber ihre wiederholten Vorführungen dieses neuen Mediums machten mich bald zum überzeugten Anhänger. Also begannen wir, allerlei Wissenswertes über sexuelle Gesundheit frei zugänglich ins Netz zu stellen, und zwar nach den mittlerweile wiederholt veröffentlichten Empfehlungen und Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dies war durchaus im Sinne des Robert Koch-Instituts, das ja seine anderen Gesundheitsinformationen ebenfalls für alle Nutzer kostenlos im Internet publizierte. So bauten wir allmählich neben unserem realen Bibliotheksarchiv noch ein zweites, virtuelles, rein elektronisches Archiv in mehreren Sprachen auf. Diese Bemühungen fanden im Laufe der Zeit auch internationale Anerkennung, und so wurde unser Archiv mit den Goldmedaillen der größten sexologischen Fachgesellschaften ausgezeichnet.

Goldmedaillen für das Archive for Sexology

Von links: Goldmedaille der China Sexology Association (CSA) 1998.
Goldmedaille der World Association for Sexology (WAS) 2001.
Goldmedaille der European Federation of Sexology (EFS) 2006.

Etwa um diese Zeit konnte Gene sein 25. Dienstjahr als Lehrer feiern. In Anerkennung seiner Verdienste gewährte ihm die kalifornische Schulbehörde ein Sabbatical, d.h. ein bezahltes Urlaubsjahr. Dafür zog er zu mir in Berlin. Er nutzte die Zeit, um deutsche und andere europäische Schulen zu besuchen und darüber einen Bericht zu verfassen. Bald darauf, nach seiner Frühpensionierung, wurde er dann in Berlin mein unbezahlter Forschungsassistent, half mir bei der Arbeit und begleitete mich bei allen weiteren Kongressen in China und in anderen Ländern.

Nach einigen Jahren kam mir der Gedanke, dass wir, ohne es zuerst selber richtig zu merken, eigentlich dabei waren, Magnus Hirschfelds früheres Institut in moderner Form wieder erstehen zu lassen. Tatsächlich kamen immer mehr Besucher unseretwegen nach Berlin. So empfingen wir im Laufe der Zeit Einzelne und Gruppen aus aller Welt: Ägypten, Argentinien, Australien, Belgien, Bulgarien, China, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, Kanada, Mexico, Nicaragua, Niederlande, Nordkorea, Norwegen, den Philippinen, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Spanien, Südafrika, Südkorea, Taiwan, Tschechien, Ungarn und USA. Dazu kamen noch jeden Monat über 400 000 Online-Besuche (visits)  aus über 100 Ländern - bei monatlich über 8 Mio. Zugriffen (hits). Das Archiv war damit de facto der Neugründung eines Hirschfeld-Instituts schon recht nahe gekommen.

Aus der Stadt selbst erschienen allerdings nur wenige wirkliche Interessenten. Ich erinnere mich aber an die sehr flüchtigen Stippvisiten des neu an die Charité berufenen Sexualmediziners Klaus Beier und des Bremer Soziologen Rüdiger Lautmann. Wir erhielten auch Besuch von Vertretern der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Aber offensichtlich sah keiner von diesen hier einen Ansatz zur Wiederbelebung von Hirschfelds Erbe.

So zeigte sich schon recht früh, was sich später endgültig bestätigen sollte: In Berlin war niemand wirklich an der Wiedererrichtung eines multidisziplinären Instituts für Sexualwissenschaft interessiert - eine für mich schockierende Einsicht. Wir besaßen ja mit unserem Archiv bereits die nötigen Voraussetzungen, und zwar mitten in der Stadt. Darauf hätten wir nach meiner Pensionierung vom Robert Koch-Institut leicht aufbauen können, aber die dafür nötige Hilfe blieb aus. Zwar stellte uns die Humboldt-Universität im Jahre 2001 noch größere Arbeitsräume zur Verfügung, aber die Grundsituation änderte sich dadurch nicht. Wir bekamen weder die finanzielle noch moralische Unterstützung für eine umfassende Sicherung, Neubelebung und Vermehrung unseres deutschen sexologischen Erbes. Keine wissenschaftliche Einrichtung oder Organisation, keine Stiftung, keine Zeitschrift oder Zeitung zeigte auch nur das allergeringste Interesse. Die einfache Tatsache war und blieb: Ein echtes Hirschfeld-Institut im Sinne seines Gründers wollten weder die Universität noch irgendwelche Schwulenorganisationen. Die erstere hatte sich bereits auf das Teilgebiet Sexualmedizin festgelegt, und die letzteren wollten nichts weiter als eine Dauereinrichtung zur Erforschung der Homosexualität. (Sollte sie noch zustande kommen, so wird sie wohl eher sozialpolitischen als wissenschaftlichen Zwecken dienen.) Der breite Ansatz unseres Doppel-Archivs mit Bibliothek und vielsprachigem Online-Angebot passte eben nicht zu solchen begrenzten Zielen.

Das Archiv für Sexualwissenschaft 1996-2001

Fünf Jahre lang - bis zu meiner Pensionierung - befand sich das Archiv als Einrichtung des
Robert Koch-Instituts (RKI) auf dem Campus der Charité (Hannoversche Str. 27)


Am Eingang mit dem Schild des RKI                                   In meinem Büro             


  Arbeitsraum 1                 Arbeitsraum 2


Teilansicht des Seminar- und Konferenzraums. Er enthielt, hier nicht sichtbar, neben großen Wandschränken, die neueste technische Ausrüstung für Film- und Internet-Vorführungen.
An den Wänden Fotos der Berliner sexologischen Pioniere.


    Archivregale Arbeitsraum 3         Archivregale Arbeitsraum 4


Großer Arbeitsraum (Nr. 5)          Großer Arbeitsraum (Nr. 6)

Das Archiv war zu den üblichen Bürozeiten für Besucher frei zugänglich und wurde auch von
Studierenden und anderen Interessierten rege genutzt. Besonders unsere Bibliothek mit ihren historischen Dokumenten zog ausländische Forscher an.

Zwei Ausstellungen in Berlin

1. Chinesische Erotica und andere Ausstellungen

Inzwischen hatte mich mein chinesischer Kollege Liu Dalin schon zweimal in Berlin besucht, und unsere ursprüngliche Arbeitsverbindung hatte sich zu einer engen Freundschaft entwickelt. So gelang uns im Sommer 1995 ein echter Coup: In der Staatsbibliothek Unter den Linden zeigten wir, zum ersten Mal in Europa, wichtige Teile seiner Sammlung chinesischer Erotica unter dem Titel 5000 Jahre Sexualkultur in China. (51)

Ausstellung von Teilen der Sammlung Liu Dalin
in der Staatsbibliothek Unter den Linden, Berlin, 2. Juni-22. Juli 1995

Diese 6-wöchige Ausstellung fand ein großes, positives Medienecho. Sie enthielt ca. 200 Objekte in 10 Abteilungen: Prähistorische Fruchtbarkeitskulte, Formen der Ehe, die menschliche Fortpflanzung im Wandel der Zeiten, Sexualität und Alltagsleben, Sexualaufklärung, erotische Techniken, die Unterdrückung der Frau, Sexualität und Religion, erotische Kunst und Sexualmedizin. Es war die erste Ausstellung ihrer Art in Europa, und am Ende hatte sie über 20 000 Besucher gehabt.

Als Resultat verfassten wir dann gemeinsam ein populär gehaltenes Buch zum Thema in deutscher Sprache: Die Harmonie von Yin und Yang. Leider zerschlug sich eine geplante Druckpublikation in letzter Minute, und so machten wir es einfach im Internet zugänglich. Dabei mussten wir natürlich auf die allermeisten, weil sexuell sehr explizierten Illustrationen verzichten. Die ursprüngliche Ausstellung ließ sich also leider in unserem weltweit frei zugänglichen elektronischen Archiv nicht wiedergeben. Prof. Liu verfasste aber in chinesischer Sprache noch weitere eigene Bücher zur Sexualgeschichte seines Landes, die er unserem Archiv schenkte.

5000 Jahre Sexualkultur in China

Die Initiatoren
Prof. Haeberle (links) und Prof. Liu (rechts) 1995 mit einer Bildrolle
während der Ausstellung in der Staatsbibliothek Berlin, Unter den Linden.


Einige der Exponate
Oben Links: Phallische Symbole aus Jade und Stein. Ca. 2000 v. Chr., Höhe ca. 15 cm.
Oben Rechts: Runde Jadestücke als Symbole der weiblichen Geschlechtsorgane.
Ca. 1000 v. Chr., Durchmesser: ca. 15 und 20 cm.


Unten von  Links: Tongefäß, verziert mit Darstellungen der Vulva. Ca. 3000 v. Chr.
Tanzende Prostituierte. Porzellanfiguren. 8.- 9. Jh. n. Chr.
Glückliches Ehepaar, Porzellan. 19. Jh. n. Chr.

Im Laufe der Jahre wurde die Sammlung meines Freundes Liu Dalin immer größer, und so war es ihm möglich, in China damit zwei Museen zu eröffnen - zuerst in Shanghai und schließlich in Tongli, einer kleineren, sehr malerischen, denkmalgeschützten und bei chinesischen Touristen sehr beliebten Stadt etwa 80 km südlich von Schanghai.

Zwei neuartige Museen in China

Zu Beginn unseres Jahrhunderts zeigte Prof. Liu Dalin seine sexologische Sammlung in zwei für China bahnbrechenden Museen. Eins davon befand sich in Schanghai und das andere in der denkmalgeschützten, kleinen Stadt Tongli. Beide sind inzwischen geschlossen, da die weiterhin enorm gewachsene Sammlung, nun aufgeteilt an vier anderen Orten ausgestellt wird, wo sie noch mehr Besucher anzieht.

  
Linkes Foto: Am Eingang des China Sex Museums in Schanghai (Pudong).
Links von mir: Mein Partner Gene. Rechts von mir: Prof. Liu
Rechtes Foto: Am Eingang des China Sex Museums in Tongli.
Rechts von mir: Dr. Hu, Prof. Liu, Gene.

Das Museum in Schanghai, war sehr leicht erreichbar, zunächst in der berühmten Einkaufstraße Nanjing Road, dann im neuen Luxus-Stadteil Pudong. Es war sehr eindrucksvoll und auch populär, aber das neue in Tongli auf einem eigenen, abgeschlossenen, großen Gartengelände stellte noch eine erhebliche Steigerung dar. Es handelte sich um den Campus einer früheren exklusiven Schule mit allen entsprechenden Gebäuden. Ich konnte dies Museum zweimal besuchen und dabei einen Kooperationsvertrag mit meinem geschätzten Kollegen abschließen. Auch die Stadt Tongli erwies sich als sehenswert. An einem See gelegen, bot es eine historische Innenstadt, durchzogen von Kanälen und auf einer Insel ein altes buddhistisches Kloster. Am Ufer entstanden nach und nach moderne Luxushotels. Die Museen in Schanghai und Tongli sind inzwischen geschlossen. Heute präsentiert Prof. Liu seine gesamte, inzwischen gewaltig angewachsene Sammlung in insgesamt vier Museen: In Wuhan und in noch in drei anderen Museen, nämlich am heiligen Berg Maoshan und in der Stadt Nantong (beide in der Provinz Jiangsu) und auf der Tropeninsel Hainan, heute ein bevorzugtes Ziel chinesischer Hochzeitsreisender.

Die Museen von Prof. Liu Dalin

Ein Museum bestand in Tongli von 2004-2014.
Es war in mehreren Gebäuden eines großen Campus untergebracht, der wiederum von einer
hohen Mauer umgeben war. Hier Ansichten des Museumsgartens im Oktober 2004.
Oben links: Mit den Direktoren Prof. Liu und Dr. Hu.
Die anderen Fotos zeigen den Museumsgarten mit Gästehaus, Museums-Shop und Teepavillon.
Unten rechts: Unterzeichnung unseres Kooperationsvertrags

Prof. Liu's neues Museum an dem taoistischen heiligen Berg Maoshan in Changzhou,
südlich von Nanjing in der Provinz Jiangsu.

2. Kleine historische Ausstellung bei Beate Uhse

Ein Jahr später, 1996, eröffnete die Firma Beate Uhse ein Erotic Museum in Berlin, das mit einem Sex Shop und einem Erotic-Kino verbunden war und in der Nähe des Bahnhofs Zoologischer Garten bis 2014 bestand. (Inzwischen ist das ganze Gebäude abgerissen und durch ein neues ersetzt worden, dass keine Räume mehr für die Fa. Beate Uhse enthält.)

Das Beate Uhse Erotic Museum


Foto: Wikimedia Commons

Offensichtlich brauchte man hier zunächst ein kleines wissenschaftliches Feigenblatt für diese rein geschäftliche Unternehmung. Deshalb bot man mir kostenlos einen ganzen Raum des Museums an für die Geschichte der Sexualwissenschaft und ihrer Berliner Pioniere. Dort könnte ich, völlig nach meinem Gutdünken, die Dokumente meiner Sammlung präsentieren. Alle Schaukästen würde die Firma liefern, und sie würde auch die nötigen Schautafeln herstellen. Nachdem ich 1983 trotz intensiver Versuche meine eigene Ausstellung nicht hatte nach Berlin bringen können, sah ich nun eine zweite Chance, wenigstens etwas für das Gedächtnis unserer wissenschaftlichen Vorläufer zu tun. (Bis dato hatte keine Berliner Universität dazu Veranlassung gesehen.) Tatsächlich hielt die Firma Beate Uhse ihr Wort und führte alles so aus, wie ich es gewünscht hatte. Zur Museumseröffnung zeigte sich dann mein sexologischer Geschichtsraum als durchaus präsentabel und instruktiv. Für die vielen anderen Räume hatte man teilweise sehr wertvolle Sammlungen zusammengekauft, diese aber ohne jeden Sachverstand ziemlich wahllos mit allerlei Kuriositäten und kommerziellem Kitsch vermischt. Beate Uhse war selbst erschienen, fand es aber nicht nötig, mit mir zu sprechen. Ich bin ihr also niemals persönlich begegnet. Wo ihre wahren Interessen lagen, stellte sich denn auch früh genug heraus: Nach einer gewissen Zeit bat mich ihre Firma, meine Ausstellungsstücke wieder abzuholen. Offensichtlich hatten sie ihre Pflicht getan. Heute befinden sie sich, als Teil meiner Sammlungen im Haeberle-Hirschfeld-Archiv der Humboldt-Universität.


Bisexuellen-Kongress

Ebenfalls im Jahr 1996 besuchte ich an der Freien Universität Berlin die 4. International Conference on Bisexuality (ICB) - eine Veranstaltungsreihe von Aktivisten und Akademikern, die schon ein Jahr nach unserem rein wissenschaftlichen Bisexualitäten-Kongress begonnen hatte.

  

Die Bisexuellenbewegung
Im Jahre 1990 hatte ich im Berliner Reichstag den ersten wissenschaftlichen Kongress zum Thema veranstaltet. Ein Grund: Bisexuelles Verhalten war noch wenig erforscht, spielte aber in der AIDS-Epidemie eine wichtige Rolle. Außerdem: Die Bisexuellen fühlten sich sowohl von den Heterosexuellen wie von den Homosexuellen abgelehnt und nicht ernst genommen.
Deshalb hatten sie schon in den siebziger Jahren begonnen, sich zu organisieren. Seit 1991
lud die neue Bewegung dann auch zu ihren eigenen internationalen Kongressen ein wie z.B.
den von 1996 den in Berlin.
Links: Maggi Rubenstein, Gründerin des Bisexuellenzentrums in San Francisco.
Rechts: Fritz Klein, Autor des bahnbrechenden Buches The Bisexual Option und
Gründer des American Institute of Bisexuality.

Ihren ursprünglichen Initiator, Fritz Klein, kannte ich noch als Gastdozenten an unserem Institut in San Francisco. Den Gastgeber und Eröffnungsredner Gert Mattenklott hatte ich sogar noch früher kennengelernt, nämlich an der Yale-Universität, wo er eine Zeit lang ebenfalls recherchierte. Von seiner eigenen Bisexualität erzählte er mir aber erst später in Berlin. Und so war es auch mit meinem Freund Oswalt Kolle, der ebenfalls an der Konferenz teilnahm und sich dabei öffentlich zu seinen eigenen bisexuellen Erfahrungen bekannte. (Alle drei sind inzwischen verstorben.)


100 Years of Gay Liberation

Im Jahre 1997 gab es wieder ein Jubiläum: Magnus Hirschfeld und andere hatten 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komité gegründet – weltweit die erste Organisation, die für die Rechte Homosexueller eintrat und die Straffreiheit für sexuelle Handlungen zwischen Männern forderte. Wir nutzten die Gelegenheit, erneut einen internationalen Kongress an der Humboldt-Universität zu veranstalten, diesmal unter dem Titel 100 Years of Gay Liberation. Die Vortragsredner kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Argentinien, China, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn, Norwegen, Schweden und den USA. Unsere Hirschfeld Medaillen verliehen wir an Jonathan Ned Katz (für Sexualforschung) und an Maj-Briht Bergström-Walan (für Sexualreform). Zum Abschluss luden wir alle Teilnehmer zu einem großen Büffet in unserem Archiv ein und so bekamen wir dort zum ersten Mal ein richtig volles Haus. Unsere Gäste wanderten angeregt durch die verschiedenen Räume und waren erstaunt, mitten in Berlin eine solche Einrichtung zu finden. Viele von ihnen sahen hier auch schon die Keimzelle eines neuen Instituts für Sexualwissenschaft und hofften auf dessen baldige Gründung.

Zu dieser Zeit empfingen wir auch verschiedene prominente Besucher aus San Francisco wie z.B. Tom Ammiano, den offen schwulen Nachfolger des ermordeten Stadtrats Harvey Milk.

Besuch von Tom Ammiano


Das Foto zeigt Tom Ammiano in meinem Büro in Berlin-Mitte.

Im Sommer 1997 fand in der Berliner Akademie der Künste eine große Austellung, wiederum zum Gedenken an das Wissenschaftlich-humanitäre Komité (WhK), die weltweit erste Schwulenorganisation. Sie kämpfte für die Straflosigkeit privaten homosexuellen Verhaltens unter Erwachsenen (d.h. die Abschaffung des entsprechenden § 175 im Strafgesetzbuch) und gab u.a. zur Aufklärung der Öffentlichkeit auch die Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen heraus. Da ich in meinem Archiv den einzigen greifbaren, kompletten Satz dieser Jahrbücher (25 Bde.) besaß, stellte ich ihn gerne zur Verfügung. Die Ausstellung unter dem Titel Goodbye to Berlin – Hundert Jahre Schwulenbewegung lief vom 17. Mai bis zum 17. August. Wie im Titel angedeutet, stellte sie anhand vieler Originalexponate ein ganzes Jahrhundert des Kampfes für die Rechte von Homosexuellen vor. Sie wurde begleitet durch Referate von Autoren aus mehreren Ländern. Auch ich selbst und mein chinesischer Kollege Liu Dalin traten dabei mit eigenen Vorträgen auf. Deren genaue Titel sind mir inzwischen entfallen. Leider wurde aus verschiedenen Gründen versäumt, alle Vorträge und die Ausstellung insgesamt zu digitalisieren. So kehrten am Ende all die kostbaren Leihgaben undokumentiert zu ihren weit verstreuten Besitzern zurück – ein großer Verlust für die Wissenschaft, der nicht mehr aufzuholen ist.

Ausstellung Goodbye to Berlin? Hundert Jahre Schwulenbewegung

Für diese Ausstellung lieh mein Archiv den kompletten Satz der Jahrbücher aus (25 Bde.).
Von links: Einband und Titelseite eines Jahrbuchs, illustrierter Band zur Ausstellung
von Andreas Sternweiler im Verlag Rosa Winkel, Berlin.


Besucher unseres Archivs

1. Studiengruppen

Zum Beispiel konnte ich im Juli 1998 eine deutsch-chinesische Konferenz zur sexuellen Gesundheit organisieren. Mitveranstalter waren meine Kollegen Prof. Liu Dalin (Shanghai Sex Sociology Research Center) und Prof. Karl-Friedrich Wessel (Institut für Humanontogenetik an der HU). Die Konferenz fand im Senatssaal der Humboldt-Universität und in den Räumen des Archivs statt. Darauf folgte eine Woche informeller Workshops und Seminare. Die 38 chinesischen Teilnehmer (traditionelle und moderne Mediziner, Soziologen, Pädagogen, Kulturhistoriker und Verwaltungsfachleute) kamen aus verschiedenen Regionen Chinas.

Deutsch-chinesische Konferenz zur sexuellen Gesundheit
Berlin, 17. -21. Juli 1998

Die chinesische Delegation vor dem Eingang des Archivs für Sexualwissenschaft.
Nebeneinander stehend in der zweiten Reihe vor der Eingangstür:
Prof. E. J. Haeberle (dunkles Jackett) und Prof. Dalin Liu (helles Jackett).

Im Laufe der Jahre führten wir dann mehrfach Informationsseminare für Studentengruppen aus verschiedenen Ländern durch. Im Oktober 1998 zum Beispiel erhielten wir Besuch von einer amerikanischen Studentengruppe der School for International Training in Amsterdam mit ihrer Leiterin Prof. Virginia Fleck. Dort nahmen sie an einem Programm Sexuality, Gender & Identity teil und besuchten deshalb verschiedene sexologische Institutionen in Europa. Im folgenden Januar besuchte uns eine Studentengruppe von der School of Policy Studies der University of Bristol mit Prof. Tom Davis. Die Studenten kamen aus Großbritannien und Kambodscha, Kanada, Singapur, der Schweiz und den USA. Sie interessierten sich vor allem für Berliner Institutionen von nationaler und internationaler Relevanz. Die Verbindung zu unserem Archiv ergab sich aus der Geschichte der Sexualwissenschaft, deren gewaltsames Ende durch die Nazis eng mit dem Schicksal ihrer jüdischen Pioniere und dem verschiedener sexueller Minderheiten verknüpft war. Wir informierten die Besucher über den Beginn der Sexualwissenschaft in Berlin und ihre seitherige weltweite Entwicklung. Außerdem demonstrierten wir ihnen unser mehrsprachiges Online-Archiv, von dem sie vorher nichts gewusst hatten. Und so war es auch mit anderen, später nicht mehr fotografisch dokumentierten studentischen Gruppen.

Besuche von ausländischen Studentengruppen

In unserem Archiv in Berlin Mitte empfingen wir Studentengruppen aus verschiedenen Ländern
zu Informationsseminaren. Hier zwei frühe Beispiele:
Links: Die Gruppe aus Amsterdam. Die Studiendirektorin V. Fleck sitzt links von mir am Tischende.
Rechts: Die Gruppe aus Bristol mit Prof. Davis rechts am Tisch, ich selbst sitzend in der Mitte.

2. Einzelbesucher

Der erste ausländische Besucher in unseren neuen Räumen war Prof. Edwin H. Yen von der National Taiwan Normal University in Taipei. Er blieb mehrere Tage in Berlin, so dass ich Gelegenheit hatte, ihn eines Abends in den Friedrichstadtpalast einzuladen. Die dortige große Revue gefiel ihm sehr, wie allen, die sie jemals erlebt haben. Viele Jahre später traf ich ihn in Taiwan wieder, und er schwärmte immer noch von der Show in Berlin.


Links neben mir: Prof. Edwin Yen.

Ein Besucher aus Berlin ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Dr. Giuseppe Vita, der Chef (CEO) der Schering AG, nahm sich einen Nachmittag Zeit, unser Archiv zu besichtigen und sich seine Geschichte und Ziele erklären zu lassen. Er zeigte sich sehr aufgeschlossen, war überrascht und beindruckt und wünschte uns für die Zukunft viel Erfolg. Schering hatte uns durch den Leiter seiner Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Gert J. Wlasich, schon seit 1990 bei allen unseren Berliner DGSS-Kongressen mit großzügig gespendetem Material unterstützt (Kongress-Tragetaschen, Notizblocks, Kugelschreiber usw.), das wir kostenlos an unsere Teilnehmer verteilen konnten. Auch beim großen kombinierten DGSS-EFS-Kongress im Jahre 2000 war Schering mit den entsprechenden Werbe-Geschenken wieder hilfreich zur Stelle.

Ein Forscherteam aus Chicago und ein Professor aus Australien

Im März 1999 besuchten uns für mehrere Tage zwei Gäste aus Chicago und fotografierten Dokumente aus unserem Archiv for ein neues Internet-Projekt über schwule Geschichte.
Einen Monat später besuchte uns ein Professor von der Western Sydney University, Australien,
mit einem seiner Studenten. Beide zeigten sich sehr interessiert an unserem Online-Archiv,
das sie für ihr Ausbildungsprogramm nutzen wollten.

  

Links: Das amerikanische Forscherteam Wik Wikholm MA und Dr. Beatrice Finkelstein.
Rechts: Prof. Sung-Mook Hong aus Sydney in einem unserer Leseräume.

3. Dr. X

Im Jahr 1998 machte ich auch noch eine neue, wichtige Bekanntschaft, und zwar mit dem unter Sexologen legendären, aber immer unerreichbaren Dr. X. Nach intensiver Suche fand ich schließlich seine geheim gehaltene Adresse heraus: Er lebte in einer größeren europäischen Stadt. Es gelang mir dann auch noch, ihn dort aufzusuchen und mich mit ihm anzufreunden. Diesen Besuch bei Dr. X erwiderte er bald darauf, kam nach Berlin in mein Büro und in meine Wohnung, wo wir uns mehrere Tage intensiv unterhalten konnten. Wie nicht anders erwartet, änderte er auch in Berlin seine sexuellen Gewohnheiten nicht. Von seinem Hotel aus suchte er jeden Abend verschiedene Pornokinos auf, in denen er willige Partner fand. Am nächsten Tag erzählte er mir dann die Einzelheiten. Bemerkenswert war dabei, dass er schwule Kinos und überhaupt unser weltbekanntes schwules Stadtviertel sorgsam mied, denn, wie er sagte, hatte er dort keine Erfolgschancen.

Er hatte übrigens eine alte sentimentale Verbindung zu Berlin, denn vor dem Zweiten Welt-krieg war er Medizinstudent an der Charité gewesen. Er war dann dort als Ausländer von der Gestapo als Spion und Widerständler verhaftet worden. Die Kriegsjahre verbrachte er in Haft und verschiedenen Strafbattallionen. 1945 wurde er in Wien zum Tode verurteilt, aber von der Roten Armee in letzter Minute befreit. Nach dem Krieg wurde er ein erfolgreicher internationaler Geschäftsmann, lernte Alfred Kinsey kennen und korrespondierte mit ihm regelmäßig, ebenso später mit Wardell B. Pomeroy. Wie sich bei unserem Treffen heraus-stellte, hatten wir außer diesem noch andere gemeinsame Bekannte. Wir blieben brieflich und telefonisch in Kontakt bis zu seinem Tod 2005 im Alter von 92 Jahren.


Dr. X im Alter von 85 Jahren

Was sein von ihm selbst über 50 Jahre lang gründlich dokumentiertes Sexualleben angeht, einer der interessantesten Männer seiner Zeit. schenkte er mir dann seien gesamten Nachlass (26. Juli 1999: Ich überlasse meine Aufzeichnungen und meine Korrespondenz zur wissenschaftlichen Auswertung Herrn Prof. Haeberle persönlich.) Ich habe dann diese vielen hundert Papiere, die einen Zeitraum von über 50 Jahren umfassen, auf eigene, enorme Kosten transkribieren lassen, und so sind sie nun allesamt auf einer einzigen Diskette verfügbar. Sie befinden sich heute, einschließlich seiner Bibliothek, im Haeberle-Hirschfeld-Archiv und warten auf ihre Auswertung durch ein Team qualifizierter Forscher, die dafür mehrere Jahre intensiver Arbeit benötigen werden. Ich selber war mit dem Ausbau meines elektronischen Archivs bereits mehr als ausgelastet und hatte nie die Zeit, diese gewaltige Aufgabe in Angriff zu nehmen. Ich weiß aber dies: Sie wird im Ergebnis viele gängige Annahmen über die sexuelle Orientierung in Frage stellen. (52)

Dr. X: Grafik seiner sexuellen Kontakte im Alter von 35 – 85 Jahren

Jährliche Zahl der Sexualpartner, die durch Dr. X zum Orgasmus kamen.
Jährliche Zahl der eigenen Orgasmen von Dr. X.

Auf Anregung von Alfred Kinsey hatte Dr. X noch als relativ junger Mann begonnen, ein genaues sexuelles Tagebuch zu führen, eine Gewohnheit, die er über 50 Jahre lang pflegte.
Während dieser Zeit lebte er für längere und kürzere Zeit in verschiedenen Ländern. In den Jahren um 1980 lebte er in Indien, wo er, wie man hier sieht, die meisten Sexualpartner fand.
(Allein im Jahre 1984 waren es 1500 Sexualpartner.)

4. Besuch aus Spanien

Im August 1999 bekam unser Archiv Besuch von der Universität von La Laguna, Teneriffa (Spanien). Die Universität hatte ein Magister-Programm über menschliche Sexualität entwickelt und war an internationaler Zusammenarbeit interessiert. Unsere Kollegen waren besonders von der spanischen Fassung unseres Websites begeistert, der bereits eine spanische Online-Bibliothek anbot. Als Ergebnis dieses Besuchs lud mich dann Prof. Barràgan Medero in den folgenden drei Wintersemestern zu Vorträgen an seine Universität ein. Schließlich wurde unser spanisches eLearning Curriculum offiziell in den Lehrplan aufgenommen.

Besuch aus Teneriffa

In meinem Berliner Büro von links: Ms. Guerra Perez, Prof. Haeberle, Prof. Diaz Padilla, Prof. Barragàn Medero.

Campus-Ansichten der Universität von La Laguna

  

Hier wurde ich in den Wintersemestern 2000, 2001 und 2002 zu Vorträgen eingeladen.
Gene und ich nutzten jedes Mal die Gelegenheit für einen 4-wöchigen Strandurlaub
an der sonnigen Südküste der Insel.

5. Andauerndes internationales Interesse

Im Laufe der Jahre kamen viele Besucher aus weit entfernten Ländern in unser Archiv, ja, sie kamen sogar noch in meine Freiburger Wohnung, nachdem ich Berlin längst verlassen hatte.

Archiv-Besucher aus aller Welt

Unser Archiv und auch ich selbst empfingen im Laufe der Jahre viele interessante Besucher
aus aller Welt. Die Fotos zeigen eine kleine Auswahl von ihnen mit ihren Besuchsdaten.
Von oben links nach rechts und von oben nach unten in der gleichen Reihenfolge:
1. Prof. Hong Un Jae und Prof. Kim Jae Yong vom Red Cross General Hospital in Pyöngyang,
Demokratische Volksrepublik Korea.(Dezember 2000) 2. Der ägyptische Bestseller-Autor Dr. Alaa
Al Aswany
(September 2008). 3. Prof. Osmar Juan Matsui Santana von der Universität
Guadalajara, Mexico (Juni 2009). 4. Adin Talbar, Jerusalem, der Sohn von Felix Theilhaber
(sein dritter Besuch im März 2010). 5. Prof. Hiroyuki Wagata von der Universität Osaka (sein
dritter Besuch im April 2012). 6. Prof. Li Yinhe vom Institut für Soziologie an der the Chinese
Academy of Social Sciences in Peking (September 2012). 7. Yuki Shimada, M.A., eine Doktorandin
an der Waseda Universität in Tokio (November 2012). 8. Dr. Olga Marega vom Zentrum
Sexualidad y Educación in Tandil, Argentinien (April 2013). 9. Prof. Vladimir Shelest (links) und Prof. Dmitry A. Trubitsyn (rechts) von der Staatsuniversität Nowosibirsk, Russland (Januar 2014).

Einer der oben erwähnten Besuche hatte allerdings eine unerwartete Folge: Was die Sexualaufklärung in China angeht, so ist die Professorin Li Yinhe aus Peking dafür seit Jahren die bekannteste und populärste Wissenschaftlerin mit einer wohlverdienten Autorität und Glaubwürdigkeit. Sie ist mit einem - vormals weiblichen - transsexuellen Mann verheiratet, hat eine packende, ehrliche Autobiographie geschrieben und unterhält bis heute im Internet einen Blog mit Millionen von Leserinnen und Lesern.

Prof. Li Yinhe und ihr Ehemann


Im Jahre 2014 enthüllte Prof Li Yinhe (rechts) in ihrem Blog, dass ihr 12 Jahre jüngerer Ehemann ein vormals weiblicher Transsexueller ist (links).
Sie nennt ihn ihren Ritter.
Inzwischen sind sie seit 21 Jahren verheiratet.

Anlässlich ihres Besuchs bot sie mir an, ihrer Blog-Gemeinde meinen chinesischen Studiengang zur sexuellen Gesundheit zuempfehlen. Natürlich nahm ich dieses Angebot sofort sehr dankbar und begeistert an, denn ich war mir der unvermeidlichen Konsequenzen nicht bewusst. Kaum hatte sie nämlich in ihrem Blog ihre Empfehlung abgegeben, als viele Zehntausende in ihrer Lesergemeinde prompt und gleichzeitig unser Online-Archiv aufriefen. Dies führte aber zum Zusammenbruch des Universitäts-Servers. Dort konnte man sich das nur durch einen Hacker-Angriff (cyber attack) erklären und schaltete unser Archiv sofort für mehrere Wochen ab. Danach war das Interesse in China soweit abgeflaut, dass unser Angebot wieder freigeschaltet werden konnte. Diese Episode machte mir deutlich, dass die Humboldt-Universität, genauso wie andere deutsche Universitäten, auf eine wirklich globale Rolle im Internet nicht vorbereitet war.


Eine längere China-Reise

Durch meine Freundschaft mit Prof. Liu, der in China sehr bekannt war und seine zahlreichen Verbindungen nutzte, erhielt ich im Laufe der Jahre weitere Einladungen. Insgesamt konnte ich so das Land sechsmal bereisen. Der längste und interessanteste dieser Besuche war eine Rundreise durch neun Städte vom 22. August bis zum 29. September 1999: Hong Kong, Peking, Tianjin, Jinan, Hefei, Fuyang, Nanjing, Schanghai und Hangzhou. Dabei wurden alle Kosten von meinen Gastgebern übernommen. An jedem Ort hielt ich Vorträge und führte dabei mein elektronisches Archiv vor. Auf ausdrücklichen Wunsch meiner Gastgeber behandelte ich die folgenden Themen:

  • Sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung
  • Geschichte und Zukunft der sexuellen Menschenrechte
  • STD-Prävention als gesellschaftliche Aufgabe

In Peking besuchte ich das Hauptquartier der China Family Planning Association, die über 80 Millionen Mitglieder hat. Ihr Direktor, Liu Hanbin, machte mir im folgenden Jahr einen Gegenbesuch in Berlin.

In Tianjin hielt ich auf Wunsch meines Gastgebers, Prof. Cui Yitai, in der Universität einen 150-minütigen Vortrag vor etwa 80 Zuhöreren zum Thema "Sexuelle Rechte und sexuelle Gesundheit". Wiederum nahm ich dabei unseren Website zuhilfe und entwickelte aus  verschiedenen historischen Dokumenten die heutige Forderung nach sexuellen Rechten - angefangen von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ("pursuit of  happiness") über die "Universelle Erklärung der Menschenrechte" der französischen Revolution bis zur Menschenrechtserklärung der UNO und der Erklärung sexueller Menschenrechte, die der sexologische Weltkongress in Hong Kong soeben verabschiedet hatte. Mein Vortrag, der angesichts aktueller politischer Diskussionen hätte kontrovers sein können, wurde zu meiner Verwunderung sehr wohlwollend aufgenommen, möglicherweise wegen seines feministischen Tenors, der eben in China kaum auf Vorbehalte stoßen kann (im Auditorium saßen viele Frauen in verantwortlichen, beruflich herausgehobenen Stellungen).

Hefei (von links): Dr. Li Shidong (Fuyang), Prof. Lu Ren Kang (Wuhu), Prof. Haeberle und die
Übersetzerin Ms. Chang vor dem Universitätsklinikum.

In Hefei, der Hauptstadt der Provinz Anhui, hielt ich einen Vortrag in der neuen psychiatrischen Klinik der Universität über sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung.


Hefei: Ankündigung meines Vortrags in der Tageszeitung Jiang Huai Chen Bao, 7. September 1999.

In Jinan hielt ich vor Vertretern zweier Biotech-Firmen einen Vortrag über sexuell übertragbare Krankheiten (STDs) und ihre Vorbeugung. Wie sich dabei herausstellte, waren die Mitarbeiter relativ gut über AIDS informiert, hatten aber noch nie von Herpes genitalisHPV und Hepatitis B gehört. Insofern war es also eine nützliche Veranstaltung.

In Fuyang wurde ich nach meinem Vortrag zum Honorarprofessor des Volkskrankenhauses ernannt (gleichzeitig Lehrkrankenhaus des Bengbu Medical College).


Fuyang: Links: Chinesische Urkunde über die Ernennung von Prof. Haeberle als Honorarprofessor
am Volkskrankenhaus. Rechts: Offizielle englische Übersetzung der Urkunde.

In Nanjing sprach ich am College for Population Programme Management, das eng mit anderen internationalen Einrichtungen zusammenarbeitete. Dort hielt ich einen Vortrag von über drei Stunden zum Thema Sexologie im Internet. Dabei nutzte ich, der Einfachheit halber, eine CD-ROM unseres Archiv-Websites. Dieser Vortrag fand großen Anklang und rief eine lebhafte Diskussion hervor. Ich wurde gebeten, dem College zu bald wie möglich weitere solche CD-ROMs für Unterrichtszwecke zuzuschicken. Unter den Zuhörern war auch Prof. Chu von der Universität Nanjing, der 1992 dort mein Gastgeber gewesen war und 1998 unser Archiv in Berlin besucht hatte.


Nanjing: Mit Prof. Chu (dritter von links) an der Gedenkstätte für Sun Yatsen.

In Schanghai besuchte ich das erste - inzwischen geschlossene – Museum meines Freundes Prof. Liu in der Nanjing Road, der beliebtesten Einkaufstraße der Stadt mit vielen Großkaufhäusern, die soeben zu Chinas erster Fußgängerzone erklärt und völlig neu gestaltet worden war. Sie wurde von den herbeigeströmten Kundenmassen begeistert angenommen.


Schanghai: Mit Prof. Liu Dalin (links) im neuen Museum of Ancient Chinese Sex Culture.

Am 21. September hielt ich, vermittelt durch Prof. Liu, einen Vortrag für Professoren und einige Studenten im Institut für Soziologie der Shanghai Akademie der Sozialwissenschaften. Im Wesentlichen handelte es sich dabei wieder um eine live Demonstration unseres Websites, die, wie immer, auf großes Interesse stieß. Anschließend wurde ich vom Direktor, Prof. Lu Hanlong, in den Faculty Club zum Essen eingeladen, wo ich bemerkte, dass gleichzeitig andere, amerikanische Professoren von anderen chinesischen Gastgebern bewirtet wurden. Ich fragte mich, wieviel Deutsche hier wohl im Laufe des Jahres auftauchten, vermutete aber, dass es nur wenige waren.

In Hangzhou sprach ich vor etwa 100 Ärzt(inn)en über AIDS-Prävention in an der Zhejiang Sanitary and Anti-Epidemic Station, einer dem RKI ähnlichen Behörde mit ca. 400 Mitarbeitern. Dabei führte ich auch wieder mein elektronisches Archiv als Informationsquelle vor.

Vortragsreise durch China 1999

Von links oben: In Peking mit Liu Hanbin, in Tianjin im neuen Stadtpark mit
Prof. Cui Yi Tai, dem vormaligen Präsidenten der Tianjin Medical University.
In Jinan bei meinem Workshop für die Hersteller traditioneller chinesischer Medizinartikel.
In Fuyang mit dem Leitungspersonal der neuen Klinik für Andrologie.
In Nanjing nach einer Demonstration meines Online-Archivs am
Nanjing College for Population Programme Management.

Zum Auftakt dieser längeren Reise war ich als einer der Hauptredner zum Weltkongress der World Association of Sexology (WAS) nach Hong Kong eingeladen. Für den Kongress selbst gab ich mit meinem amerikanischen Kollegen und WAS-Präsidenten Eli Coleman eine Broschüre heraus, die kostenlos an alle Teilnehmer verteilt wurde:

World Congress of Sexology in Hong Kong 1999
SEXOLOGY WORLD-WIDE


Umschlag einer Broschüre hg. von E. J. Haeberle und E. Coleman.
Mit dem Untertitel A Directory of Resources enthielt das Verzeichnis von 239 Seiten
Print-Outs von unserem Archiv-Website: Chronology of Sex Research und World-wide Directory.
Die Grafiken auf dem Umschlag zeigen links oben das Logo der World Association for Sexology (WAS) und rechts oben das kombinierte Logo des Robert Koch-Instituts (RKI)
und des Archivs für Sexualwissenschaft (AS)

Für die spätere Entwicklung hatte aber mein Vortrag in Hong Kong die nachhaltigsten Folgen, denn dabei war die größte sexualmedizinische Autorität Chinas anwesend: Prof. Wu Jieping (1917-2011). Damals war er zudem stellvertretender Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses und damit wohl der viertmächtigste Mann des Landes. Als mein Vorredner hatte er die Notwendigkeit einer umfassenden Sexualaufklärung betont - eine leider nie erfüllte Forderung des früheren Premierministers Zhou Enlai, der sein Patient gewesen war. Nun aber hielt sein Arzt die Zeit auch in China für gekommen. Als er meine live-Vorführung unseres elektronischen Archivs sah und hörte, führte dies zu zweierlei: 1. Prof. Wu schrieb mir ein Grußwort für den von mir geplanten EFS-Kongress in Berlin im Jahre 2000, und 2. Vier Jahre später wurde ich auf seine Anregung eingeladen, meine Arbeit in Pekings Großer Halle des Volkes vorzustellen - eine ganz außergewöhnliche Ehre, und Prof. Wu war auch diesmal wieder anwesend.


Der größte Sexologenkongress in Berlin

Im Jahre 2000 konnte ich als Mitgründer der European Federation of Sexology (EFS) und als Präsident der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) einen kombinierten internationalen Kongress in Berlin organisieren unter dem Motto For a Millennium of Sexual Health. Mit über 350 Teilnehmern aus 34 Ländern und von allen 5 Kontinenten war es der größte sexualwissenschaftliche Kongress, der jemals in Berlin stattgefunden hat. Wenn man die seitherige Entwicklung betrachtet, darf man bezweifeln, dass sich dort jemals etwas Vergleichbares wiederholen wird.

Grußwort von Prof. Wu Jieping zum EFS-Kongress in Berlin 2000

Prof. Wu is the Vice-Chairman of the Standing Comittee of the National People's Congress in Beijing, China. He is the honorary President of the Chinese Medical Association. Prof. Wu is the pioneer of sexology in modern China. He edited the first Chinese book on Sexual Medicine in 1982 and organized and chaired the first sexual education seminar in China in 1986.

Dear Professor Erwin J. Haeberle,

it is my great pleasure to recall your contribution at the World Congress of Sexology held in Hong Kong Special District last year.

I am delighted to know that the Congress "For a Millennium of Sexual Health" will be held in Berlin, the birthplace of sexology.

The 5th Congress of the European Federation of Sexology in conjunction with the 14th DGSS Congress of Social Scientific Sex Research will certainly be a great success.
Please accept my hearty congratulations.

With best regards.
Yours very sincerely,

Wu Jieping

Der Kongress fand, sehr passend, in der bekannten Kongresshalle am Rande des Tiergartens statt (Haus der Kulturen der Welt), ganz in der Nähe von Hirschfelds verschwundenem Institut. Besonders stolz waren wir auf eine ungewöhnliche Leistung: Unsere ganz normale Kongressgebühr umfasste für alle Teilnehmer und für jeden Veranstaltungstag ein gemeinsames Mittag- und Abendessen, auch bei einer abendlichen Bootsfahrt mit Buffet und bei dem abschließenden Gala Dinner mit Musik und Tanz.

Es fand im nahegelegenen Luxushotel Esplanade statt mit Klezmer-Musik zur Begrüßung und dann mit einer regulären Tanz-Band. Das alles war ein wichtiges Signal, besonders für unsere Gäste aus Osteuropa und aus den Entwicklungsländern. Gerade sie - aber auch die anderen - nahmen es sehr dankbar auf, denn so vermieden wir die sonst übliche Klassentrennung zwischen minderbemittelten und wohlhabenden Beteiligten. Bei unserem Kongress trafen sich alle zweimal am Tag gleichberechtigt bei den Mahlzeiten. (Das Frühstück war in den verschiedenen Kongresshotels ohnehin im Übernachtungspreis einbegriffen.)

Deckblatt unseres Kongressprogramms

Es war mir eine besondere Freude, dass ich zum Eröffnungstag ein Symposium zu Ehren von drei Berliner sexologischen Pionieren organisieren und moderieren konnte: Bernhard Schapiro, Felix Theilhaber und Max MarcuseDafür waren aus Israel ihre Söhne Rafael Schapiro (Shavey Zion), Adin Talbar (Jerusalem)  und der frühere israelischen Botschafter in Bonn, Yohanan Meroz (Jerusalem) angereist. Sie erzählten sehr bewegend von der Arbeit ihrer Väter in Berlin, ihrer Vertreibung als Juden durch die Nazis und ihrem späteren Leben in Israel. (53)

Bernhard Schapiro (1885-1966), Felix Theilhaber (1884-1956), Max Marcuse (1877-1963)
Die Fotos zeigen sie in ihren jüngeren Jahren in Berlin.

Anlässlich dieses Kongresses verliehen wir von der DGSS auch wieder unsere Hirschfeld-Medaillen, diesmal an den Biologen Milton Diamond (Honolulu) für Sexualforschung und an den Journalisten Oswalt Kolle (Amsterdam) für Sexualreform. Für ihn hielt Rolf Gindorf die Laudatio. Kolle selbst sprach über Sexualität im Alter, ein Thema, das damals in der Öffentlichkeit noch wenig diskutiert wurde.

Die Hirschfeld-Medaille

  

Aus Anlass unseres Bisexualitäten-Kongresses 1990 entwarf ich die Hirschfeld-Medaille.
Seitdem verliehen wir sie bei den zweijährlichen Kongressen der DGSS an Kollegen und Kolleginnen für ihre Verdienste um die Sexualforschung und Sexualreform.

Das übrige Kongressprogramm bot noch viele andere Höhepunkte, so etwa den wegweimisenden Vortrag des amerikanischen Mediziners, Unternehmers und Autors Hank C. K. Wuh über die künftige Rolle des Internet in Sexualforschung, Erziehung und Therapie. Leider fand er in Deutschland keinerlei Beachtung, auch nicht in der Presse. Meine Mitar-beiter und ich aber lernten viel daraus für unsere weitere Arbeit.


Foto: H.C.K. Wuh

Dr. Hank C. K. Wuh
Als erfolgreicher Digital-Pionier aus dem Silicon Valley sprach er über
The Internet Revolution and the Future of Sex Research, Education, and Therapy

Des Weiteren gab es ein Streitgespräch über die Medikalisierung der weiblichen Sexualität und ein Symposium von und mit offen schwulen und lesbischen Politiker(inne)n aus Österreich, Schweden, den Niederlanden und Deutschland (mit dem Bundestagsabgeordneten Volker Beck (Grüne). Andere internationale Symposia behandelten Intersexualtät, Prostitution, HIV, die Sexualität von Kindern, und sexuelle Menschenrechte. Während des gesamten Kongresses liefen außerdem im Foyer zwei historisch wichtige Stummfilme in Endlosschleife, die wir vom Bundesfilmarchiv ausgeliehen hatten: Anders als die Andern (1919) von Richard Oswald, inspiriert von Magnus Hirschfeld, und Der Steinach-Film von 1923.


Wichtiger Besuch aus China

Einige Wochen später, im August, erhielten wir Besuch von chinesischen Familienplanern. Die Delegation wurde von Herrn Liu Hanbin geleitet, dem Vizepräsidenten der China Family Planning Association (CFPA), einer privaten Organisation (NGO) mit über 80 Millionen Mitgliedern. Herr Liu erwidert damit einen meinen Besuch in Peking vom Vorjahre. Unsere Gespräche in Berlin befassten sich mit der möglichen Zusammenarbeit auf mehreren Gebieten, insbesondere mit der Übersetzung meiner Online-Kurse ins Chinesische. Sie wurde dann auch im Laufe der folgenden Jahre fertiggestellt und diente dann der Ausbildung von Sexualerzieher(inne)n in China.

Besucher aus Peking

Die Delegation der China Family Planning Association (CFPA)
im Seminarraum unseres Archivs
Von links: Herr Wang Dongfeng, Frau Gu Caiyun, Prof. Liu Yongliang,
der CFPA Vizepräsident Liu Hanbin (weißes Hemd), Prof. Haeberle,
die Dolmetscherin Frau LiLy Liu Liqing


Mein Archiv an der Humboldt-Universität

1. Umzug nach Berlin-Pankow

Im Frühjahr 2001 erreichte ich als Bundesbeamter mein Pensionsalter. Außerdem war im Gesundheitsministerium entschieden worden, dass sich das Robert Koch-Institut künftig ganz auf die Bakterien- und Virenforschung konzentrieren und alle anderen Tätigkeiten allmählich abschließen sollte. (Das betraf dann auch andere Abteilungen, die nach und nach ebenfalls geschlossen wurden.) Also hatte ich selbst keinen Nachfolger und mein Archiv dort keine Zukunft mehr. Die Institutsleitung riet mir deshalb, meine Arbeit an der Humboldt-Universität fortzusetzen, mit der ein Kooperationsvertrag bestand. Der damalige HU-Präsident Prof. Jürgen Mlynek zeigte sich auch aufgeschlossen und stellte mir in Pankow sofort die nötigen Räume zur Verfügung.

Das Archiv für Sexualwissenschaft an der Humboldt-Universität

Von 2001-2006 befand sich das Archiv in ausgedehnten Räumlichkeiten eines Bürohochhauses der Humboldt-Universität in Berlin-Pankow, Prenzlauer Promenade 149-152. Dort setzten wir unsere Arbeit wie gewohnt fort.
Im Januar 2004 schenkte ich meine Bibliothek und Sammlungen der Universitätsbibliothek.

Links: Vorderansicht; rechts: Ansicht vom Garten.

Mithilfe von begeisterten Studenten bewältigten wir auch den Umzug in erstaunlich kurzer Zeit. In den neuen, sehr großzügig bemessenen Büros machten meine Mitarbeiter und ich dann einfach weiter. Das stattliche Gebäude enthielt auch noch mehrere ältere HU-Institute und hatte im Erdgeschoss ein eigenes Restaurant. Fortan lief auch mein Online-Archiv auf dem Server der Universität. Dabei ergriff ich die Gelegenheit, es nach Magnus Hirschfeld zu benennen, dem wichtigsten sexologischen Pionier, der vor den Nazis aus Berlin hatte fliehen müssen. Dabei hoffte Ich auch, das Interesse an meinem Projekt bei Organisationen zu wecken, die sich offiziell dem Andenken Hirschfelds gewidmet hatten. Am Ende jedoch erfüllte sich diese Hoffnung nicht.


Logo auf der Eingangsseite meines Online-Archivs von 2001-2013

Ansonsten aber waren die Jahre in Pankow eine erlebnisreiche und für unser Archiv sehr produktive Zeit, in der wir unser elektronisches Archiv ständig vergrößerten. Unsere Online-Bibliothek wuchs in mehreren Sprachen weiter, und mit der Zeit konnten auch unsere Online-Kurse in zusätzlichen Sprachen angeboten werden. (Heute biete ich einen kompletten Studiengang von 6 Semestern in 7 Sprachen an. Einige der Kurse sind auch noch in weiteren Sprachen verfügbar). Wir beschäftigten weiterhin tüchtige, junge Leute aus der Berliner Sonderprogramm für Arbeitslose, aber auch einige befristet geförderte Wissenschaftler aus der ehemaligen DDR. Meinen wichtigsten Mitarbeiter und Programmierer Thomas Haase musste ich allerdings nun aus eigener Tasche bezahlen.

2. Besuchergruppe aus China

Im September 2001 erhielt unser Archiv in Pankow Besuch von einer Delegation der China Population Culture Promotion Association. Unter der Leitung von Dr. Wang Tie Ming, Vizedirektor des Tianjin Family Planning Committee, wollten die Besucher sich besonders mit unserer Arbeit im Internet näher vertraut machen. Nach einer ausführlichen Demonstration unseres Websites erhielten alle Besucher eine CD-ROM für ein genaueres Studium nach ihrer Rückkehr. Ich selbst hatte Tianjin zwei Jahre vorher besucht, war aber ausgerechnet an diesem Tag in Berlin verhindert. Deshalb wurde die Delegation von meinem Stellvertreter Dr. Jakob Pastötter und meinem Programmierer Thomas Haase empfangen und betreut.

September 2001: Besucher aus China

In der Mitte des Fotos von links: Thomas Haase (dunkle Jacke, helles Hemd),
Dr. Pastötter (heller Anzug), Dr. Wang Tie Ming, (dunkler Anzug).

3. Einladung nach Dubrovnik

Noch im Sommer 2001 wurde ich zu einer Konferenz nach Dubrovnik eingeladen. Unter den Teilnehmern war auch mein früherer Student Dr. Michail Okoliyski, der nun schon seit Jahren Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats ist. Meine Vorführung unseres elektronischen Archivs stieß auf großes Interesse, da es den schnellsten und bequemsten Zugang zu sexualwissenschaftlicher Information bot. Als Ergebnis stellten mehrere Teilnehmer (darunter Prof. Igor Kon, Moskau) ihre Publikationen für unsere Online-Bibliothek zur Verfügung. Mein eigener Vortrag führte später zur Übersetzung meines dtv-Atlas Sexualität ins Kroatische.

Juni 2001: Konferenz in Dubrovnik

Vom 12.-16. Juni nahm ich an der ersten sexologischen Konferenz in Kroatien teil. Sie wurde von
Prof. Alexander Stulhofer organisiert und von der Soros-Stiftung gefördert Die meisten Teilnehmer
kamen aus Ländern des früheren Ostblocks.

Einige Konferenzteilnehmer
Links stehend, etwas vorgebeugt: Der weißhaarige Prof. Igor Kon (1928-2011).
Wiederum von links (vorne liegend in der Mitte): Prof. Stulhofer (mit dunklem Hemd)
und Dr. Okoliyski (mit grün-weißem Hemd). Ich selbst stehe in der obersten Reihe ganz rechts.

4. Ehrung in Lüneburg

Wie sehr unsere Arbeit international geschätzt wurde, zeigte sich noch einmal im Sommer 2002 bei der Verleihung eines amerikanischen Preises.

Ehrenpreis der American Academy of Clinical Sexologists
Anlässlich unseres DGSS-Kongresses in Lüneburg 2002 erhielt ich diesen Preis, bestehend aus einer geschliffenen Kristallskulptur und einer Urkunde (hier im Bild).

5. Aufgabe unserer Räume an der HU

Nach 5 Jahren in Pankow hieß es plötzlich: Das gesamte Gebäude wird abgerissen, und wir müssen wieder einmal umziehen. Zu dieser Zeit war aber unsere Arbeit schon so weit fortgeschritten, dass wir eigentlich keine Büroräume mehr brauchten. Außerdem hatte ich vorsichtshalber schon 2004 meine Bibliothek und Sammlungen der Humboldt-Universität geschenkt (s.u.). Also gaben wir 2006 unsere schönen Räumlichkeiten in Berlin-Pankow ohne allzu großes Bedauern auf. Ich setzte meine Arbeit an meinem Online-Archiv einfach zuhause in meiner Wohnung fort und bezahlte dabei meinen Programmierer Thomas Haase weiterhin aus eigener Tasche.

6. Unser Online-Archiv an der Humboldt-Universität

Von 2001-2013 lief unser Online-Archiv, von mir selbst privat finanziert und ständig erweitert, auf dem Server der Humboldt-Universität und erzielte auch weiterhin hohe Einschaltquoten. Wie der untenstehende Screenshot zeigt, bot es schon damals wissenschaftliche Informationen in 12 Sprachen (Chinesisch in zweierlei Schreibweisen).

Unser Online-Archiv auf dem Server der Humboldt-Universität zu Berlin
2001-2013

Zur Bilderklärung: Als gelernter Amerikanist lehne ich die falsche Eindeutschung die Webseite ab und bestehe nach wie vor auf der korrekten deutschen Übersetzung = der Netzort (es muss daher der Website heißen). Das englische Wort site heißt deutsch Platz, Ort oder Stelle, und web heißt Netz im Sinne von Spinnennetz, in dem man eine bestimmte Stelle markieren bzw. besetzen kann. Ein web, ist also kein Fischernetz, das keine solchen bestimmten Stellen hat, denn dieses heißt net. Das englische Wort für Seite heißt page.


Das Haeberle-Hirschfeld-Archiv

Inzwischen machte ich mir natürlich Gedanken darüber, was auf lange Sicht aus meinen Projekten werden sollte. Meine Bibliothek und Sammlungen waren zwar in unserer ausgedehnten Raumflucht in Pankow gut aufgehoben, aber doch für einen weit hergereisten deutschen oder gar ausländischen Forscher nur schwer erreichbar. So entschloss ich mich schon 2004, sie auf jeden Fall der Universitätsbibliothek zu schenken, die sie gerne annahm. Dort sind sie heute - zentral gelegen - als Haeberle-Hirschfeld-Archiv interessierten Forschern zugänglich.

Übergabe meiner Archiv-Bibliothek und Sammlungen an die Humboldt-Universität

Links neben mir: Bibliotheksdirektor Dr. Milan Bulaty, Rechts: Prof. Heinz-Elmar Tenorth,
Vizepräsident für Lehre und Studium

Das Haeberle-Hirschfeld-Archiv ist eine von mehreren Abteilungen in der 6. Etage der HU-Zentralbibliothek (J. u.W. Grimm-Zentrum), wo seltene Bücher und Zeitschriften untergebracht sind. Benutzer erhalten eine besondere Erlaubnis zum Zutritt und können dann ihr bestelltes Material in einem Forschungslesesaal studieren. Für länger dauernde Studien gibt es außerdem individuelle Leseräume. Die meisten Materialien sind noch unerschlossen und warten auf ihre Erfassung und Katalogisierung. Sie befinden sich in eigenen, abgeschlossenen Räumen. Außerdem sind und bleiben einige Teile des Archivs aus Datenschutzgründen ausgewiesenen Forschern vorbehalten. Andere Teile werden aufgrund besonderer Verträge erst nach längeren Fristen oder nach meinem Tode zugänglich sein. Inzwischen hat das Archiv auch von deutschen und ausländischen Kollegen weitere Schenkungen erhalten, und ich selbst bringe regelmäßig neue Bücher, Zeitschriften und Materialien nach Berlin. Inzwischen weist der Archivkatalog schon ca. 6000 Bücher und Monographien aus sowie über 600 historische und aktuelle Zeitschriftentitel (die einzelnen Nummern nicht mitgezählt). Unter den historischen Zeitschriften befinden sich ein gebundener kompletter Satz des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen (1899-1923) sowie (in Kopien) sämtliche Hefte der Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908 und 1914-1932). Die Erfassung der umfangreichen Materialsammlung (Korrespondenzen, Plakate, Fotos, Faltblätter, Zeitungsausschnitte, Kunstobjekte, Gastgeschenke, Ehrenpreise usw.) wird erst gegen Ende dieses Jahres beginnen.

In den Jahren seit seiner Eröffnung ist das Archiv nicht nur von einheimischen und europäischen, sondern auch von Forschern aus dem weit entfernten Ausland genutzt worden, wie etwa aus Südafrika und Japan. Einige dieser Nutzer kehrten mehrfach wieder und verwandten ihre Erkenntnisse für weitergehende Projekte. Eine Forscherin aus den USA zum Beispiel fand hier Material für einen Vortrag, der über verschiedene Umwege in Hollywood auf Interesse stieß. Dies führte zu einer jetzt geplanten amerikanischen Filmproduktion über das Leben von Ludwig Levy-Lenz.

Die Zentralbibliothek der Humboldt-Universität
Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum
Geschwister-Schollstr. 1-3, 10117 Berlin.

Selbst wenn in Zukunft, wie leider absehbar, der deutschen Sexualwissenschaft endgültig die Luft ausgeht (s. unten), so wird doch das HH-Archiv immer noch eine wichtige Ressource bleiben, mit deren Hilfe sich einiges von ihrer einstmals großen Geschichte rekonstruieren lässt. 1933 fiel sie sehr plötzlich der Nazi-Gewalt zum Opfer. Ihr zweites Ende wird weniger dramatisch sein – ein finale morendo: Sie wird einfach allmählich an ihrem Provinzialismus ersticken, ein schleichendes, stilles Ende not with a bang, but a whimper

Das Haeberle-Hirschfeld-Archiv

Im Eingangsbereich mit einer Bronzebüste von Magnus Hirschfeld (1868-1935)

Blick auf die Bücherregale
Die Bücher und Zeitschriften des Haeberle-Hirschfeld-Archivs stehen in Regalen, die sich vom Eingangsbereich an in einer langen Reihe an einer Außenwand entlang ziehen. Hohe Fenster 
sorgen für Tageslicht. Die Sammlungen des Archivs befinden sich getrennt davon in 
geschlossenen Räumen in der Mitte des Gebäudes.

Der Forschungslesesaal
Hier werden die Bücher, Zeitschriften und Teile der Archiv-Sammlungen 
zur Lektüre zur Verfügung gestellt.

Im Sommer 2006 hieß es auf einmal: Unser Archiv kann nicht in Pankow bleiben. Das gesamte Gebäude wird abgerissen, und wir müssen umziehen. Zu diesem Zeitpunkt aber war unsere Arbeit schon soweit gediehen, dass wir dafür keine Büroräume mehr brauchten. Meine Bibliothek und Sammlungen befanden sich ja bereits im Besitz der Humboldt-Universität, und mein elektronisches Magnus-Hirschfeld-Archiv konnte ich, mit Unterstützung meines langjährigen Programmierers, Thomas Haase, ganz allein von meiner großen Wohnung aus weiter betreiben und ausbauen. Allerdings musste ich ihn weiterhin, wie schon seit einigen Jahren, ganz aus eigener Tasche bezahlen.

Zwei Mitarbeiter
Bis vor einigen Jahren hatte ich noch zwei feste Mitarbeiter:
Meinen unbezahlten Partner und Assistenten Gene und meinen privat bezahlten Programmierer Thomas Haase. Das Foto zeigt uns bei der Ablieferung neuer Bücher und Materialien im Haeberle-Hirschfeld-Archiv. Heute arbeitet nur noch Gene für mich - immer noch ohne Entgelt.
Für die weiterhin nötige technische Hilfe bezahle ich nun Spezialisten von außen.


Links von mir: Mein Partner Gene.
Rechts: Thomas Haase.


Weltkongress in Hong Kong

Aber noch einmal zurück zu 1999 und Prof. Wu Jieping:


Foto: China Wiki

Wu Jieping
(1917-2011)

Der damalige sexologische Weltkongress in Hong Kong ist mir auch deshalb ganz besonders in Erinnerung geblieben, weil ich dabei ich Zeuge einer kleinen, zunächst etwas peinlichen, aber am Ende versöhnlichen Nebenentwicklung wurde, die mir gewisse widerstrebenden Tendenzen bei der Sexualaufklärung in China augenfällig machte. In seiner Eröffnungsrede sprach Prof. Wu Jieping über die Bedeutung der sexuellen Gesundheit und forderte verstärkte Forschungs- und Erziehungsanstrengungen, internationalen Austausch und eine Rückbesinnung auf alte chinesische Werte der sexuellen Offenheit und Toleranz. Er wies auf eine sexologische Tradition in China von mehreren tausend Jahren hin und stellte einige ihrer Grundsätze heraus: "Ein gutes Sexualleben führt zu guter Gesundheit; eine gute Gesundheit führt zu einem guten Sexualleben, und beide zusammen ermöglichen ein gesegnetes Alter". Vor allem aber betonte er die Bedeutung der Prävention: "Wer den Krankheiten vorbeugt, ist der beste Arzt; wer sie heilt, nur der zweitbeste." Um seinen Ausführungen besonderes Gewicht zu verleihen, zeigte er außerdem mehrere Diapositive von chinesischer erotischer Kunst, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen (z.B. ein Paar beim gegenseitigen Oralverkehr). Noch vor wenigen Jahren waren solche Bilder als "pornographisch " und "dekadent" in China öffentlich verbrannt worden. Sein Auftritt in Hong Kong war somit ein klares politisches Signal, dass Sexualforschung und Sexualerziehung in China fortan mit offizieller Anerkennung und Förderung rechnen können. Dieser Vortrag wurde von allen Anwesenden mit großer Begeisterung und Dankbarkeit aufgenommen. Besonders uns Teilnehmern aus den USA und Europa wurde klar, dass unsere eigenen Politiker(innen) einen entsprechenden öffentlichen Auftritt selbst heute noch nicht wagen könnten. Offensichtlich vorgewarnt, hatte auch die zur Begrüßung noch anwesende "First Lady of Hong Kong", Betty Tung (Gattin des terminlich verhinderten "Chief Executive" Tung Chee-hwa) vor dem Beginn der Rede den Saal verlassen.

Andererseits muss ihr aber am nächsten Tag klar geworden sein, dass sie dadurch einen mächtigen Repräsentanten der Zentralregierung brüskiert hatte. Jedenfalls lud sie Prof. Wu und uns andere Hauptredner überraschend für den letzten Kongressnachmittag zum Tee ins "Government House" ein (den früheren Amtssitz des britischen Gouverneurs). Hier nun erwies sie sich als perfekte Gastgeberin - warmherzig, taktvoll, intelligent und aufmerksam, so dass wir sie nach über 2 Stunden stark beeindruckt verließen. Sie bat auch am Teetisch förmlich dafür um Vergebung, dass sie durch Leichtfertigkeit und Dummheit den Vortrag von Prof. Wu versäumt habe, kurzum, sie nahm sowohl Prof. Wu wie auch uns andere Gäste wieder völlig für sie ein. Zu der versöhnlichen, ja herzlichen Atmosphäre trug auch der diskret-kostbare, elegant-schlichte Rahmen des Hauses bei - ein wohltuender Kontrast etwa zur teilweise geschmacklosen Ausstattung des Schlosses Bellevue in Berlin. Unmittelbar nach der Verabschiedung fuhr eine Staatskarosse vor und brachte Prof. Wu zum Flugzeug nach Paris, wo er an einer anderen Konferenz teilnahm.

Der Weltkongress der Sexualwissenschaft in Hong Kong 1999

Empfang der Hauptredner im Government House.
Vorne in der Mitte: Die Gastgeberin, Hong Kongs First Lady Mrs.Betty Tung.
Rechts neben ihr: Prof. Wu Jieping. Hinter und zwischen ihnen: Prof. Haeberle.

Ich selbst hielt an zweiten Kongresstag vor dem Plenum einen 60-minütigen Hauptvortag "Sexology and the Internet - A Live Demonstration". Dabei führte ich den Website des RKI-Archivs (zweisprachig: englisch/spanisch) für Sexualwissenschaft in Echtzeit auf einem Laptop-Computer mit Glasfaserleitung vor, dessen Bild auf eine riesige Leinwand projiziert wurde. Die Vorführung stieß auf sehr lebhaftes Interesse, da den allermeisten Kongressteilnehmern bis dahin nicht klar gewesen war, welche enormen Mengen sexualwissenschaftlicher Information im Internet bereits damals abrufbar waren. Vor allem aber sahen sie mit Erstaunen, dass unser Online-Archiv den schnellsten und billigsten Zugang zu diesen Informationen darstellte.

Ab 2001 befand ich mich dann im Ruhestand, arbeitete aber unverdrossen weiter und, wie gesagt, bezahlte meinen Programmierer fortan aus eigener Tasche. So entwickelte ich als Privatmann von meiner Wohnung aus noch ein völlig neues Projekt und stellte es im Januar 2003 ins Netz - einen frei zugänglichen eLearning-Kurs Basic Human Sexual Anatomy and Physiology. Er war weltweit der erste dieser Art und, wie sich später herausstellte, der Vorbote einer neuen, riesigen, heute immer noch wachsenden Industrie. Ich hatte hier also, ohne mir dessen sofort voll bewusst zu sein, einen systemverändernden Durchbruch erzielt - eine echte Pionierleistung.


Mein Jubiliäumsvortrag in Pekings Großer Halle

In Deutschland fand sie allerdings keinerlei Beachtung. Anders in China: Dort wurde mein neues Projekt sofort wahrgenommen und führte zu der Einladung von Prof. Wu Jieping, es im Oktober 2004 in Pekings Großer Halle des Volkes vorzuführen. Anlass war das zehnjährige Bestehen der China Sexology Association. So bewies Prof. Wu einmal mehr seine Führungsqualitäten und sein Gespür für wichtige Neuerungen. Mein Assistent Gene und ich erhielten Flugtickets für die erste Klasse und flogen damit, sehr bequem gebettet, im Schlaf über Nacht von Berlin nach Schanghai und Peking. Dort wurden wir mit allen anderen Teilnehmern in einem großen Hotel untergebracht. Auch der Kongress selbst tagte dort. Nur die Eröffnungsveranstaltung mit meinem Hauptvortrag fand am ersten Vormittag in der Großen Halle des Volkes statt. Der voraufgehende Eröffnungsteil der Jubiläumsfeier bestand aus obligatorischen Begrüßungen und einer Ehrung des hochverdienten Prof. Wu Jieping, für den hier ein Traum in Erfüllung ging, denn er hatte fast sein ganzes berufliches Leben für eine umfassende Sexualaufklärung in China geworben. Nun konnte er an diesem politisch bedeutenden Ort die ersten Früchte seiner unermüdlichen Arbeit genießen. Während dieses über zweistündigen zeremoniellen Programmteils saß ich mit verschiedenen Offiziellen auf dem Podium und zwar als der einzige Nicht-Chinese, bekam ständig frischen Tee nachgeschenkt und wartete auf meinen Auftritt.

Der Text meines Vortrags The Global Future of Sexology wurde, während ich sprach, auf eine große Leinwand projiziert, simultan übersetzt und ebenso aufmerksam wie dankbar aufgenommen. Das Interesse stieg aber noch deutlich, als ich meinen ersten, frei zugänglichen Online-Kurs vorführte. Als Resultat dieser live Demonstration wurden dann später alle meine Kurse ins Chinesische übersetzt und dienen in China seither dazu, an verschiedenen Universitäten jährlich tausende von Sexualerzieher(inne)n auszubilden:性健康教程. Dafür biete ich meinen Studiengang sexuelle Gesundheit in zwei chinesischen Versionen an: In vereinfachter Schrift für die Volkrepublik und in traditioneller Schrift für Hong Kong, Taiwan, Singapur und die sogenannten Übersee-Chinesen. Dazu kommen noch Übersetzungen meines Glossars unsachgemäßer Fachausdrücke und meine Chronologie der Sexualforschung.

Nach meiner erfolgreichen Darbietung wurde in einem besonderen Raum von den wichtigsten Kongressteilnehmern ein Erinnerungsfoto mit Prof. Wu aufgenommen, wobei man mich mit meinem Assistenten in die erste Reihe platzierte – wieder eine große Ehre, die wir wohl zu schätzen wussten.

Kongressteilnehmer in der Großen Halle des Volkes
(Bild anklicken und dann Bildausschnitt nach rechts bzw. auch nach unten verschieben)

Das übrige Programm im Kongresshotel umfasste dann eine Reihe von Vorträgen und Seminaren in chinesischer Sprache von Sexologen aus allen Regionen des Landes, aber auch die Sexualtherapeutin Judy Kuriansky aus New York und mein alter Freund Bill Granzig aus Florida waren auf eigene Kosten für ihre englischsprachigen Beiträge angereist. So bekam ich die Gelegenheit, mit ihm und zwei anderen Mitgliedern meines wissenschaftlichen Beirats längere Gespräche zu führen – dem Mitautor unserer chinesischen Sexualumfrage Man Lun Ng aus Hong Kong und Fang-fu Ruan, der in der Volksrepublik früh als sexualmedizinischer Autor bekannt geworden war, dann an unserem Institut in San Francisco gearbeitet hatte und inzwischen als Professor an einer neugegründeten Universität in Taiwan mithalf, dort einen sexologischen Studiengangs aufzubauen.


Erwin J. Haeberle

The Global Future of Sexology

  Am 16. Oktober 2004 hielt ich auf Einladung von Prof. Wu Jieping in Pekings 
Großer Halle des Volkes als Hauptredner einen Vortrag mit 80 Minuten Redezeit 
über die Zukunft der Sexualwissenschaft 
und demonstrierte dabei auch meine eLearning-Kurse

Von links: 1. Einladung zur Veranstaltung. 2. Vor der Großen Halle des Volkes
Unten: Auszug aus dem gedruckten Programm mit meiner Redezeit von 10:30 Uhr bis 11:50 Uhr

Die Kurse werden nun aber auch in anderen Ländern genutzt, da sie inzwischen aus dem Englischen komplett noch in weitere 6 Sprachen übersetzt worden sind. Im Laufe der Jahre wurden sie auch mehrfach von internationalen sexologischen Fachgesellschaften als besondere Leistungen ausgezeichnet. Wegen meiner ständigen Weiterarbeit an meinem Archiv kam ich aber nicht mehr dazu, meine eigenen Kurse vollständig ins Deutsche zu übersetzen (bisher sind nur drei davon verfügbar). Wie es scheint, besteht aber hierzulande an dem kompletten Studiengang ohnehin kein Bedarf.

Eine alte Freundschaft
Seit über 25 Jahren bin ich mit Prof. Liu und Dr. Hu befreundet. Wir haben oft zusammengearbeitet und uns wiederholt gegenseitig besucht. Beispiele: Meine Mitarbeit an der ersten landesweiten Sexualumfrage in China (1989-1992), die Ausstellung 5000 Jahre Sexualkultur in China in Berlin 1995, meine Mitarbeit am China Sex Museum in Tongli (2004-2014) und unser gemeinsames Buch Die Harmonie von Yin und Yang 1996.
Dazu kamen noch gemeinsam veranstaltete Vorträge und Schulungen in China.

  
Von links: 1. Mit Prof. Liu Dalin und Dr. Hu Hongxia privat bei mir in Berlin.
2. Vor dem größten Krankenhaus in Wuxi (Provinz Jiangsu), mit einem Plakat, das eine unserer gemeinsamen Schulungsveranstaltungen ankündigt.
Auf dem großen Plakat sind unsere Portraits zu sehen.


Weitere Reisen

1. Ägypten

Im April 2005 lud mich mein alter Freund und Verleger Werner M. Linz zu seinem 70. Geburtstag für einen ganzen Monat nach Kairo ein. Dort war er inzwischen Verlagsdirektor der American University in Cairo (AUC) geworden. Er war auch gut befreundet mit Zahi Hawass, dem obersten Herrn aller ägyptischen Altertümer, den ich bei dieser Gelegenheit kennen lernte. Mithilfe seiner Sondergenehmigung nutzten wir die Gelegenheit, alle wichtigen Monumente und Gräber von Gizeh bis Luxor und Assuan zu besichtigen, darunter auch solche, die für Touristen sonst unzugänglich sind. Daneben machte ich aber auch für den Versuch, etwas über Hirschfelds Aufenthalt 1931-1932 in Kairo zu erfahren. Außerdem besuchte ich die damals erste ägyptische Sexualtherapeutin Heba Kotb, die in den USA promoviert hatte, und zwar an der American Academy of Clinical Sexologists (AACS) bei meinem alten Freund Bill Granzig.

Besuch in Ägypten

         

In Kairo
Oben von links
: Mit meinem Freund Werner M. Linz, mit Dr. Heba Kotb
Mitte von links: Mit Prof. M.S. Akabawi, mit Stephen Urgola
Unten: Vorlesungsverzeichnis der AUC von 1931-32 

An der Universität hatte ich Gelegenheit, mit Prof. M.S. Akabawi zu sprechen, dem Associate Vice President for Computing and Professor of Information Systems.Unsere Diskussion galt besonders dem Thema Open Access und dessen Folgen für Lehre und Studium. Es ergab sich eine völlige Übereinstimmung im entscheidenden Punkt: Auf lange Sicht wird es unmöglich sein, wissenschaftliche Informationen restriktiv zu handhaben oder als geistige Ware zu verkaufen. Andererseits werden Universitäten durch kostenlos angebotene Kurse eine wachsende Zahl von Fernstudenten in Entwicklungsländern einwerben können. Selbst bei sehr geringen Studien- und Prüfungsgebühren wird man auf diese Weise neue Fernstudiengänge solide finanzieren können.

Mithilfe des Universitätsarchivars Stephen Urgola wurde dann eine intensive Suche nach Spuren Hirschfelds in allen möglicherweise relevanten Universitätspapieren durchgeführt. Leider war der entsprechende Zeitraum nur spärlich dokumentiert. Immerhin stellte sich heraus, dass die American University in Cairo (AUC) im Rahmen eines externen Programms schon 1925 eigene, sehr populäre Sexualerziehungskurse durchgeführt hatte. Es wurde auch ein altes Vorlesungsverzeichnis von 1931-32 gefunden. Da Hirschfeld aber erst nach dessen Erscheinen in Kairo ankam, findet sich sein Name nirgends erwähnt.

Ausflug zu den ägyptischen Altertümern
Von links: Gene, Werner M. Linz, E. J. Haeberle

2. Bulgarien

Inzwischen fand mein Kursangebot international zunehmend Beachtung. So bekam ich im Dezember 2005 eine Einladung aus Bulgarien und hielt in der Universität in Sofia in englischer Sprache einen öffentlichen Vortrag zum Thema Weltweite sexuelle Gesundheit - Die wachsende Rolle des Internet. Dabei bot ich auch eine live Vorführung meines E-Learning-Studiengangs. Diesen Vortrag wiederholte ich dann noch an dem privaten International Healthcare and Health Insurance Institute, ebenfalls in Sofia. Obwohl meine Kurse auf großes Interesse stießen, kam es am Ende leider nicht zu der allerseits gewünschten bulgarischen Übersetzung. Die beruflichen und finanziellen Verhältnisse meiner dortigen Kollegen waren und blieben einfach zu schwierig und unsicher.

Plakat mit Ankündigung meines Vortrags in Sofia 2005

3. USA

Im März 2006 wurde ich zu meinem 70. Geburtstag zusammen mit meinem Assistenten Gene vom Goethe-Institut in Atlanta, GA eingeladen, meine Online-Kurse vorzuführen, und zwar unter dem Titel Transatlantic Knowledge Transfer – The Growing Role of the Internet. Außerdem hatte ich die Gelegenheit, eine German Gay Film Series zu eröffnen. Dabei wurde der von Hirschfeld inspirierte Stummfilm von Richard Oswald gezeigt: Anders als die Andern (1919).

Vortrag am Goethe-Institut Atlanta GA.


Das Foto zeigt mich mit Dr. Michael Nentwich, dem Direktor des the Goethe-Instituts, Atlanta GA

Anschließend besuchten Gene und ich noch die beiden Mitglieder meines Archiv-Beirats F.J. Tombrello und J. Linn in Birmingham AL. Dr. Tombrello war ein Vierteljahrhundert früher mein Student in San Francisco gewesen. Prof. Linn war Direktor der medizinischen Publikationen der University of Alabama Medical School. Unser Besuch dauerte mehrere Tage und erlaubte uns, ausführlich über die Zukunft digitaler wissenschaftlicher Publikationen zu sprechen. Danach flogen wir dann noch einmal nach San Francisco, um dort meine alte Arbeitsstätte zu wiederzusehen.

In Birmingham AL


Links: Prof. Dr. Julius Linn. Rechts: Dr. Frank Jefferson Tombrello.
Das Foto wurde im Redaktionsbüro von Prof. Linn aufgenommen.

4. VR China

Im folgenden Jahr 2007 bekam ich noch einmal eine chinesische Einladung, und zwar an die Shu-Te- Universität in Kaohsiung, Taiwan. Dort sollte ich die Eröffnungsrede einer Konferenz über Die Gesundheit der Frau halten. Ich nahm die Gelegenheit wahr, alle drei chinesischen Kollegen zu treffen, die mit der Übersetzung meiner Kurse befasst waren: In Hong Kong war dies Prof. Ng, ein Mitautor unserer Sexualumfrage von 1992. Der Hauptübersetzer Prof. Peng Xiaohui von der Huazhong-Normal-Universität, Wuhan, war mir eigens nach Tongli entgegen gereist, wo ich im Museum meines Freundes Prof. Liu ausführlich mit ihm sprechen konnte. In Kaohsiung schließlich war dies Prof. Fang-fu Ruan, ein alter Bekannter und, wie auch Prof. Ng,  Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats. Und ich traf dort noch einen weiteren Bekannten: Prof. Edwin H. Yen von der National Taiwan Normal University in Taipeh. Er hatte mich einige Jahre zuvor in Berlin besucht. Zur Eröffnung des Kongresses hielt ich dann in englischer Sprache die erbetene Rede zum Thema A Brief History of Female Sexuality. Anschließend leitete ich noch einige Oberseminare an der Universität, die ein eigenes Studienprogramm Die menschliche Sexualität besaß und gerade ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Außerdem hielt ich Vorträge in zwei Städten der Volkrepublik - Wuxi und Wujiang, und als Honorarprofessor an der Universität Hong Kong leitete ich dort zwei Workshops.

Mein Online-Studiengang Sexuelle Gesundheit empfohlen in Hong Kong

Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel in Hong Kong, der meinen Online-Studiengang
Sexuelle Gesundheit in seiner Fassung mit traditioneller chinesischer Schreibweise empfiehlt.

In China wurden meine chinesischen Online-Kurse wurden von Anfang an in ihren beiden Fassungen empfohlen und gebraucht. Dies zeigt sich an einem Zeitungsausschnitt (oben) und an der offiziellen Bescheinigung einer Organisation für Familienplanung (unten).

Besuch beim Familienplanungszentrum in Wujiang


Im Wujiang Population and Family Planning Center in der Provinz Jiangsu
Wir waren Ehrengäste bei einem offiziellen Essen, das musikalisch mit traditioneller
chinesischer Musik begleitet wurde. Die Musiker stehen links neben uns.
Links neben Prof. Liu Dalin sitzt Frau Zhang Xinhua, die Direktorin des Planungskomités.
Stehend hinter ihr mein Partner Gene und ich selbst.



Die Organisation für Familienplanung in Wujiang in der Provinz Jiangsu
empfiehlt meinen Online- Studiengang Sexuelle Gesundheit
in seiner Fassung mit vereinfachter chinesischer Schreibweise:
性健康开架阅览教程

5. Taiwan

Die folgenden Fotos illustrieren verschiedene Etappen meiner siebten Chinareise (für Gene war es die dritte). Unsere eindrucksvollste Station war zweifellos Taiwan und die neue Shu-Te Universität, die bei angenehmen Klima nahe bei Kaohsiung in einer reizvollen Landschaft lag. Sie erinnerte uns fast an den Schwarzwald. Wir nutzten aber auch die Gelegenheit, in der Hauptstadt das damals höchste Gebäude der Welt (Taipei 101) zu besichtigen. Überwältigend war dann der Besuch des Nationalmuseums, das die bedeutendsten chinesischen Kunstschätze beherbergt. Sie waren von Chiang Kai-shek bei seiner Niederlage gegen die Rote Armee nach Taiwan verbracht worden.

 Reise nach Hong Kong, Tongli und Kaohsiung 2007




Vom 20. Oktober bis zum 30. November unternahmen wir wieder eine längere China-Reise und besuchten dabei Hong Kong und die Volksrepublik China sowie Taiwan.
Von oben und von links nach rechts: Mit Prof. Ng in Hong Kong, mit Prof. Peng in Tongli, Luftaufnahme des Campus der Shu-Te Universität in Kaohsiung, Taiwan, Teilansicht der Universität zu ebener Erde, mit Prof. Ruan Fangfu in Kaohsiung, mit meinem Partner Gene an der gleichen Stelle, mit Gene und Teilnehmer(inne)n meines Oberseminars and der Universität, mit Prof. Ruan (links) und Prof. Edwin H. Yen (rechts) von der National Taiwan Normal University in Taipei, der mich zuvor in Berlin besucht hatte.

6. Rom

Im April 2008 lud mich der EFS-Kongress in Rom ein, einen Vortrag zum Thema eLearning zu halten, und so sprach ich dort über Sexology in the Internet - Our New Frontier. Eine italienische Fassung meines ersten Kurses lag bereits vor, und die ersten portugiesischen Übersetzungen wurden auch schon geliefert. Der Kongress gab mir Gelegenheit, mich bei Prof. Salvatore Caruso (Catania) und Prof. Antonio Pacheco Palha (Porto) persönlich zu bedanken, den Initiatoren dieser Übersetzungen. Leider wurde in den nächsten Jahren das italienische Projekt nicht weiterverfolgt und nur die portugiesische Fassung aller 6 Kurse abgeschlossen.  

EFS-Kongress, Rom 2008

Frühstück im Kongress-Hotel (Rome Cavalieri) mit alten Bekannten
Von links:
 Prof. Eusebio Rubio-Aurioles, Präsident der World Association for Sexual Health (WAS),
Prof. Lars-Gösta Dahlöf, Präsident des 19th World Congress of Sexology in Göteborg 2009.

Dabei fällt mir noch eine kuriose Einzelheit ein: Es muss 1996 oder 2008 gewesen sein, als ich bei einem Kongress in Rom von einer historisch bemerkenswerten Operation zur Geschlechtsumwandlung erfuhr. Der betreffende Chirurg, dessen Name mir leider entfallen ist, trug den Fall mithilfe von Lichtbildern selber vor: Er hatte einen katholischen Priester auf dessen Wunsch zur Frau umoperiert und so eine offizielle Personenstandsänderung ermöglicht (d.h. aus Paolo wurde Paola).

Da eine Priesterweihe nicht aufgehoben werden kann, gab es seither also zum ersten Mal eine katholische Priesterin, die aber - wohl auf Anraten ihrer Oberen - fortan auf die Ausübung ihres priesterlichen Amtes verzichtete. Der Fall stellte und stellt eben für die katholische Kirche bis heute ein peinliches Problem dar, weil sie mit der sexualwissenschaftlichen Forschung nicht Schritt gehalten hat, weder bei den Transsexuellen, noch bei den Intersexuellen. So besteht das kanonische Recht weiterhin auf der Verleugnung von sexuellen Gradunterschieden und auf einem strikten Dualismus klar unterscheidbarer Geschlechter. Diese traditionelle Auffassung ist aber heute nicht länger haltbar. (Die anglikanische Kirche, die ja Frauen im Priesteramt anerkennt, erwies sich später bei einem ähnlichen Fall als besser aufgeklärt und moderner.) Übrigens: Wie man nach ihrem Tode erfuhr, hatte die katholische Priesterin zuletzt zurückgezogen in einem Kloster gelebt, war aber in ihren priesterlichen Gewändern beigesetzt worden.


Ehrung in Berlin

Im Juni des gleichen Jahres erlebte ich eine kleine ironische Wendung in meiner persönlichen Geschichte: Die Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung verlieh Günter Dörner und mir am gleichen Tag je einen Preis für unser Lebenswerk. Die Initiative dazu ging von Klaus M. Beier aus, der sich inzwischen als Direktor seines sexualmedizinischen Instituts gut etabliert hatte. In einer gemeinsamen Feierstunde in Räumen der Charité fassten Dörner und ich dann in unseren Dankesreden unsere jeweiligen persönlichen Ziele noch einmal zusammen. Diese konnten tatsächlich kaum unterschiedlicher sein. Ich selbst nutzte die Gelegenheit für einen Appell unter dem Titel Das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts in der globalen Informationsgesellschaft. Darin forderte ich nicht nur meine Kollegen, sondern alle Universitäten auf, ihr Wissen der ganzen Welt frei zugänglich zu machen. Unsere Reden sowie die voraufgegangenen Laudationes wurden später in Beiers Zeitschrift Sexuologie abgedruckt. Mein Appell verhallte allerdings in Deutschland ungehört.

Preis der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2008

Porzellan-Medaille und Urkunde des Stiftungspreises 


Weitere Einladungen

1. Göteborg

Im folgenden Jahr 2009 lud mich Lars-Gösta Dahlöf, der Präsident des sexologischen Weltkongresses in Göteborg ein eine Hirschfeld Lecture zu präsentieren, d.h. ich sollte Magnus Hirschfelds Erbe auf seine heutige Relevanz untersuchen, um daraus Lehren für unsere eigene Zukunft zu ziehen.

Weltkongress in Göteborg


Mit Prof. Dahlöf (rechts)

Ich kam zu dem Schluss, dass Hirschfeld damals schon eine weltweite Wirkung angestrebt hatte, und dass uns die heutige Globalisierung eine von ihm nicht geahnte Möglichkeit gibt, in diesem Sinne weiter zu arbeiten, ja, dass diese neue Möglichkeit geradezu einer Verpflichtung gleichkommt. Ich erwähnte auch die Bemühungen, die wir neueren Sexologen schon in dieser Richtung unternommen hatten. Am Ende forderte ich meine Kollegen auf, alle Potenziale des Internets zu nutzen und sich der Sache des open access zu verschreiben. Das sei der beste Weg, unsere wissenschaftliche Mission zu erfüllen. Diesen Vortrag machte ich auch gleich in meiner Online-Bibliothek verfügbar. Er fand aber kein Echo in Deutschland, womöglich, weil er in englischer Sprache geschrieben war. Etwas später fügte ich dann aber nicht nur englischer, sondern auch deutscher Sprache eine Dokumentation über Hirschfelds geistiges Fortleben in Berlin hinzu.

2. Prag

Im November 2010 erhielt ich von meinen tschechischen Kollegen eine Einladung nach Prag, denn sie hatten inzwischen mit ihren Studenten die tschechische Übersetzung meines Online-Studiengangs fertiggestellt. Ich demonstrierte diese neue tschechische Fassung in zwei Vorträgen:

  1. Bei einer Veranstaltung der tschechischen sexologischen Gesellschaft, die mir bei dieser Gelegenheit die Ehrenmitgliedschaft verlieh.
  2. Einen weiteren Vortrag hielt ich für die Studenten von Prof. Petr Weiss in der Abteilung Psychologie der Karls-Universität. Außerdem besuchte ich das dortige sexologische Institut und sah dort Prof. Zvěřina (Mitglied meines Archiv-Beirats) und Dr. Antoni Brzek wieder, bei dem wir schon 1990 zu Besuch gewesen waren.

Programm der tschechischen sexologischen Gesellschaft für Ihre Versammlung am 22.November 2010. Dort erhielt ich ihre Ehrenmitgliedschaft und stellte neue tschechischen Übersetzung meiner Online-Kurse vor.

Das sexologische Institut der Karls-Universität ist das älteste noch bestehende seiner Art. Es wurde von dem Mediziner Josef Hynie gegründet, der u.a. auch noch an Magnus Hirschfelds Institut in Berlin studiert hatte. Auf meine Bitte schrieb er noch kurz vor seinem Tod in deutscher Sprache einen längeren Aufsatz über seine Ausbildung und Arbeit für einen unserer DGSS-Sammelbände, der dann 1992 erschien.


Josef Hynie (1900-1989)
Begründer und Direktor des ersten sexologischen Universitäts-Instituts.
Es besteht noch heute an der Karls-Universität in Prag. Das Foto zeigt ihn zur Zeit seiner Studien in Berlin.

Hier ein kleiner Auszug, in dem er auch einen damals schon bestehenden Vertrag erwähnt, der Hirschfelds Institut die Zukunft sichern sollte.

Ende des Jahres 1929 und Anfang 1931 studierte ich drei Monate lang Sexuologie im Institut für Sexualwissenschaft — Magnus-Hirschfeld-Stiftung in Berlin. Das Institut war in zwei Häusern in der Straße In den Zelten in der Nähe des Reichstags untergebracht. Im Hauptgebäude des Instituts befanden sich im Erdgeschoß, nebst einer prunkvollen Halle, die Hauptordination und die Arbeitszimmer des Vorstands sowie die Administration und Konferenzzimmer. Die erste Etage enthielt die Abteilung für Entwicklungs- und Potenzstörungen. Dann war dort eine Eheberatungsstelle, ein reich ausgestattetes Museum mit einem Archiv und die Wohnungen des Vorstands und seines Sekretärs. — In der zweiten Etage waren die Physikaltherapie und die Röntgenapparate, die Diathermie, einige Höhensonnen und Vitaluxlampen u. ä. untergebracht. Dort waren auch Badezimmer und einige Gästezimmer. Man kann nicht direkt von Patientenräumen sprechen, weil diese Menschen sich bei der sexuellen Anomalie oder Insuffizienz nicht direkt krank fühlten.
Im zweiten, innerlich kommunizierenden Hause befanden sich hauptsächlich Wohnräume für Ärzte und Gäste. Auch ich wohnte dort. Dort war auch ein Hörsaal für Vorlesungen, Haeckel-Saal genannt, eine große Bibliothek und der Leseraum, bestehend aus zwei großen Zimmern. Dieser war der Öffentlichkeit für eine niedrige Gebühr zugänglich. Die Bücher konnte man sich ausleihen und mitnehmen. So viele sexuologische Publikationen waren in keiner Berliner Bibliothek vorhanden. Diese zwei Häuser übergab Hirschfeld dem preußischen Staat, und er sollte sein Leben lang der Direktor des Instituts sein. Das Institut wurde auch vom Staat sub-ventioniert, aber das Wichtigste waren Bezahlungen der Patienten für die Behandlungen und gerichtliche Expertisen. Die Patienten wohnten auch im Institut und zahlten je nach ihren Möglichkeiten. Hirschfeld war eigentlich ein sozial fühlender Mensch.

Am sexologischen Institut der Karls-Universität


Mit Prof. Petr. Weiss am Eingang des sexologischen Instituts Instituts


Besprechung im Sexologischen Institut:
Von rechts: Prof. Zvěřina, Prof. Haeberle, Prof. Weiss


Seminarraum der Abteilung Psychologie mit Studenten von Prof. Weiss (Mitte)
nach meinem Vortrag (ich stehe neben ihm).

3. Hamburg

Im folgenden Frühjahr erreichte mich eine ungewöhnliche Bitte: Das Thalia Theater in Hamburg plante eine Aufführung beider Teile von Goethes Faust, und zwar als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen. Zur Vorbereitung dieser gigantischen Aufgabe bat man einige Professoren aus unterschiedlichen Fachgebieten, Vorträge zu besonderen Aspekten des Werkes zu halten. (Die anderen Referenten waren der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Christoph Binswanger, der Kulturhistoriker Manfred Osten, der Philosoph Gernot Böhme und der Physiker Gerhard Mack). Ich selbst sprach auf einer Probebühne vor dem Regisseur Nicolas Stemann, seinen Schauspielern, Musikern und Technikern über Faust aus Sicht der Sexualwissenschaft. Den Vortrag ließ ich vorher drucken und binden, und so konnte ich zwei der schmalen Bändchen Herrn Stemann und seinem Dramaturgen Benjamin von Blomberg zum Geschenk machen. Den Text hatte ich außerdem mit 10 Karikaturen angereichert und die zahme Hälfte davon ins Netz gestellt. (Die andere Hälfte ist nicht jugendfrei.) Da dies Büchlein eine überraschende Zustimmung fand, fühlte ich mich ermuntert, auch noch eine ältere kleine Arbeit über antike Liebesmythen binden zu lassen und beide in meine Online-Bibliothek aufzunehmen.

Ein Vortrag über Goethes Faust in Hamburg 2011

Mit meinem Assistenten Gene (links außen)
und Mitgliedern des künstlerischen Teams des Thalia-Theaters für die neue 'Faust'-Produktion.
Der Regisseur Nicolas Stemann (mit Hut) steht in der Mitte rechts hinter mir.


Erwin J. Haeberle

Szenen aus Goethes Faust
Sexologisch-ironisch betrachtet

10 Karikaturen für das
Thalia Theater, Hamburg



© 2011 Erwin J. Haeberle




Faust I, Hexenküche

Mephistopheles zu Faust:
Du siehst mit diesem Trank im Leibe
Bald Helenen in jedem Weibe.



Faust II, Bergschluchten

Chorus Mysticus:
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Da mein Faust-Vortrag und die ihn begleitenden Karikaturen gut angenommen wurden, fühlte ich mich ermutigt, auch noch einen älteren Versuch zu publizieren – im Netz und, etwas umfangreicher, als Privatdruck im Haeberle-Hirschfeld-Archiv. Es handelte sich dabei um kurze, satirische Umdeutungen antiker Liebesmythen mit entsprechenden Illustrationen.

Ich hatte das einmal vor Jahren zu Papier gebracht, als ich, nach der tragischen Elektra, vier weitere, weniger schwergewichtige Opern zu antiken griechischen Stoffen von Richard Strauss näher kennen lernte: Ariadne auf Naxos, Die ägyptische Helena, Daphne und Die Liebe der Danae. Einen besonderen künstlerischen Ehrgeiz hatte ich selber dabei nicht, sondern wollte nur – in einer Art Abwehr - auf eine spielerisch leichtfertige Weise auf den tiefen Eindruck reagieren, den diese Werke bei mir hinterließen. So gab ich den alten Geschichten, um sie zu entmythologisieren, einfach einen überraschenden Dreh und eine moderne, aufgeklärte Pointe. Weil die Texte zu viel Platz erfordern würden, biete ich an dieser Stelle nur einige meiner Zeichnungen an:

Antike Liebesmythen neu erzählt und illustriert

Von oben und von links: 1. Galatea, die lebendig gewordene Statue des Pygmalion,
2. Hyakinthos, 3. Narkissos, 4. Schädel des Minotauros im Labyrinth, 5. Sisyphos

Einige Monate später musste ich mich dann allerdings mit einer weniger erfreulichen Angelegenheit befassen: Ich erhielt den verzweifelten Brief eines britischen, offensichtlich recht naiven Sammlers von Erotica. Er hatte auf dem Postweg aus den USA Material bestellt, das vom Zoll und der Polizei als Kinderpornographie beschlagnahmt worden war. Dies wiederum hatte zu einer Hausdurchsuchung geführt, bei der seine gesamte, anscheinend riesige Sammlung - das Werk eines ganzen Lebens - abtransportiert wurde. Nach einem Strafprozess sollte dann alles verbrannt werden. Der völlig verstörte Sammler hatte deshalb nicht nur mich, sondern auch andere, sehr bekannte Sexologen in den USA und Großbritannien angeschrieben. Während er noch auf seinen Prozess wartete, schickte er mir einen Essay über seine Motive, den ich Anfang 2012 in meine Online-Bibliothek aufnahm. Mit meinen sexologischen Kollegen und Kolleginnen kam ich ebenfalls bald in Kontakt. Wir tauschten uns unter einander aus und kamen zu diesem gemeinsamen Entschluss: Bei völliger Unkenntnis des betreffenden Materials konnten wir zur juristischen Seite des Falles nichts sagen. Wir waren uns aber einig, dass die Sammlung, schon allein wegen ihres Umfangs, unbedingt für wissenschaftliche Zwecke gerettet werden sollte. Wir schrieben dann einzeln an die behördlich Verantwortlichen mit der Bitte, von deren Vernichtung Abstand zu nehmen. Stattdessen sollte man sie für unsere weltweit angesehenen Bibliotheken (in meinem Fall das Haeberle-Hirschfeld-Archiv der Humboldt-Universität) zur Verfügung stellen. Ich schickte deshalb den Strafverfolgungsbehörden sowohl wie dem Angeklagten einen Aufsatz über die Geschichte sexologischer Sammlungen zu und hoffte so auf deren Einsicht. Der Angeklagte stimmte mir sofort zu, die Behörden aber offensichtlich nicht, denn weder ich selbst, noch meine sexologischen Kollegen bekamen je eine Antwort. Also blieben alle unsere Bemühungen fruchtlos. Was aus der Sammlung wurde, weiß ich nicht. (Einige Jahre zuvor hatte ein deutsches Gericht unserem Archiv eine Sammlung von Kinderpornographie für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt. Sie befindet sich jetzt - nur qualifizierten Forschern zugänglich - im Haeberle-Hirschfeld-Archiv.)

Aber zurück zu meiner Vortragstätigkeit: Wie bereits erwähnt, unternahm ich während der Arbeit an meinem Archiv weitere Reisen nach China, in die USA und nach Ägypten. Aber auch schon vorher war ich zu Vorträgen in verschiedenen Städten des In- und Auslandes eingeladen worden, so etwa nach Philadelphia PA (1983), Prag (1990), Budapest und Miskolc (1990) und Paris (1993). Solche Einladungen nahmen mit unserem Internet-Auftritt natürlich zu: Nach Rom (1996), Lissabon (1998), Barcelona (2000), La Laguna, Teneriffa (2000, 2001 und 2002), Fort Lauderdale FL (2001), Sofia (2005), Atlanta GA (2006), Wuxi und Wujiang in China (2007), Kaohsiung in Taiwan (2007), Hong Kong (2007), Prag (2006 und 2010).

Meine Vorträge hielt ich dann immer in englischer Sprache. Außerdem nahm ich nach wie vor an Fachkongressen teil – in Kopenhagen (1982), Wien (1983), Rotterdam (1996), Sirmione (1998), St. Louis, MO (1999), Rom (2006), Göteborg (2009), Porto (2010), Glasgow (2011), Estoril (2012), Madrid (2012), und wieder Helsinki (2013). Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Daten, aber nach dem Fall der Berliner Mauer hielt ich auch h Vorträge an den Universitäten Jena und Greifswald und war als Referent zu großen Medizinerkongressen in Hamburg und Wien eingeladen. Ab 2003 nutzte ich diese Gelegenheiten, um meinen Online-Studiengang zu demonstrieren.

Weitere Teilnahme an internationalen Kongressen


Oben von links: EFS-Kongress 2010 in Porto mit dem Kongress-Präsidenten Antonio Pacheco Palha.
In Estoril, Portugal 2012: Jahrestreffen der IASR. Foto mit ihrem Gründer Richard Green.
Unten: Mit meinem Assistenten Gene auf der Helsinki Buchmesse 2013 nach der Vorführung meiner eLearning-Kurse und Online-Bibliotheken.


Glasgow nach 50 Jahren

Dann aber erlebte ich doch noch etwas wahrhaft Angenehmes: Der Weltkongress in Glasgow 2011 brachte mir einen symbolischen Abschluss des ereignisreichen Jahres, ja einer ganzen Lebensphase. Dort hatte ich nämlich Gelegenheit, das Studentenheim wiederzusehen, in dem ich genau 50 Jahre früher gewohnt hatte. Es war inzwischen renoviert und mit einem Nachbarhaus zu einem Hostel, einer Art Touristenherberge, zusammengelegt worden. Meine Empfindungen bei dieser Heimkehr sind schwer zu beschreiben - große Dankbarkeit und noch größere Verwunderung über meinen Lebensweg in dem voraufgegangenen halben Jahrhundert. Er hatte mich mit immer neuen Überraschungen und Wendungen von Schottland aus um mehr als die halbe Welt geführt – westlich bis nach Hawai’i und östlich bis nach China. Und niemals hätte ich mir damals träumen lassen, was aus mir armem Studenten am Ende dann tatsächlich wurde. Dabei musste ich unwillkürlich an Calderons philosophisch tiefgründiges Drama denken: La vida es sueño (Das Leben ein Traum). Anders als dessen Hauptfigur, ein unbeherrschter, jähzorniger Prinz, war ich zwar selbst immer friedfertig gewesen, aber dennoch gab es gewisse Parallelen: Auch für mich, wie für ihn, wurde mein Lebenstraum Wirklichkeit: Aus großer Enge im ersten Akt und mit einem heftigen Rückschlag im zweiten Akt, hatte ich im dritten Akt trotz allem die ersehnte Freiheit erlangt und meine Bestimmung gefunden. Aber war ich nun auch, wie der Prinz am Schluss des Theaterstücks, weise geworden? Hatte auch ich aus meinen Erfahrungen etwas gelernt?

Ich war inzwischen 75 Jahre alt und seit zehn Jahren pensioniert - ein Anlass, Bilanz zu ziehen.

Ein Wiedersehen in Glasgow 2011

In der Mitte des schwarz-weiß-Fotos stehe ich 1961 mit
den anderen Bewohnern unseres Studentenheims vor dem gleichen Haus
wie 50 Jahre später als Professor mit meinem Assistenten Gene.


Fazit

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so sehe ich es nun mit einem Gemisch aus Dankbarkeit und Verwunderung, denn meine berufliche Karriere hätte auch völlig anders verlaufen können. Ich war immer vielseitig interessiert, und neben einer wissenschaftlichen Begabung besaß ich ja auch noch andere Talente, die durchaus entwicklungsfähig und nutzbar waren:

  • Als Schauspieler wäre ich wohl nicht über ein Mittelmaß hinausgekommen, aber als Regisseur war ich gut. Ich genoss bei meinen Mitspielern eine natürliche Autorität, holte das Beste aus ihnen heraus, hatte Organisationstalent, war kenntnisreich, einfallsreich, kreativ und kooperativ, aber auch durchsetzungsfähig. Als Schauspiel- und Opernregisseur hätte ich wohl recht gute berufliche Chancen gehabt, möglicherweise sogar als Intendant.


    Meine Inszenierung von Jean Genets Die Zofen
    am Wallgrabentheater, Freiburg Br. 1960
    Mit Ingeborg Steiert (links unten) und Christhild Junker (Mitte oben)

  • Da ich im Kunstunterricht unseres Gymnasiums immer die Bestnote hatte, wäre auch eine Ausbildung als Maler und Zeichner in Frage gekommen. (Ein Schulkamerad wurde auf diesem Weg erfolgreich, aber ich hatte von Anfang an immer besser malen und zeichnen können als er.)


    Burgruine Blankenstein an der Ruhr
    Federzeichnung aus meiner Schülerzeit

  • Ebenso hätte ein Studium der Kunstgeschichte zum Aufstieg führen können, denn ich verschlang schon als Schüler privat und in der Stadtbibliothek alle damals verfügbaren Kunstbildbände und kannte bereits vor dem Abitur alle bedeutenden Maler und Bildhauer der letzten 500 Jahre und ihre Hauptwerke. Gleichzeitig hatte ich viele kunsttheoretische Studien gelesen, darunter auch eine von Matteo Marangoni (Saper vedere), die mich besonders beeindruckte. Dabei hatte ich auch schon einen kritischen Blick für künstlerische Qualität entwickelt. Deshalb wäre für mich auch eine Karriere als Kunstsachverständiger, Kurator oder Museumsdirektor denkbar gewesen.


    Die lehrreiche Studie von Matteo Marangoni
    Von links: Nachdruck von 1971 des italienischen Originals von 1933, deutsche Ausgabe von 1944t

  • Und wie mir meine sporadische Mitarbeit im Verlag meines Freundes in New York bewies, hätte ich auch vollberuflich als Lektor arbeiten können.


    Titelblatt und erste Seite meiner 8-seitigen Karl-May-Werbebroschüre.

    Außerdem wäre auch eine Rolle als Redakteur in Presse, Funk und Fernsehen (die BBC hatte mir ja 1963 einen Einstieg geboten).

Letztlich aber war es eine schicksalhafte Verquickung von materiellen Zwängen, günstigen Umständen und plötzlichen Gelegenheiten, die mich nach und nach auf einen anderen, ungewöhnlichen, ja einzigartigen Lebensweg führte. Heute bin ich nicht traurig darüber, dass meine anderen Fähigkeiten unausgereift geblieben sind, sondern ich bin froh darüber, wie es gekommen ist.

Mein Hauptziel habe ich allerdings verfehlt: Es ist mir nicht gelungen, die von der Berliner jüdischen Pionieren konzipierte Sexualwissenschaft im Sinne ihrer Gründer nach Deutschland zurückzubringen. Die aktiven Widerstände waren einfach zu stark. Kleingeistige, neidische Akademiker, eine kurzsichtige, engstirnige feministische und schwule Interessenpolitik und dazu noch eine allgemeine historische Ignoranz, intellektuelle Trägheit und passive Gleichgültigkeit verhinderten in Deutschland die Wiederbelebung dieses weltoffenen, global orientierten kulturellen Erbes. Ja, anders als meine ausländischen Kollegen, haben sich die deutschen noch nicht einmal mein Internet-Angebot mit seinen Online-Kursen und Online-Bibliotheken zunutze gemacht. Übrigens war ich auch der erste deutsche Sexualwissenschaftler nach Hirschfeld, der China besuchte, und leider bin ich bis heute der einzige geblieben. Ich kehrte sogar über viele Jahre mehrmals dorthin zurück und baute dabei ein großes Netz von Kontakten auf. Noch immer bekomme ich Einladungen aus China, kann sie aber nicht mehr annehmen, da ich jetzt wegen meines hohen Alters die nötige lange Flugreise nicht mehr durchhalten würde. Aber einen kleinen bleibenden Teilerfolg habe ich doch erzielt: Das Haeberle-Hirschfeld-Archiv ist und bleibt Teil der Zentralbibliothek an der Humboldt-Universität und wird auch in Zukunft an die Anfänge und an das ursprüngliche Konzept der wissenschaftlichen Unternehmung erinnern, der ich reuelos mein Leben gewidmet habe. Und damit zurück zu den Details meiner tatsächlichen Arbeit:

Die letzten Reise-Illustrationen meines obigen Textes (aus China und Taiwan, Prag, Hamburg und Glasgow) geben schon erste Hinweise auf einige Hauptmotive meiner beruflichen Tätigkeit, hier z.B. ihre globale Ausrichtung, meine Zusammenarbeit mit ausländischen Kollegen, meine kulturhistorischen Interessen und meine häufige Teilnahme an internationalen Konferenzen. Der voraufgegangene Text insgesamt liefert ja dazu noch viele Einzelheiten.

Dabei zeigt sich zweierlei: Erstens waren alle meine Publikationen eigentlich Gelegenheitsarbeiten, denen kein fester Gesamtplan zugrunde lag, und zweitens war ich immer nur ein halber Sexualwissenschaftler gewesen, also keiner, bei dem Forschung und Lehre stetig Hand in Hand gingen. Leider hatte ich kaum jemals eine nennenswerte Sexualforschung betreiben können, denn die Verhältnisse waren leider nicht so. Stattdessen war meine Haupttätigkeit eigentlich nur die Sexualpädagogik in ihren verschiedenen Formen gewesen, wenn auch auf Hochschulniveau. Zwar hatte ich am Kinsey-Institut einige kulturhistorische Forschungen anstellen und ihre Ergebnisse publizieren können, aber mein geplantes Hauptprojekt, eine gründliche Kulturgeschichte der Sexualwissenschaft, war ungünstigen Umständen zum Opfer gefallen. Später hatte sich noch die Gelegenheit ergeben, bei einer groß angelegten Sexualumfrage in China mit zu wirken, aber ich war als Mitautor tatsächlich wenig mehr als ein willkommener Unterstützer und Helfer. Die eigentliche Arbeit wurde doch von meinen chinesischen Kollegen und Hauptautoren geleistet. Ansonsten war ich immer gezwungen gewesen, meine Energie der Wissensvermittlung zu widmen - in Büchern, Aufsätzen, Vorträgen, Buchbesprechungen, Videos, regulären Vorlesungen und Seminaren. Und die aktive Beteiligung an Fachorganisationen und die Veranstaltung von Kongressen gehörten natürlich auch dazu.

Im Grunde konnte ich also nur das tun, was zehntausende andere Professoren in aller Welt eben auch tun - Materialien sammeln, Vorlesungen halten und Seminare leiten, regelmäßig publizieren, eine Fachbibliothek und eine Fachabteilung aufbauen, eigene Kongresse organisieren und an anderen Kongressen teilnehmen, zu Fachfragen öffentlich Stellung beziehen und, nicht zuletzt, Studenten betreuen und zum Magister- oder Doktorgrad führen. (Sogar nach meiner Rückkehr nach Deutschland war ich noch Gutachter bei einer Habilitationsschrift in Bremen und zwei Dissertationen in Berlin, wo ich auch an der mündlichen Prüfung der Doktoranden mitwirkte.) Im Übrigen sind viele meiner Bücher in verschiedenen Sprachen weiterhin im Handel, teilweise antiquarisch, aber auch noch als reguläre Angebote.

Glücklicherweise hatte ich es niemals nötig, mich an dem hier üblichen medialen Gezänk zu beteiligen, bei dem verschiedene gesellschaftliche Gruppen sexologische Kompetenzen reklamierten und in der populären Presse und in Fernseh-Talk Shows Aufmerksamkeit heischend über einander herfielen. Nur zu Beginn der AIDS-Krise machte ich eine Ausnahme und nutzte alle Mittel der Kommunikation, um die damals verantwortlichen deutschen Gesundheitspolitiker in ihrer richtigen Vorbeugungsstrategie zu unterstützen. Dazu fühlte ich mich selbst als Bürger von San Francisco verpflichtet, denn die offizielle deutsche Sexualwissenschaft hatte ja die Politik völlig im Stich gelassen. Danach und ansonsten aber nutzte ich den Vorteil meiner Unabhängigkeit, um ohne öffentliches Getöse meine Arbeit zu tun. Mir genügte deren weltweite Anerkennung, die sich in den stetig wachsenden Nutzerzahlen meines Online-Archivs ausdrückte.

Allerdings nahm ich gelegentlich noch Stellung zu aktuellen Themen. Als z.B. nicht nur die UNO, sondern auch die Europäische Union die Definition von "Kind" auf "jede Person unter 18 Jahren" ausdehnte, schrieb ich einen Protestbrief an Romano Prodi, an den damaligen Präsidenten der EU-Kommission, bekam allerdings nur eine nichtssagende Antwort.

Als in den USA und Europa eine heftige Diskussion über die gleichgeschlechtliche Ehe aufkam, aktualisierte ich mein Lehrbuch in Bezug auf die Formen und Bedeutung der Ehe, schrieb einen entsprechenden Text für eine Fernsehzeitschrift  und produzierte ein kurzes Video.

Als in der Presse zunehmend über "die weibliche Beschneidung" berichtet wurde, stellte ich zu diesem Thema zwei längere Videos ins Netz, und zwar sowohl in englischer wie deutscher Sprache.

Als besonders in amerikanischen Massenmedien immer öfter heftige, aber uninformierte Diskussionen über "Pädophilie" geführt wurden, versuchte ich mit einem Video auf die nötigen Differenzierungen hinzuweisen.

Und als nach dem Ende des "arabischen Frühlings" Berichte auftauchten, wonach dort verhaftete Demonstrantinnen im Polizeigewahrsam massenhaften, demütigenden und sinnlosen "Jungfräulichkeitstests" unterzogen wurden, versuchte ich, mit einem entsprechenden Video die nötige Aufklärung zu leisten. Leider hat YouTube dann eine völlig ungerechtfertigte "Jugendsperre" davor geschaltet. Dennoch erwies es sich als außerordentlich populär und führte dazu, dass mir spontan eine arabische Übersetzung zugeschickt wurde, die allerdings nur als reiner Text verfügbar ist.

Jedenfalls konnte ich, selbst nach dem offiziellen Ende meiner beruflichen Laufbahn, auf pädagogischem Gebiet doch noch etwas Neues leisten: Innerhalb einer Dekade baute ich mein ständig wachsendes Archiv erheblich aus und teilte es in ein gedrucktes, das ich als Haeberle-Hirschfeld-Archiv der Humboldt-Universität zum Geschenk machte, und in ein elektronisches, das ich als Archive for Sexology auf eigene Kosten von meiner Wohnung aus weiter betreibe. Dieses Online-Archiv liefert nun in 15 Sprachen Informationen zur sexuellen Gesundheit, die weltweit frei zugänglich sind. Dabei gelang es mir mit der Zeit, neben einem 6-teiligen Studiengang, vier umfangreichen Bibliotheken in verschiedenen Sprachen und dem sonst allgemein Üblichen noch zwei weitere Besonderheiten zu bieten:

  1. Ein eigenes sexologisches Wörterbuch und ein Glossar unsachgemäßer Fachausdrücke, in deutscher und englischer Sprache.
  2. Mein kalifornischer Kollege Vern Bullough vertraute mir kurz vor seinem Tod die Herausgeberschaft des von ihm begründeten sexologischen Lexikons an. Ich schrieb ihm deshalb umso lieber einen ehrlich dankbaren Nachruf. Das Lexikon war in seiner damaligen gedruckten Form das erste und einzige Werk seiner Art. Seither führe ich es in seinem Sinne im Internet weiter, und so ist es als Open access-Publikation weiterhin einmalig und konkurrenzlos.


Foto: Leonore Tiefer, New York

Mit meinem kalifornischen Kollegen Vern Bullough 2004
In Helsinki beim Treffen der International Academy of Sex Research (IASR).

An dieser Stelle fällt mir jetzt noch etwas anderes aus meiner Zeit in Kalifornien ein, an das ich schon lange nicht mehr gedacht habe, das vielleicht aber einige Fachleute interessiert. So muss ich nun doch noch meinen eingangs ausgesprochenen Vorsatz brechen und wenigstens in einer Fußnote eine Anekdote erzählen, die als kleine, aber erhellende Kuriosität der Nachwelt nicht verloren gehen sollte. (54)


Der weltweit erste open access Online-Kurs

Wie schon erwähnt, gelang mir Anfang 2003 etwas wirklich Neues, ja Revolutionäres  - mein open access Online-Kurs - der weltweit erste Kurs, der im Internet frei zugänglich war. So wurde ich zum eigentlichen Erfinder und Pionier der MOOCs (Massive Open Online Courses), die inzwischen von Dutzenden Universitäten in vielen Ländern angeboten werden und zu einem Millionengeschäft geworden sind. Leider hatte keine deutsche Universität jemals Interesse daran, auch nicht die Humboldt-Universität. Immer wieder bat ich die Universitätsleitung, mein innovatives Projekt eines kompletten Studiengangs vorführen zu dürfen - jedes Mal vergeblich. Dabei richtete sie mit Industriespenden gleichzeitig ein eigenes Institut für Internet und Gesellschaft ein (populär Google-Institut genannt). Dieses zeigte aber ebenfalls keine Neigung, mein Online-Archiv wahrzunehmen, auch nicht, als ich der dortigen Leitung ein kritisches Memorandum über die wahrscheinlichen Folgen globalen digitalen Lernens zuschickte. Ihr Desinteresse war und blieb total. Also liefen alle meine Versuche, Kontakt mit diesem Institut aufzunehmen, ins Leere. Wie anders dagegen Prof. Wu Jieping und die Kollegen in China! Dort werden nun mit meinen Online-Kursen jedes Jahr mehrere tausend Sexualerzieher(innen) ausgebildet. Auch die deutsche Presse nahm, trotz ständig wiederholter Bitten, einfach keine Notiz von meiner Arbeit. Erst zehn Jahre später berichtete sie über die MOOCs als überraschende, revolutionäre Neuerung und schrieb dann deren Erfindung irgendwelchen Amerikanern aus Silicon Valley zu, die angeblich 2006 oder 2007 diese zukunftweisende Tat vollbracht hatten. (Auch Wikipedia enthält solche Falschinformationen.)

Kopfzeilen meiner vollständigen Online-Studiengänge

Mein Studiengang Sexuelle Gesundheit besteht aus 6 kostenlos
zugänglichen Online-Kursen, die in 7 Sprachen verfügbar sind.

Von oben: Englisch, Chinesisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Tschechisch, Ungarisch.

Den Studiengang habe ich von vornherein für Studenten und andere Interessierte in aller Welt, besonders aber in den Entwicklungsländern geschrieben. Er setzt daher keinerlei Vorkenntnisse voraus, sondern erklärt alles von Grund auf. Insofern stellt er auch die zeitgemäße Form eines Lehrbuchs dar, ja, er bietet diesem gegenüber erhebliche Vorteile: Mit seinen vielen Archiv-internen und auch externen Links hätte er ausgedruckt einen Umfang von mehreren tausend Seiten - eine Unmöglichkeit bei traditionellen Lehrbüchern. Außerdem ist er schnell und leicht aktualisierbar. Und schließlich kann er jederzeit und überall sowohl auf PCs wie auch auf Tablets/Pads und Smartphones studiert werden. Dem gegenüber ist ein gedrucktes Lehrbuch auf die Dauer chancenlos. Es ist daher leicht vorherzusehen, dass Lehrbücher, wie wir sie teilweise heute noch kennen, keine Zukunft mehr haben. Sie werden früher oder später durch Online-Kurse ersetzt werden. Diese und andere Entwicklungen sind Teil unserer gegenwärtigen elektronischen Revolution, die noch viele andere radikale Folgen für Lehre und Studium haben wird.

Damit hatten sich meine vielen Vorträge im Ausland und meine häufige Teilnahme an internationalen Kongressen ausgezahlt: Kollegen aus aller Welt schickten mir sexologisch wichtige Bücher und Aufsätze zu, für die sie selbst das Copyright besaßen, und die ich deshalb in open access Online-Biblioheken anbieten konnte. Andere Kollegen machten sich spontan und begeistert an die Übersetzungen meiner Kurse. Zu diesem Zweck teilten sie zumeist längere oder kürzere Abschnitte als Seminar- oder Magisterarbeiten an ihre Student(inn)en aus und gaben ihnen die entsprechenden Scheine dafür. So wurde diese globale Kooperation zu einem Erfolgsmodell für die elektronische Zukunft, denn es produzierte eine win-win-Situation für alle Beteiligten: Die Studierenden bekamen ihre akademischen Credits, ihre Professoren meine Kurse in ihrer Landessprache zur eigenen Weiterverwendung, und ich konnte mit meinem Archiv ein nochmals verbessertes Angebot machen. Es war ein Geschenk, das ich nicht auch noch aus eigener Tasche bezahlen musste.

Allerdings lebte ich dabei mit einer ständig lauernden Unsicherheit: Mein Archiv lief auf dem Server der Universität, wurde dort aber im Grunde nur geduldet. In der Tat, bald kam es zum absehbaren Ende: Anfang 2012 erhielt ich einen höflichen Brief von der Universitätsleitung. Wie es darin hieß, besitze man leider nicht die Expertise und Ressourcen meinem Archiv gerecht zu werden. Man schlug mir deshalb vor, bis Mitte des folgenden Jahres zu einem neuen Provider zu wechseln. Seltsamerweise zeigte der mir sonst sehr gewogene und von mir geschätzte Klaus M. Beier mit seinem Charité-Institut für Sexualmedizin kein ernsthaftes Interesse an der Übernahme meines Online-Archivs. Daraufhin bot es den HU-Geschlechterstudien an. Dort aber sah man sich außerstande, irgendetwas Sinnvolles damit anzufangen und fühlte sich weder inhaltlich noch technisch auf seine Fortführung vorbereitet. Schließlich versuchte ich es noch bei der Sozialmedizin und den Rehabilitationswissenschaften, aber auch diese zeigten keinerlei Interesse.

Also blieben mir noch 18 Monate für die Verbindung zu Humboldt-Universität - eine Zeit, die ich so gut wie möglich nutzte. Trotz allem konnte ich ja mit der Entwicklung zufrieden sein. Mein Online-Archiv verzeichnete für das Jahr 2012 noch über 100 Mio. Zugriffe (hits) und über 4 Mio. Besuche (visits) aus über 200 Ländern. Allein im Monat Dezember hatte es über 9 Mio. Zugriffe und über 380 000 Besuche gezählt. Es hatte also in einem einzigen Monat mehr Besuche aus mehr Ländern gehabt als das frühere Institut Hirschfelds in allen 14 Jahren seines Bestehens.

Mit der Neuberufung des sexologisch interessierten Philologen Andreas Kraß gegen Ende 2012 kam noch einmal etwas Bewegung in die Sache. Er lieferte der Stiftung Humboldt-Universität in kürzester Zeit einen Plan, der, mithilfe verschiedener anderer Interessenten, in absehbarer Zeit auch ganz offiziell zu einem neuen Hirschfeld-Institut geführt hätte. Diesem Plan gab ich natürlich meine volle Unterstützung. Er wurde aber sehr schnell abgeschmettert, und damit war die letzte Hoffnung begraben. Als sich am 6. Mai 2013 die Plünderung und Schließung von Hirschfelds früherem Institut zum 80. Mal jährte, gelang es Kraß noch, in Berlin eine internationale Gedenkveranstaltung zu organisieren. Ich schrieb dafür einen Vortrag, der meine eigenen Bemühungen zusammenfasste: Das Haeberle-Hirschfeld-Archiv - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Für mein elektronisches Archiv aber war es in Berlin nun endgültig zu spät.

Wie ich in dem Vortrag erwähne, hatte die Universität damit die einmalige Chance vertan, nicht nur ein großes historisches Unrecht zu korrigieren, sondern auch die, in der Sexualwissenschaft wieder eine globale Führungsrolle einzunehmen. Kurz, in diesem Punkt und in der universitären Nutzung des Internet war Berlin eben doch nur ein selbstzufriedenes Posemuckel an der Spree. Andererseits hätte aber auch die Magnus-Hirschfeld-Bundesstiftung mit ihrem Grundkapital von 15 Mio. Euro und entsprechenden Zinsen leicht in die Bresche springen und das Projekt für Berlin retten können. Aber die dort Verantwortlichen waren eben auch typische Durchschnittsdeutsche, selbstzufrieden, beschränkt und bieder ohne globale Ambitionen und ohne wirkliche Ahnung von der Sexualwissenschaft und ihrer Geschichte. Für sie war Hirschfeld vor allem ein Vorkämpfer für Schwulenrechte. Seine eigentliche Lebensleistung und deren internationale Ausrichtung waren und blieben ihr gleichgültig.

Ein ähnlich reduziertes Verständnis zeigte der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) dem ich als Kuratoriumsmitglied beitrat. Er warb - und wirbt immer noch - für ein eigenes Hirschfeld-Denkmal in der Mitte Berlins. Ich musste allerdings bald feststellen, dass die anderen Kuratoriumsmitglieder damit wieder nur den Schwulenvorkämpfer Hirschfeld ehren wollten. Von seiner Rolle und seinen Zielen als Sexualwissenschaftler aber verstanden sie nichts und hatten auch keine Lust, sich damit zu befassen. So nahmen sie denn auch keine Notiz von meiner sexologischen Forschungsbibliothek, die als Haeberle-Hirschfeld-Archiv in der Humboldt-Universität bereits zur Verfügung stand. Zusammen mit meinem elektronischen Archiv, das damals sogar noch Hirschfelds Namen trug, stellte es ja bereits in moderner Form genau das große, weltweit sichtbare Denkmal dar, das der LSVD weiterhin erst für die Zukunft plant. Es gab aber auch sonst niemanden in Deutschland, der das erkannte. Man dachte dort eben immer noch in den Kategorien des Gutenberg-Zeitalters.

Es war mir deshalb eine geistige Erholung, als ich im Juli des Jahres der deutschen Enge entfliehen und als langjähriges Mitglied der International Academy of Sex Research (IASR) an ihrem Treffen in Estoril teilnehmen konnte. Das gab mir die Gelegenheit, wieder einmal eine internationale Atmosphäre zu atmen und alte Freunde wiederzusehen. Glücklicherweise ergab sich bald darauf noch eine zweite Chance beim EFS-Kongress in Madrid, wo ich, zusammen mit meinem portugiesischen Kollegen Antonio Palha, noch ein weiteres Mal meinen Online-Studiengang  live demonstrieren konnte.

Im folgenden Sommer 2013 wechselte ich, wie von der Humboldt-Universität gewünscht, von ihrem Server auf einen neuen, privaten Server hinüber. Dafür entwarf ich ein neues Logo und strich den auf anderen Kontinenten nicht geläufigen Namen Magnus Hirschfeld aus dem Titel. Auf diese Weise vereinfacht, bot ich dann ein weiter wachsendes, vielsprachiges Archive for Sexology an. Leider aber hatte der Wechsel vom Institutionellen ins Private sehr negative Folgen für unsere Einschaltquoten, denn wir verloren sofort den größten Teil unserer bisherigen Besucher. Vorher hatten wir bei der Suchmaschine Google beim Suchbegriff sexology immer den ersten Platz von über einer halben Million Resultaten eingenommen. Nun fielen wir weit zurück auf die hinteren Plätze. Vorne standen plötzlich viele andere mit weit geringeren Informationsangeboten. Bei den anderen bekannten Suchmaschinen erlebten wir dann das Gleiche. Warum dies geschah, weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, dass Googles Algorithmen eben undurchsichtig sind. Offensichtlich zählen hier weder Qualität noch Quantität (nach beiden Kriterien sind wir bei den Themen sexology und sexual health weltweit immer noch konkurrenzlos), sondern etwas Geheimnisvolles anderes. Was unter diesen Umständen auf lange Sicht aus meinem Online-Archiv wird, kann ich im Augenblick nicht sagen.

Neues Logo für mein Online-Archiv

Das Logo zeigt zweimal den Buchstaben X und einmal den Buchstaben Y
als Hinweis auf die Chromosomenunterschiede zwischen den beiden Geschlechtern:
XX (weiblich) und XY (männlich)


Spätere Ehrungen

1. In Südafrika

Allerdings findet meine Arbeit weiterhin internationale Anerkennung, besonders auch in Entwicklungsländern. So wurde ich z.B. im Oktober 2013 von der Academy for Sexology in Pretoria, Südafrika, zum Ehrendoktor ernannt (D.S. h.c.). In einem zweiten Dokument wurde ich dann auch noch als Sexologe des 20. Und 21. Jahrhunderts geehrt. Der Gründer und Leiter dieser privaten sexologischen Hochschule, Johann Lemmer, hatte mich, zusammen mit einigen seiner Studenten, schon 2011 in Berlin besucht und zwei seiner von ihm verfassten Bücher für meine Online-Bibliothek beigesteuert. Da seine für sein Land völlig neuartige Akademie immer noch um ihre endgültige Akkreditierung kämpft, mache ich von ihrem Ehrendoktortitel natürlich keinen Gebrauch. Aber ich freute mich doch über die Würdigung meiner Arbeit.

Juni 2011: Besuch aus Südafrika


Mit Prof. Lemmer, Pretoria (links) im Haeberle-Hirschfeld-Archiv, Berlin

  
Zwei Dokumente
Von links: 1. Ernennung zum Ehrendoktor der Sexologie
2. Zertifikat, das mich zum Sexologen des 20. und 21. Jhdts. erklärt.

2. In der Türkei

Im Mai 2015 wurde ich zum wissenschaftlichen Berater einer neuen türkischen Fachzeitschrift Sexus ernannt. Ihr Herausgeber, Dr. Umit Sayin, wurde Mitglied meines wissenschaftlichen Beirats. Obwohl ich als einer der Hauptredner in letzter Minute verhindert war, erhielt ich bei dem von ihm organisierten ersten International Anatolian Congress on Neuroscience and Sexual Health einen Preis für mein Lebenswerk - den International Dionysus Award. Er wurde gestiftet von der der türkischen Association of Sexual Health Education, Research, and Treatment (ASEHERT). Deren Zeitschrift Sexus ernannte mich zum Mitherausgeber. Ohnehin mache ich ja schon lange die türkische Übersetzung meines Lehrbuchs Cinsel Atlas im Internet kostenlos zugänglich

Ehrung in der Türkei

  

Von links: Für mein Lebenswerk erhielt ich im Mai 2015 den
türkischen Dionysus-Preis für Sexologie.
Außerdem wurde ich zum Mitherausgeber der neuen türkischen Fachzeitschrift Sexus ernannt.

Mein Archiv ist - und war ja von Anfang an - auf ein weltweites Publikum ausgerichtet, dem es ein Grundwissen über sexuelle Gesundheit vermitteln soll. Dazu liefert es, wie bereits beschrieben, neben einem Studiengang noch Online-Bibliotheken in vier Sprachen mit sehr ausführlicher Fachliteratur in Form von Lexika, Büchern und Aufsätzen, darunter auch Originalbeiträge. Dieses Angebot reicht für ein Studium bis zum Magistergrad aus. Die aktuelle Forschung lasse ich - mit einigen Ausnahmen - unberücksichtigt, und zwar nicht nur aus Gründendes Copyright.  An unserem Grundwissen hat sie bisher jedenfalls nichts Entscheidendes geändert.


Die Zukunft der Sexualforschung?

Die weltweite schnelle Verbreitung der MOOCs ist ein Hinweis darauf, dass für die Universitäten eine neue Epoche angebrochen ist, in der auch wir Sexologen uns neu bewähren müssen. Da aber die ursprüngliche Idee einer einheitlichen Sexualforschung im Sinne Blochs, Hirschfelds und auch noch Kinseys mittlerweile an Kraft verloren hat, ist es nun viel schwerer geworden, finanzielle Unterstützung oder überhaupt noch öffentliche Aufmerksamkeit zu finden. Die heutige Sexualforschung verfolgt keine große Linie mehr. Sie ist nun fast ganz auf vereinzelte naturwissenschaftliche Fragestellungen reduziert und findet in verschiedenen Ländern an traditionellen Universitätsinstituten statt. Dabei widmet sie sich Spezialproblemen in der Evolutionsbiologie, der Physiologie, der Hormonforschung, der Genetik und der Gehirnforschung. Die Ergebnisse sind noch nicht endgültig, werden von Spezialisten weiterhin kontrovers diskutiert und setzen sich zu keinem neuen Gesamtbild zusammen. Außerdem sind heute manche Sexualforscher in ideologische und terminologische Debatten verwickelt, sowohl untereinander als auch mit unterschiedlichen sozialen Gruppen, denen es aber gar nicht um wissenschaftliche Erkenntnis geht, sondern nur um den eigenen politischen Einfluss - eine Vergeudung von Zeit und Energie, die kaum konkrete Inhalte liefert. Diese Selbstablenkung durch emsige Geschäftigkeit hat also das Verständnis des menschlichen Sexualverhaltens bisher nicht wesentlich vertieft. Das kann sich in Zukunft natürlich ändern. Man hofft es jedenfalls. (55) Daneben erscheinen gelegentlich noch sozialhistorische Studien, die interessante Einzelheiten zu Tage fördern. So bereichern sie unser Wissen, haben es aber bisher auch nicht revolutioniert. (56)

Leider ist selbst das heute gesicherte sexuelle Wissen in Großteilen der Bevölkerung nach wie vor nur unzureichend bekannt und müsste mithilfe des Internet dringend weltweit verbreitet werden. Gleichzeitig hat die Sexualisierung der Medien in einem Maße zugenommen, das in meiner Jugend noch unvorstellbar war. Fernsehdramen und Krimi-Serien zeigen zur Hauptsendezeit häufig und sehr deutlich Paare beim Geschlechtsverkehr, populäre Tageszeitungen bieten Nacktfotos, die früher Männermagazinen vorbehalten waren. Dort wird jetzt auch empfohlen, dass Männer jeden Tag masturbieren sollten zur Vorbeugung gegen Prostatakrebs (Bild, 13. Februar 2017). Ratgeberspalten besprechen sehr offen intimste Probleme, große Plakate werben an Bushaltestellen für den Kondomgebrauch, örtliche Magazine und Telefonbücher enthalten Werbeanzeigen für Bordelle, Buchbestseller handeln von sadomasochistischen Phantasien usf.. Dazu kommt neuerdings noch das Internet mit seinem auch für Jugendliche praktisch ungehinderten, kostenlosen Zugang zu jeder erdenklichen Form der Pornographie (nur der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornographie sind strafbar). Gedruckte und elektronische Medien enthalten eindeutige Anzeigen für sexuelle Kontakte usw. usf. Vor allem aber steht das Ganze unter der Herrschaft des Kommerziellen. Sex sells, so heißt die Diktatur, die auch jeder Liberalisierung und Humanisierung des Sexuellen ihren hässlichen Stempel aufdrückt. Daher hat die gesamte Entwicklung ein Doppelgesicht wie Janus, der altrömische Gott des Übergangs vom Gestern zum Morgen. Es ist dieser Januskopf unserer wachsenden sexuellen Freiheit, der vielen ein unterschwelliges Unbehagen bereitet. Ja, es liegt nahe, hier sogar von einer Dialektik der sexuellen Aufklärung zu sprechen.

Selbst mein eigenes, für die Nutzer kostenloses Informationsangebot bewegt sich innerhalb dieser Dialektik, denn die Befürchtung ist keineswegs unbegründet, dass die vom globalen Markt erzwungene Effizienzsteigerung und Standardisierung der akademischen Lehre zwangsläufig auch zu genormten Standard-Inhalten führen und so nach und nach alle Querdenkerei ausschließen wird. Auch dazu könnte ich - ebenso wir meine elektronisch aktiven Kollegen - paradoxerweise ungewollt beitragen. 

Öffentliche Sexualaufklärung in Deutschland 2016

Diese und ähnliche große Plakate wurden an öffentlichen Plätzen wie z.B. Haltestellen von Bus und Straßenbahn aufgehängt.
Produziert wurden sie von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Oben: Ein Mann entdeckt seine Gonorrhoe, und seine Partnerin schaut entsetzt zu.
Unten: Zwei Männer  beim Analverkehr.

1. Wachsende Toleranz

Aber halten wir uns zunächst an das Positive: Die fortschreitende Kommerzialisierung des Sexuellen ist ja unter anderem auch gleichzeitig ein wichtiger Antrieb der Liberalisierung. Je mehr Menschen sich offen zu ihren sexuellen Interessen bekennen, desto eher sind sie auch als legitime Kunden erreichbar und ansprechbar. Dem Profitstreben wohnt also grundsätzlich ein gewisser Zwang zur sexuellen Toleranz inne. Diese hat inzwischen auch zu einer spürbaren gesellschaftlichen Entspannung beigetragen, die vielen sexuellen Minderheiten das Leben erleichtert. Aber auch Normalbürger haben profitiert: Unverheiratete Paare mit Kindern werden gesellschaftlich akzeptiert, Jugendlichen wird stillschweigend ein aktives Sexualleben eingeräumt, ungewollt Kinderlosen gönnt man gerne eine künstliche Befruchtung durch anonyme Samenspender usw.. Auch die gleichgeschlechtliche Ehe hat überraschend schnell weitgehende Akzeptanz gefunden. Kurz, viele früher missbilligte und deshalb verborgene Spielarten der menschlichen Sexualität sind heute kein Geheimnis mehr und werden als ungefährlich geduldet. Allerdings geht diese Duldung mit einer fortschreitenden Überwachung einher. Für den Kommerz bedeutet das einen Zuwachs an potenziellen Käufern, und damit erhöhen sich noch einmal seine Gewinne. Insofern leben wir nun in einer zunehmend offenen Gesellschaft.

Wie weit diese Öffnung in Zukunft noch gehen wird, ist eine Frage, auf die es jetzt keine Antwort gibt. Sicherlich aber wird die uns heute schon verfolgende Werbung noch erheblich penetranter werden. Gleichzeitig aber könnte die Überwachung von immer mehr Menschen den Überwachern zu der Erkenntnis verhelfen, wie vielfältig das menschliche Sexualverhalten ist (und immer schon war) und wie wenig davon wirklich der Gesellschaft schadet und verdrängt werden muss. Das könnte dem Kommerz wieder neue Geschäftsfelder eröffnen und so zu einer weiteren Zunahme der Toleranz führen.

China ist nun dabei, die staatliche Totalüberwachung der gesamten Bevölkerung umzusetzen. Die Überwachung erfolgt durch allgegenwärtige Videokameras in der Öffentlichkeit und digital durch die Sammlung von persönlichen Internet-Nutzungsdaten. Auf dieser Grundlage wird dann ein Sozialkreditsystem eingerichtet, das jedem Individuum eine feste Zahl von Punkten zuteilt. Bei unsozialem Verhalten wird, je nach Schwere der Verstöße, eine gewisse Punktezahl abgezogen, und dies hat dann für die Betroffenen verschiedene negative Folgen. Die einzelnen Überwachten können sich aber mit einer App jederzeit über ihren eigenen Punktestand informieren und diesen ggf. verbessern. Das gesamte gewaltige Vorhaben ist jedenfalls ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Viele Details sind noch unbekannt. Sexologen dürfte vor allem eins interessieren: Ob, und, wenn ja, welches Sexualverhalten dabei positiv oder negativ bewertet wird. Das ist zurzeit noch unklar. Es könnte durchaus sein, dass dem überwachenden Staat, ähnlich wie den westlichen Privatfirmen, nach und nach bewusst wird, dass manches, bisher als abweichend geltende Verhalten eigentlich recht häufig ist und keine gesellschaftliche Bedrohung darstellt. So könnte auch hier die Überwachung zu größerer Toleranz führen, und dabei könnte die Artificial Intelligence (AI) durchaus eine Rolle spielen. Auf diese Weise würde das chinesische Großprojekt zu einem sich selbst korrigierenden System. Ob es dazu kommt, ist allerdings offen.

In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass es bereits heute in China ein sehr populäres Internet-Angebot gibt, das schwule Bekanntschaften vermittelt. Dieser in Peking ansässige, staatlich geförderte Gay Dating-Service mit dem Namen Blued hat über 40 Millionen - auch westliche - Nutzer, offensichtlich zum Wohlgefallen der Behörden. Andererseits aber haben diese kürzlich alle filmischen Darstellungen homosexueller Beziehungen verboten. Das betrifft dann wohl auch die in Asien sehr populären BoyLove-Filme (BL movies). Diese werden in Japan, Taiwan, Südkorea, Hong Kong und Thailand als Fernseh- und Internetserien vornehmlich für die enorm hohen Einschaltquoten von weiblichen Teenagern produziert. Die Mädchen wollen immer wieder aufs Neue sehen, wie junge Männer sich ineinander verlieben, sich umarmen, küssen und liebkosen, was sie in diesen Filmen denn auch ausgiebig tun.

Was dieser Widerspruch in der chinesischen Zensurpolitik bedeutet, und ob er wann, wie und warum aufgelöst wird, muss die Zukunft zeigen. (Übrigens: Mir sind keine entsprechenden westlichen Serien als Dauerbrenner bekannt. Es gab zwar hier und da Versuche, aber ein Millionenpublikum von Mädchen wie in Asien scheint es im Westen für dergleichen nicht zu geben.)

2. Zunehmende Überwachung

Es könnte aber auch anders kommen, selbst bei uns hier im Westen: Durch die neuen elektronischen Medien dringt die Kommerzialisierung, dank unserer aktiven Mithilfe, immer tiefer in alle unsere Lebensbereiche vor, auch in die intimsten. Allein schon, indem wir im Internet Informationen suchen, es für Einkäufe und Reiseplanungen nutzen und in digitalen sozialen Netzwerken aktiv sind, liefern wir freiwillig immer mehr persönliche Daten an riesige, unkontrollierte Privatfirmen. Über längere Zeiträume akkumuliert, erstellen diese Daten für jede Person ein immer präziseres Profil ihrer Gewohnheiten und Vorlieben. Alle diese Profile wiederum werden von den Firmen als Big Data gesammelt und vermarktet. So handeln sie zum Beispiel, ohne dass wir es immer bemerken, mit unseren ureigensten Attributen wie unserem Wohnort, Familienstand, Bildungsgrad, literarischen Geschmack, Einkaufsgewohnheiten, Musikkonsum, Bekanntenkreis, unseren Urlaubszielen und Liebhabereien. Dazu kommen bald noch verschiedene Gesundheitsdaten wie Arzt- und Apothekenbesuche, Krankenhausaufenthalte, Kuren, Ernährung, regelmäßige oder fehlende sportliche Betätigung usw.. All das wird in tausend Einzelheiten gespeichert und nach und nach zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Auf diese Weise bekommen wir - selber unbezahlt - mit der Zeit virtuelle Doppelgänger, die für andere Leute Geld verdienen. Eigentlich werden wir damit selbst zur Warse.

Gleichzeitig bewegen wir uns aber - wie in China - auf eine Totalüberwachung der Gesellschaft zu, nicht allein durch den Staat, sondern vor allem auch durch gigantische Privatfirmen. Bisher wird diese Überwachung teilweise schon als lästig, aber noch nicht als bedrohlich empfunden, denn sie verfolgt jetzt noch rein kommerzielle, harmlos erscheinende Zwecke. Wir spüren sie nur indirekt durch die zunehmende, gezielt auf uns persönlich zugeschnittene Werbung. Was wir selbst kostenlos liefern, dient noch hauptsächlich dem enormen Profit der Vermarkter, die dadurch immer reicher und mächtiger –  und das heißt auch schwerer kontrollierbar –  werden. Früher oder später aber wird sich auch die Frage nach den möglichen politischen Folgen der totalen Überwachung stellen. Diese Frage ist unvermeidlich, selbst wenn man dabei die Überwachung durch Geheimdienste oder kriminelle Hacker zunächst einmal außer Acht lässt.

Auf dieses überaus wichtige, aber sehr komplexe Problem kann ich hier nicht eingehen. Stattdessen bleibe ich bei dem eng gefassten Thema meiner Berufslaufbahn und frage nur: Was bedeutet das heute und künftig für die Sexualforschung?

Zunächst einmal sollten wir an die Gefahren denken, die von jeder rein privat finanzierten Forschung drohen. Es ist z.B. völlig logisch, dass Pharmafirmen versuchen, die neurologische Forschung und die Hormonforschung für ihre Geschäftsinteressen zu nutzen und auch im Vorfeld entsprechend zu fördern. (Die Entwicklung der empfängnisverhütenden Pille ist hier ein klassisches Modell.) Grundsätzlich steht auch fest, dass Privatfirmen durch ihre Forschungen und die daraus entwickelten Produkte bedeutende Beiträge zur Heilung von Krankheiten und generell zur Erhaltung der menschlichen und tierischen Gesundheit geleistet haben. Die Sache wird aber bedenklich, wenn vermeintlich unabhängige, nicht kommerziell orientierte Universitäten unter dem Zwang, Drittmittel einzuwerben, sich von privaten Geldgebern abhängig machen und eigene Forschungen einschränken oder gar aufgeben. Sie wird noch bedenklicher, wenn von kommerziellen Interessen eine unangebrachte Medikalisierung der Sexualität betrieben wird, wenn also z.B. pharmazeutische Großunternehmen neue Präparate für die Behandlung angeblicher Funktionsstörungen entwickeln und mit großem medialem Aufwand vermarkten. Dann ergibt sich für die Sexualforscher die Frage, ob sie solchen Versuchen mit wissenschaftlichen Argumenten noch wirksam entgegentreten können. Außerdem liegt es in der Natur der Sache, dass eine übergeordnete Profitorientierung die Forschungslandschaft verzerrt, Teilerkenntnisse verabsolutiert und so indirekt auch ein vollständiges Verständnis der untersuchten Phänomene verhindert. Damit würden dann nur noch genehme Ergebnisse den Wissensstand und die Diskussion bestimmen.

Eine besorgniserregende Entwicklung bahnt sich zum Beispiel in der Gehirnforschung an: Hier an der Universität Freiburg haben Forscher inzwischen erfolgreich gezeigt, wie ein Mensch mittels seiner Gehirnaktivität einen Roboter steuern kann. Die Grundlage dafür ist das sogenannte deep learning, bei dem Computernach nach und nach selbständig lernen, auch komplexe Probleme zu lösen. So kann allmählich in immer mehr Fällen auf menschliches Eingreifen verzichtet werden. Sobald die Computer genug gelernt haben, entscheiden sie selbst. Es hängt denn eben alles von den richtigen Algorithmen ab. Wenn sich nun gleichzeitig die Messung menschlicher Gehirnströme verbessert, so dass sie zeitgenau aufgezeichnet werden können, so eröffnen sich für ökonomisch dominante Firmen wie Google und Facebook neue, riesige Geschäftsfelder, die dann natürlich auch einen politischen Machtzuwachs bedeuten. Die Versuchung für diese Firmen, in die entsprechende Forschung einzusteigen, ist deshalb unwiderstehlich. Schon jetzt tragen viele ihrer Kunden kleine Apparate mit sich herum, die ständig persönliche Gesundheitsdaten übermitteln, zusätzlich zum fast universal verbreiteten Smartphone, das ebenfalls Big Data liefert. Wenn aber erst einmal die Gehirnströme solcher Kunden in Echtzeit ausgelesen werden können, dann sind dem kommerziellen Gebrauch und Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Dann weiß man auf die Sekunde genau, worauf der Kunde positiv anspricht und was ihm nicht gefällt. Es ist aber gar nicht nötig, auf diese Weise alle Kunden zu erfassen. Es genügen auch repräsentative Probandengruppen in firmeneigenen Labors. Und dass diese Gruppen tatsächlich repräsentativ sind, dafür sorgen die vorher gesammelten Abermillionen Profile.

Auf die politischen Implikationen all dessen will ich hier wiederum nicht eingehen, stelle aber fest: Wo man mehr und mehr Lebensbereiche der künstlichen Intelligenz überlässt, da muss man auch mit künstlicher Dummheit rechnen. Und die Dummen wären dann wir alle. Zuletzt könnte es heißen: Der Mensch denkt, und der Algorithmus lenkt. (Facebook liefert schon heute amüsante Beispiele mit seinen teilweise albernen, sich selbst sabotierenden Zensurversuchen für Werbung.) Aber egal: Ob nun AI (Artificial Intelligence) oder AS (Artificial Stupidity), auch in der akademischen Lehre entgeht man solchen Gefahren nicht. Zur Illustration hier noch einmal zurück zum Thema MOOCs:

Wenn ein Professor erst einmal einen Massive Open Online Course (MOOC) fertiggestellt hat, dann hat er sich damit auch gleichzeitig für das darin behandelte Thema entbehrlich gemacht. Bestenfalls kann er noch als Berater für Aktualisierungen und als eine Art Kontrolleur tätig bleiben, aber die eigentliche Arbeit der Studentenbetreuung, Prüfung und Benotung kann von geringer bezahlten Lehrassistenten oder Monitoren übernommen werden. Ist der Professor berühmt, so bekommt er vielleicht noch Tantiemen, aber in den meisten Fällen werden die Universitäten jede weitere Bezahlung ablehnen und erklären, die Kursherstellung habe grundsätzlich zu den bereits bezahlten Aufgaben ihres Lehrpersonals gehört.

Die Entwicklung geht aber noch weiter: Schließlich werden auch die Monitoren entbehrlich, wenn ihre Arbeit noch sehr viel billiger durch Computer mit künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence AI) geleistet wird. Die Kurse laufen dann sozusagen vollautomatisch. Auch Zwischen- und Abschlussprüfungen werden von Computern durchgeführt und bewertet. Auf diese Weise schaffen sich dann am Ende nicht nur manche Universitätsabteilungen, sondern ganze Universitäten selber ab. Andererseits können selbständige, entlassene, pensionierte oder emeritierte Wissenschaftler privat und auf eigene Faust einzelne Kurse oder komplette Studiengänge entwickeln und sie dann exklusiv an bedrohte Universitäten verkaufen, die sich damit ihr virtuelles Überleben sichern. Sie haben dann vielleicht nur noch wenige oder gar keine Studierenden mehr vor Ort, aber eine große Anzahl davon im Netz, die mit ihren Studiengebühren genug Geld einbringen. Mein eigenes Beispiel kann hier als Anregung dienen, obwohl ich bisher mit meinem Angebot nichts verdient habe. In meinem Fall gilt eben leider: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. (Die chinesischen Universitäten, die meine Kurse ausgiebig nutzen, zahlen mir nichts, denn bei den jetzigen Währungsstatuten wäre eine Geldumrechnung und – überweisung technisch und rechtlich zu kompliziert. Bei meinen Besuchen in China selbst wurde ich deshalb von meinen Gastgebern, etwa für die Erstattung meiner Reisekosten, immer an Ort und Stelle bar in Dollars ausbezahlt.) So betrüblich schon diese Aussichten für Lehre und Studium sind, so erschreckend sind auch zwei weitere wahrscheinliche Folgen:

3. Weltweite Normierung

Durch das technische und finanzielle Übergewicht großer Universitäten und noch größerer Privatfirmen kann es zur weltweiten Dominanz bestimmter Lehrmeinungen und zur Ausblendung von Alternativen kommen. Wirtschaftlich schwächere oder rein private Initiativen von Individuen würden dann gar nicht mehr wahrgenommen. Dies wäre ein sich selbst potenzierender und beschleunigender Prozess, und dass dieser eintritt, halte ich eher für wahrscheinlich als unwahrscheinlich. Es würde zu einem fortschreitenden Streamlining kommen, d.h. zu einer allerseits akzeptierten Standardisierung und Übersichtlichkeit. Am Ende würde es auf der ganzen Welt nur noch ein genormtes Wissen geben, das alles Unregelmäßige ausschließt. Schon heute nutzen Journalisten Computerprogramme wie Cyborg und Bertie, um schnell aktuelle Berichte zu schreiben. Diese Programme können auf riesige, laufend ergänzte Datenmengen zurückgreifen. Große Teile des Inhalts werden dabei automatisch von Maschinen generiert. (Die Redakteure lieben das, denn die eingereichten Manuskripte, da von Maschinen geschrieben, sind immer frei von Tippfehlern.) Es ist deshalb für mich durchaus vorstellbar, dass in Zukunft - unter völligem Verzicht auf menschliche Autoren - ganze elektronische Lehrbücher und Online-Kurse von Maschinen mit künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence AI) geschrieben werden. Die Kurse selbst, mit ihren Zwischen- und Abschlussprüfungen würden dann auch nur noch von Maschinen durchgeführt und mit Zensuren bewertet. So würde der Trend zur Normierung des Wissens weiter verstärkt. Natürlich würde das auch den Verlust akademischer Arbeitsplätze bedeuten. Letztlich aber hieße es vor allem, dass Forschungsergebnisse, die nicht dem jeweils akzeptierten Paradigma bzw. Dogma entsprechen, gar nicht mehr zu finden wären. Sie würden soweit hintangestellt, dass sie praktisch in einem virtuellen schwarzen Loch verschwänden. So wären sie für die Wissenschaft verloren. Zu einem gewissen Grade war das zwar schon immer so, und es dauerte oft sehr lange, bis die nötigen Korrekturen erfolgten. Aber in der schönen neuen Welt der allumfassenden Elektronik könnte eine Korrektur für immer völlig ausbleiben, und so würde die Missachtung von Abweichlern total und unwiderruflich. Die Geschichte kennt aber viele Beispiele dafür, dass entscheidende wissenschaftliche Fortschritte eben gerade obskuren akademischen Außenseitern zu verdanken sind.

4. Künstliche Dummheit

Wie schon erwähnt: Es ist eine allzu kühne Annahme, dass die vielgepriesene künstliche Intelligenz (AI) tatsächlich immer hält, was sie zu versprechen scheint. Wie man ironisch formulieren könnte: Computer sind eben auch nur Menschen. Es gilt hier der unumstößliche Satz der programmierenden Informatik Garbage in, garbage out (GIGO). Daran werden auch die bereits vorausgesagten Quantum Computer nichts ändern. Selbst ein durch deep learning raffiniert gewordener Roboter kann endlich an eine unvermutete Grenze stoßen, weil sein Programmierer nicht alle Eventualitäten bis zur letzten Konsequenz durchdacht hat. Man könnte es also in Zukunft auch vermehrt mit künstlicher Dummheit (AS) zu tun bekommen. Es ist ein Problem, das sowohl im Großen wie auch - wohl sehr viel häufiger - im Kleinen auftreten kann. Schon jetzt gibt es kuriose Beispiele: Die oben erwähnten Boy Love Films, die in Asien für junge Mädchen (12-16 Jahre) produziert werden, sind im Westen von YouTube für Jugendliche gesperrt, ebenso mein eigenes Video über das Hymen (Jungfernhäutchen), das sich an Mädchen der gleichen Altersgruppe wendet.

Und hier zwei Beispiele aus der Wissenschaft: Ein Website namens Research Gate will die Kommunikation zwischen Forschern durch den Austausch von Originalarbeiten erleichtern. Dazu bietet er ein Kästchen an, in die man die vollen Texte eingeben soll. Diese Vorprogrammierung passt aber nicht auf mein eigenes sehr umfangreiches, grundsätzlich frei zugängliches Angebot. Ich könnte nur einfache Links eingeben, die beim Anklicken sofort den vollen Text liefern. Diese denkbar einfachste Möglichkeit ist aber von dem Web Design nicht vorgesehen, sondern wird eindeutig und absichtlich verhindert. Ebenso wird ausgeschlossen, dass man die eMail-Adressen der Anfrager erfährt. Also gibt es auch keinen anderen Weg, mit ihnen mit ihnen in Kontakt zu treten. Die sinnlose, vorprogrammierte Einschränkung von Research Gate macht also in Wahrheit für mich den angeblich angestrebten wissenschaftlichen Austausch unmöglich.

Noch grotesker ist der Fall von Facebook, dessen künstliche Dummheit das eigene Geschäftsmodell sabotiert. Beispiel: Als ich dort versuchte (natürlich gegen eine dafür eingeforderte Bezahlung), den ersten meiner Online-Kurse über sexuelle Gesundheit besser bekannt zu machen, fanden die Facebook-Algorithmen darin eine von ihnen nicht erlaubte Nacktheit (nudity) und ließen deshalb die von mir bezahlte Werbung nicht zu. Erst nach meinen mehrfachen Beschwerden, dass mein Kurs keinerlei Nacktheit enthielt, gestand man den Irrtum ein und gab dann verspätet die Erlaubnis. Aber gleich bei den nächsten Kursen wiederholte sich das wochenlange Gezerre mit dem gleichen Endresultat. Ich lernte daraus: Wenn die Facebook-Algorithmen in irgendeinem Text das Wort Sex oder eine seiner Ableitungen entdecken, so schließen sie daraus messerscharf, dass er mit Bildern von Nacktheit illustriert sein muss. Diese Assoziation ist sozusagen fest in das Programm eingebaut. Ob die Vermutung stimmt, ist dabei gleichgültig. Anstatt also in ein teures Programm zu investieren, das Unterscheidungen machen und die Tatsachen herausfinden könnte, verzichtet man lieber für alle Fälle auf mögliche Einnahmen, denn unterm Strich kommt man so immer noch billiger davon und erzielt, genau genommen, sogar noch einen Profit. Man nimmt den finanziellen Verlust also einfach in Kauf als the cost of doing business. Endlich verlor ich die Geduld und gab Facebook endgültig auf, denn ich erinnerte mich an die Einsicht Schillers: Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Und für die künstliche Dummheit gilt das erst recht.

Gerade dieser letztere, relativ harmlose Fall illustriert zweierlei: Erstens zeigt er, dass für die beherrschenden Digitalgiganten selbst bei der reinen Wissensvermittlung ökonomische Interessen überwiegen, ja ausschlaggebend sind. Die künftigen Folgen kann sich jeder Wissenschaftler selbst ausmalen. Zweitens verweist er auf ein Grundproblem: Auf dem Gebiet der Wissenschaft müssten die Programmierer eigentlich eine umfassende Bildung und einen ungewöhnlichen Weitblick besitzen, um jedes später mögliche maschinelle Fehlurteil auszuschließen. Stattdessen droht nun aber eine eng gefasste, sich selbst verstärkende Fachidiotie, die letztlich jeden Wissenschaftsanspruch untergräbt. Und wer garantiert denn, dass Roboter tatsächlich selbständig besser lernen als Menschen? Die falsche Entscheidung, die ein sich selbst überlassener Computer trifft, kann durchaus einen Schaden anrichteten, der nicht wieder gut zu machen ist. Allein schon die einfache Korrektur falscher Informationen kann sehr schwierig and sehr teuer werden, ganz zu schweigen von der korrekten Auflösung von fehlerhaften längeren Argumentationsketten, die vielleicht auch noch mit wichtigen anderen, nun als falsch erwiesenen Aussagen verwoben sind. Und dann ist auch noch dafür zu sorgen, dass die Korrekturen zur nötigen Wahrnehmung durch die Leser den gleichen prominenten Platz bekommen wie der ursprüngliche Irrtum – ein weiteres technisches und auch finanzielles Problem. Man geht aber wohl kaum fehl in der Annahme, dass unter dem überall ständig wachsenden finanziellen Druck die nötige Sorgfalt oft fehlen wird. Ein gutes Beispiel für die kommerziell motivierte, gewollt qualitätsblinde Willkür von Algorithmen bietet das Schicksal meines Online-Archivs. Bei jeder Google-Suche nach Sexology hatte es von Anfang an immer an erster Stelle gestanden. Nach 19 Jahren in dieser Führungsposition aber wurde es durch einen einfachen Server-Wechsel mit einem Schlag ins digitale Nichts verbannt.

Die künstliche Dummheit von Algorithmen machte mein weltweit größtes sexologisches Online-Angebot von einem Tag auf den anderen für interessierte Leser unauffindbar:

Visits meines Archivs auf dem Server der Humboldt-Universität

Die Statistik zeigt das letzte vollständig aufgezeichnete Jahr (2012) vor dem Wechsel auf einen privaten Server. Visits: Pro Jahr über 4 Mio. (Hits: Über 100 Mio.)
(Im Monat Oktober wurde der Server abgeschaltet wegen Überlastung durch den gleichzeitigen Aufruf unseres Archivs durch viele tausend chinesische Nutzer.)


Month Unique visitors Number of visits Pages Hits Bandwidth
Jan 12 329,42 392,073 614,24 9,418,845 103.28 GB
Feb 12 336,991 401,779 621,771 9,802,910 105.84 GB
Mar 2012 354,197 421,537 654,35 10,545,910 115.77 GB
Apr 12 309,736 366,55 569,644 9,149,941 101.48 GB
May 2012 336,475 400,102 614,464 10,072,355 113.87 GB
Jun 12 284,822 338,978 529,068 8,404,471 90.37 GB
Jul 12 259,589 311,42 492,684 7,533,809 84.63 GB
Aug 12 296,859 358,831 549,548 8,839,756 96.54 GB
Sep 12 315,275 376,74 565,142 9,335,879 103.10 GB
Oct 2012 97,815 110,288 234,797 2,971,654 41.91 GB
Nov 12 354,956 426,084 634,796 10,272,009 129.43 GB
Dec 2012 317,998 381,571 573,364 9,119,849 120.10 GB
Total 3,594,133 4,285,953 6,653,868 105,467,388 1206.33 GB

Visits meines Archivs auf einem privaten Server

Diese Statistik zeigt die Gesamtzahl aller Visits seit dem Wechsel meines Archivs auf einen privaten Server (2013). Visits insgesamt in 5 Jahren: ca. 1,2 Mio.

Angesichts dieser Tatsachen wird mir nun besonders unbehaglich, wenn ich an die Erforschung des allgemeinen Sexualverhaltens denke, denn hier bahnt sich ein völliges Ungleichgewicht der Einflussmöglichkeiten an. Auch unsere sexuellen Interessen werden unweigerlich zum Gegenstand der Marktforschung: Soziale Netzwerke und verschiedene Dating Sites liefern die ersten Hinweise, die sich nach und nach durch andere persönliche Informationen direkt und indirekt ergänzen lassen. Ohne die Diskussion darüber hier zu vertiefen, nenne ich nur das kleine, harmlose Beispiel einer amerikanischen Firma, die im Internet Pornographie anbietet: Sie hat im vergangenen Jahr die Nutzungsgewohnheiten ihrer Kundschaft analysiert und sie nach geographischer Herkunft, Lieblingsthemen und Verweildauer aufgeschlüsselt. Die Ergebnisse dieser Analyse waren ebenso überraschend wie erhellend und sind im Internet frei zugänglich. Als der Film Fifty Shades of Grey angekündigt und öffentlich diskutiert wurde, lieferte die gleiche Firma aktuelle und sehr detaillierte statistische Grafiken über die plötzlich zunehmende Nachfrage nach verschiedenen sadomasochistischen Inhalten. Einige Monate später gelang es dann Internet-Hackern, bei einem Service für unverbindliche Sex-Affären die persönlichen Daten von 37 Mio. Nutzern zu stehlen. Sie drohten sogar, diese Daten publik zu machen, wenn  ihre Forderungen nicht erfüllt würden (57) Dies letztere Beispiel zeigt noch einmal sehr deutlich, dass sich selbst intimste Details zu den individuellen Nutzern zurückverfolgen lassen. Das lässt bereits erahnen, was in Zukunft auch sonst noch alles möglich sein wird. Sogar für seriöse Sexualforscher könnten sich damit unerhörte neue Perspektiven eröffnen. Die Frage ist nur: Werden sie diese Forschung auch durchführen dürfen? Das ist leider keineswegs sicher, denn warum sollten die exklusiven Datenbesitzer ihnen das gestatten? Welches Motiv hätten sie, ihren kostbaren Besitz zu teilen, der ihnen ständig neues Geld einbringt? Anders gefragt: Wie kann sich die Wissenschaft unter den neuen, völlig ungleichen Machtverhältnissen noch als Kontrollinstanz behaupten? Hat sie dafür noch die Kraft? Hat sie die nötigen finanziellen Mittel? Oder bleiben die Alleinherrscher über unsere Daten bei ihrer privaten Marktforschung, die nur der Profitmaximierung dient? Wird eine übermächtige Kommerzialisierung am Ende alles durchdringen? Wird sie dann, immun gegen Kritik und Kontrolle, selbst zur ultimativen Unterdrückung?

Damit komme ich zu meiner letzten Frage: Wie ist die gegenwärtige Lage der Sexualwissenschaft in Deutschland insgesamt?


Das absehbare zweite Ende der deutschen Sexualwissenschaft

1. Fehlstart nach Ende der Nazizeit

Als Nazideutschland den Zweiten Weltkriegs verloren hatte, dauerte es noch lange, bis die Sexualwissenschaft wagte, sich am Ort ihrer Entstehung wieder in Erinnerung zu bringen. Die Umstände konnten ja auch kaum schlechter sein: Das ganze Land lag in Trümmern, und schon sein rein materieller Wiederaufbau erwies sich als langsam und schwierig. Außerdem fand sich Deutschland bald durch einen kalten Krieg in einen sozialistischen und einen kapitalistischen Teil aufgespalten und schließlich auch noch durch einen eisernen Vorhang und eine Mauer in Berlin getrennt. Wie man damals über beide Seiten der Grenze oft sagte: Die Leute hatten wahrlich andere Sorgen. Das alles war für eine Wiederbelebung der Sexualwissenschaft nicht günstig, und in der Tat wurde gleich bei ihrem Neuanfang schon ihr künftiges Ende vorprogrammiert.

Zunächst ist zu erwähnen, dass die ehemalige DDR von 1966 bis 1990 in Leipzig ein Zentralinstitut für Jugendforschung unterhielt. Dies erhob unter anderem auch Daten über jugendliches Sexualverhalten. Für die Wiederbelebung der deutschen Sexualwissenschaft hatte es aber nie eine Rolle gespielt, und bald nach der deutschen Wiedervereinigung wurde es abgewickelt. Anders in der Bundesrepublik: Während meines Berufslebens gab es dort insgesamt vier universitäre Einrichtungen für unser Fachgebiet. Das Institut in Frankfurt ist inzwischen geschlossen, das in Hamburg ist Teil der Psychiatrie geworden, neuerdings ebenso die Einrichtung in Kiel. Für das einzige heute noch selbständig bestehende Institut an der Charité in Berlin sehe ich auch keine Zukunft, ja, ich befürchte, dass es nach der Emeritierung seines Leiters ebenfalls geschlossen wird. Bleibt noch die Fachhochschule in Merseburg mit ihrer angewandten Sexualwissenschaft, was immer das heißen mag. Da man aber auch dort nur in deutscher Sprache unterrichtet, keine weltweiten Kontakte pflegt oder anstrebt, und auch kein digitales Angebot macht, kann ihr Programm bestenfalls nur eine sehr begrenzte Rolle spielen. Am Ende wird es sich, global gesehen, als ebenso schwach und einflusslos erweisen wie seine universitären Konkurrenzprogramme.

Das alles sind Folgen der Erbsünde, mit der man nach dem Ende der Nazidiktatur die deutsche Sexualwissenschaft fälschlicherweise in der Medizin verankert hat. Ich habe im Laufe der Jahre jedem, der es hören wollte, immer wieder erklärt: Eine Sexualwissenschaft, die in der Medizin angesiedelt wird, ist ein in einer Sackgasse totgeborenes Kind. Es ist nun einmal so: Sexualmediziner müssen sich ex officio mit den krankhaften Erscheinungen der Sexualität befassen, und damit treten dann alle anderen Aspekte in den Hintergrund, soweit man sie überhaupt beachtet. Fast immer beschränkt man sich auch da auf das Studium von kriminellem Handeln, soweit es eben pathologisch ist. Das allermeiste menschliche Sexualverhalten ist aber weder krank, noch kriminell. Also bleibt es von der Sexualmedizin unerforscht. Wenn diese sich dann großspurig als Sexualwissenschaft ausgibt, so ist das entweder Anmaßung oder Selbsttäuschung. Es ist gerade so, als unterhielte man ein Institut für Wirtschaftswissenschaft, das nur Bankrotte und Börsenkräche erforscht, oder ein Institut für Geologie, das nur Erdbeben und Vulkanausbrüche studiert. Kein Mensch würde so etwas ernst nehmen.

In Deutschland hat man aber eben diesen Grundfehler begangen. Die Konsequenzen waren von vornherein absehbar und sind dann schließlich auch eingetreten: Neben der Sexualmedizin haben sich weitere Unterabteilungen der Sexualwissenschaft etabliert, wie etwa die Geschlechterstudien (gender studies) und die Homostudies, wie man sie in den Niederlanden einmal genannt hat. Auch isolierte Ansätze einer Sexualsoziologie hatten sich, durch die Arbeit der Soziologen Helmut Schelsky (Hamburg), Rüdiger Lautmann (Bremen) und Gunter Runkel (Lüneburg) schon wieder entwickelt, aber eben keine Fortsetzung an einem sexualwissenschaftlichen Institut gefunden. Die heute populären Teilwissenschaften einer früheren interdisziplinären Gesamtunternehmung machen nun aber dem jetzt noch verbliebenen Rest der deutschen Sexualwissenschaft mehr und mehr Terrain streitig und finden dabei auch in den Verwaltungen und bei Geldgebern Unterstützung. Aber auch das wird vorübergehen. Als unverbundene Fragmente sind sie auf Dauer nicht lebensfähig. Sie sind, wie wir früher beim Theater sagten, nicht abendfüllend.

Vor 1933 waren in Deutschland die sexologischen Teilgebiete durch Magnus Hirschfeld, aber auch von seinem Rivalen Albert Moll, unter den Oberbegriffen Sexualwissenschaft oder Sexualforschung zusammengefasst und als einheitliches Zentralthema behandelt worden. In ihren Zeitschriften, Fachgesellschaften und auf ihren Kongressen fand man daher Beiträger aus den verschiedensten Forschungsbereichen. Obwohl beide Mediziner waren, interessierten sie sich nicht nur für naturwissenschaftliche Fragen, sondern auch für die Sexualwissenschaft als Kulturwissenschaft, und dies kam dementsprechend auch in ihren eigenen Standardwerken zum Ausdruck. Selbst Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933), das verschiedene medizinische Dienste anbot, befasste sich gleichzeitig mit juristischen, soziologischen, historischen, ethnologischen und künstlerischen Fragen. Vor allem aber war es, durch die Mitgründung einer Weltliga für Sexualreform (WSR) und Hirschfelds Weltreise damals schon global orientiert. Der Wille zu einer solchen umfassenden Sicht ist bei meinen deutschen Kollegen heute leider nicht mehr vorhanden.

Wir haben es hier eben mit überwältigenden akademischen Moden zu tun, die von Zeit zu Zeit wie unaufhaltsame Flutwellen über die Schutzmauern unserer Universitäten schwappen. Die Wissenschaftsgeschichte kennt viele solcher Wellen, und ich selbst habe seit meiner Studentenzeit einige davon kommen und gehen sehen. Nach einer Weile versickern sie folgenlos oder machen anderen Moden Platz. Die Suche nach Wahrheit ist eben immer von kulturellen, d.h. sozialen, ökonomischen und politischen Umständen abhängig und wird von diesen auch im Ergebnis beeinflusst. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass auch die sexologischen Impulse der späten sechziger und siebziger Jahre in den USA, von denen ich selbst profitierte, auf einer ähnlichen modischen Flutwelle schwammen. Inzwischen sind auch dort mehrere der besten sexologische Universitätsabteilungen geschlossen worden – von New York bis Honolulu.

Das sind nun alles Erinnerungen an eine vergangene, allzu kurze Epoche. Die Welle, die uns Sexologen in den USA und in Europa nach oben trug, ist inzwischen verebbt. Wir sollten aber erkennen, dass große Teile der Welt bis heute noch nie eine solche Welle erlebt haben und immer noch darauf warten. Was wirkliche sexuelle Aufklärung angeht, so befinden sich selbst viele erfolgreich aufstrebende Länder bestenfalls noch im gleichen Stadium wie der industrielle Westen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Die allermeisten aber liegen noch viel weiter zurück. Für sie alle gibt es also einen Nachholbedarf, den wir westliche Sexologen befriedigen können und müssen. Dafür gibt es ja inzwischen eine weltweite elektronische Revolution. Das Internet erreicht nun, über alle Ländergrenzen hinweg, immer neue, wissbegierige Generationen. Wenn wir selbst auch nicht alle Ziele erreicht haben, so können wir doch wenigstens dasjenige mit ihnen teilen, was wir auf dem Wege zu unserem Scheitern lernen konnten. Mag eine einheitliche Sexualwissenschaft zurzeit für uns auch nicht möglich sein, so besitzen wir doch sehr viele Teilerkenntnisse, die weltweit gebraucht werden, und das sollten wir als unsere Verpflichtung begreifen. Ich selbst versuche jedenfalls, dieser Verpflichtung mit meinem vielsprachigen elektronischen Archive for Sexology nachzukommen.

Ich bedaure sehr, dass ich in diesem Punkt hier in Deutschland keine Nachahmer habe. Bei genauerem Nachdenken überrascht es mich aber auch nicht. Es ist ja nicht so, dass bei der Wiederbelebung der deutschen Sexualwissenschaft nur leider etwas schiefgelaufen wäre. Vielmehr gibt es tiefer liegende Gründe für ihre jetzt abnehmende Bedeutung und ihr selbstprogrammiertes schließliches Ende. Die Nazis haben eben gerade in diesem Punkt ganze Arbeit geleistet.

Nach Kriegsende wäre es vor allem an der Humboldt-Universität (vormals Friedrich-Wilhelms-Universität) gewesen, ihrer juristischen und moralischen Verpflichtung nachzukommen und eine Neugründung von Hirschfelds Institut zu unternehmen. (Es gab einen entsprechenden, bis dahin nicht eingehaltenen Vertrag aus der Vor-Nazizeit.) Aber das unterblieb, bis alle juristischen Fristen abgelaufen und keine Forderungen mehr einklagbar waren. Die ehemalige DDR war eben im Grunde doch ein spießbürgerlich sittenstrenger Obrigkeitsstaat, trotz seiner Nacktbadestrände, einer gewissen selektiven Toleranz und weitgehender Gleichberechtigung der Geschlechter. Jedenfalls herrschte dort in sexuellen Dingen durchgängig eine offiziell erwünschte Konformität. Das hätte sich keinesfalls mit Hirschfelds eigentlichem Anliegen vertragen. Gerade die sexuellen Zwischenstufen, hatten ihm immer besonders am Herzen gelegen. Aber dem Kommunismus sind die Intersexuellen, Transsexuellen, Transvestiten, Bisexuellen, Homosexuellen und alle anderen sexuellen Nonkonformisten noch nie und nirgends geheuer gewesen. Sie als Minderheiten öffentlich sichtbar zu machen und für ihre Anerkennung zu werben, das war eben damals noch weniger durchsetzbar als zu Hirschfelds eigener Zeit. Das galt übrigens auch für die frühe westdeutsche Bundesrepublik, deren Prüderie bis heute bekannt und berüchtigt ist. Das gesamte, uns mittlerweile vertraut gewordene, sehr bunte Spektrum der menschlichen Sexualität wollte man auf keinen Fall wahrnehmen – eine Form kollektiver Realitätsverweigerung, die auch viele andere Lebensbereiche erfasste, vor allem natürlich die eigene, schändliche Vergangenheit. Und das traf für das ganze Nachkriegsdeutschland zu, Ost wie West. Im Osten log man sich eine antifaschistische Opferrolle zurecht, und im Westen machten alte Nazi-Seilschaften in Bürokratie und Justiz einfach weiter, so als wären sie immer echte Demokraten gewesen. In beiden Fällen kompensierte man auch sein eigenes Versagen, indem man sich umso demonstrativer mit den siegreichen Besatzern identifizierte. Dennoch blieb in der DDR, trotz aller propagierten deutsch-sowjetischen Freundschaft, eine gewisse unterschwellige Antipathie gegen Russland bestehen, und in der BRD hielt sich, unter einer freundlich-beflissenen Oberfläche, ein hartnäckiger Anti-Amerikanismus, der auch gelegentlich sichtbar aufflackerte.

Ein größerer gesellschaftlicher Wandel trat in der Bundesrepublik erst im Zuge einer Jugendrevolte ein, die sich heute im öffentlichen Gedächtnis mit dem Jahr 1968 verbindet. Die 68er, wie man sie bald nannte, waren im Grunde Teil einer weltweiten Bewegung, die von San Francisco, Chicago und New York, über Tokio, Rom und Paris bis nach Frankfurt und Berlin reichte. In den USA, Deutschland und Italien führte dies schließlich zur Bildung politisch fanatischer, terroristischer Gruppen, welche die gesamte, ihnen verhasste herrschende Klasse, beseitigen wollten (Weather Underground, RAF, Brigate Rosse), aber diese Exzesse waren nicht typisch. Typisch war vielmehr der Drang nach mehr Freiheit, auch auf sexuellem Gebiet. Dies hatte sich besonders deutlich schon 1967 beim Sommer of Love in San Francisco gezeigt, wo die gewaltlosen, blumenbekränzten Hippies für sich selbst ein kleines Utopia errichtet und so eine kulturelle Revolution ausgelöst hatten. Was ihr Sexualleben anging, so handelten nach den Grundsätzen Do your own thing und If it feels good, do it. All das hatte ich ja an Ort und Stelle selber miterlebt.

Auf die wichtigen allgemeingesellschaftlichen Aspekte dieser internationalen Bewegung gehe ich hier nicht ein. Sie sind woanders und von anderen ausgiebig diskutiert worden. Ich möchte mir aber an dieser Stelle einige Bemerkungen zum damaligen Fehlstart der deutschen Sexualwissenschaft erlauben:

Wie schon erwähnt, gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit weder in der DDR, noch in der BRD ein Interesse am Wiederaufbau der einstmals in Deutschland entstandenen Sexualwissenschaft. Deshalb sticht hier umso deutlicher eine große Ausnahme hervor: Der homosexuelle, philosophisch gebildete Mediziner Hans Giese (1920-1970) gründete 1949 in Hessen privat ein Institut für Sexualforschung. Sein wichtigstes Motiv dabei war, den weltweiten sexualreformerischen Impulsen Hirschfelds neues Leben einzuhauchen. Für Giese selbst ging es natürlich vor allem um die Abschaffung des unseligen §175, der damals in beiden Teilen Deutschlands sexuelle Handlungen zwischen Männern immer noch unter Strafe stellte. Seiner Initiative und ihm selbst schlugen aber so heftige Widerstände entgegen, dass er sich schließlich unter die Fittiche des Hamburger Psychiaters und Universitätsprofessors Hans Bürger-Prinz (1897-1976) flüchten musste, der ihn beschützte und zu einem gewissen Grade auch förderte. Allerdings hatte dieser Förderer eine anrüchige braune Vergangenheit, und so war diese Konstellation für eine wirkliche Wiederbelebung von Hirschfeld Erbe nicht eben hilfreich. Wie immer es aber auch gewesen sein mag, Gieses Institut für Sexualforschung wurde von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf übernommen.

Damit war man dann aber leider in der universitären Medizin gelandet, die grundsätzlich kein Interesse daran hat und haben darf, sich mit Sexualverhalten zu befassen, das nicht krank oder kriminell ist. Die ausgelebte Homosexualität als gesundes Verhalten war also eigentlich in Hamburg institutionell von der Forschung ausgeschlossen, es sei denn, man fand doch irgendwie etwas Krankes oder Kriminelles an ihr. Gerade danach zu suchen, widersprach aber Gieses Überzeugung. Schon unter diesem inneren Widerspruch einer sich selbst kastrierenden Sexualforschung muss Giese gelitten haben, aber zu dieser Zeit gab es noch eine weitere, für seine Absichten negative Entwicklung:

Anders als die 67er Hippies in den USA, begnügte man sich Deutschland nicht mit der bloßen subversiven Lebensweise, sondern suchte nach einem ausformulierten sexualpolitischen Programm. Dies fand man bald in den Schriften des österreichischen, in den USA verstorbenen Freudo-Marxisten Wilhelm Reich und in denen der Frankfurter Schule von T. W. Adorno, Max Horkheimer und ihrem kalifornischen Gast Herbert Marcuse, die sich ebenfalls psychoanalytischer Begriffe bedienten. (58) Ein damals populäres Buch fasste das dort Gelesene dann zusammen unter dem Titel Sexualität und Klassenkampf: Zur Abwehr repressiver Entsublimierung. (59)

Mit dieser Programmatik hatte man sich aber in eine nicht gleich erkannte Falle hineinmanövriert. Die amerikanischen Hippies hatten durch ihre demonstrative Absage an die Leistungsgesellschaft und deren Konsumwelt einen praktischen Gegenentwurf zum Bestehenden geschaffen. Sie verzichteten deshalb wohlweislich auf ein politisches Programm, das doch nur wieder in eine vergebliche Konkurrenz zu anderen Programmen treten und so letztlich systemerhaltend wirken würde. Ihr Politikverständnis war also radikaler und konsequenter als das der ideologiebedürftigen deutschen Rebellen.

Die deutschen 68er folgten der von ihnen nur halb verstanden Parole: Das Private ist politisch. Sie sahen daher auch ihr eigenes Sexualverhalten als außengeleitet und fremdbestimmt von externen politischen Kräften, die es zu bekämpfen und zu besiegen galt. Wie man damals mit einem Adorno-Zitat gern sagte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, d.h. auch unser Sexualleben kann nicht gesund sein, solange wir alle noch im jetzigen kranken Gesellschaftssystem gefangen sind. Deshalb gründete man bald Wohngemeinschaften (WGs) oder Kommunen mit freier Liebe. Ein oft zitierter Spruch aus jener Zeit hieß: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment. (Die offensichtliche Ironie dieses Satzes verschleierte seine patriarchalische Grundhaltung.) Man organisierte aber auch antiautoritäre Kinderläden, ein sozialistisches Patientenkollektiv und ähnliche Unternehmungen, die das Establishment nicht nur provozieren, sondern auch überwinden sollten. Aber manche dieser Initiativen waren schwer ideologielastig und führten in einigen Fällen zu gefährlichen Exzessen, für die man Jahrzehnte später, peinlich berührt, nach Entschuldigungen suchen musste. So stand die neue, vermeintliche Selbstbestimmung der wahren individueller Freiheit oft entgegen. In Deutschland fehlte eben die Lockerheit und Zwanglosigkeit der Hippies, die gar nicht provozieren, sondern nur einfach ihr eigenes Ding machen wollten. Vor allem blieb den 68ern zunächst verborgen, dass der von ihnen gefeierte Wilhelm Reich einen problematischen, ja selbstzerstörerischen Charakter gehabt hatte. Sie erkannten auch seine negative Einstellung zur Homosexualität nicht, die letztlich auf die Psychoanalyse zurückging. Möglicherweise war sie ihnen aber auch gleichgültig, denn die Psychoanalyse (nicht die Sexualwissenschaft!) war gerade dabei, in Deutschland populär zu werden, und auf diesen startenden Zug sprang man nur allzu gerne auf. In Frankfurt war es nicht nur der als Autor weithin bekannte Alexander Mitscherlich, sondern vor allem auch die schon erwähnte Frankfurter Schule, die mit ihrer kritischen Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ihr junges Publikum anzog. Einen besonders großen Einfluss gewann dabei Theodor W. Adorno trotz seiner gewollt distanzierten, teilweise preziösen Sprache. Diese signalisierte nicht nur höhere Bildung, sondern suggerierte dabei auch noch eine elitäre, kühle Autorität tieferer Einsicht, die anscheinend alle Banalitäten des Lebens richtig eingeordnet und deren Bedeutungszusammenhang endgültig geistig durchdrungen hatte. Dazu kam noch ein gewisser resignativer, kulturpessimistischer Unterton, der allen Äußerungen Adornos eigen war und auf viele seiner Leser sehr anziehend wirkte. Was jedoch den Inhalt seiner elegant formulierten Botschaft betraf, so stand er der Neugründung eines pragmatischen, reformorientierten Instituts für Sexualwissenschaft deutlich entgegen.

Entweder durchschaute man dies nicht oder akzeptierte es sogar sehenden Auges aus ideologischen Gründen. Jedenfalls sprach man in Frankfurt auch als Sexualwissenschaftler weiterhin von sexuellen Perversionen, von Trieb und Partialtrieben ganz wie noch zu Zeiten des Kaisers und der frühen Weimarer Republik, als die Psychoanalyse in weiteren Kreisen intellektuell in Mode kam. Ebenfalls in Frankfurt ansässig, gab Alexander Mitscherlich noch 1971 den homophoben Schwachsinn des Schwulenheilers Charles Socarides als ernsthaften Diskussionsbeitrag in deutscher Sprache heraus, eben weil dieser, wie Mitscherlich selbst, Psychoanalytiker war. (60) Sogar der Neu-Österreicher und freischaffende Ernest Borneman, auf den manche seiner deutschen Kollegen trotz seiner vielen seriösen Publikationen verächtlich herabblickten, setzte unverdrossen weiter auf die Psychoanalyse und sah in ihr immer noch ein Instrument sozialpolitischer Erkenntnis und Befreiung – eine lllusion, von der sich vor ihm schon andere hatten täuschen lassen. Am Ende war es jedoch die Fixierung auf Reichs überholte, eigentlich recht platte Kombination von Psychoanalyse und Marxismus, die jedes mögliche neue Institut im Sinne Hirschfelds verhinderte. Reich schien aber damals für viele der rettende Denker zu sein, denn mit seinem selbstverschuldeten, tragischen Scheitern hatte man sich noch nicht ausreichend beschäftigt.

So setzte man sozusagen auf das falsche Pferd und auf eine nur verengt wahrgenommene Vergangenheit, anstatt die neue, empirische Sexualforschung von Alfred Kinsey zur Kenntnis zu nehmen. Der hatte übrigens an seiner eigenen Universität schon 1947 ein Institute for Sex Research gegründet. Dieses hätte man sich zum Vorbild nehmen sollen, ja müssen. Nur so wäre man der luftabschnürenden Umklammerung durch medizinische Fakultäten entkommen. Kinsey war das gelungen. Solange er lebte, hielt immer bewusst Abstand von der Medizin, und sein Nachfolger und früherer Mitarbeiter Paul Gebhard hielt es genauso.

Kinseys bahnbrechende Studien hatten, anders als in den USA, in Deutschland keine durchschlagende Wirkung. Das lag zum Teil auch daran, dass ihre deutschen Übersetzungen fehlerhaft waren. Andererseits passten sie aber auch nicht zum damaligen Zeitgeist der selektiv restaurativen Bundesrepublik. Inzwischen hatten ja Kinsey und andere amerikanische Forscher wie Benjamin und Masters & Johnson die Psychoanalyse längst als irrelevant beiseitegelassen und sich ganz auf empirische Methoden konzentriert. Deren subversives Potenzial und mögliche soziale Sprengkraft erkannten die deutschen Sexologen nicht, und ein gewisser linker Anti-Amerikanismus spielte sicherlich auch eine Rolle.

Natürlich darf man auch die Wirkung einer betont empirischen Sexualwissenschaft nicht überschätzen. Wie groß ihr systemverändernder Einfluss am Ende ist, hängt von vielen kulturellen Faktoren ab, auf welche die Forscher selbst keinen Einfluss haben. Entscheidend ist oft der richtige Zeitpunkt. Immerhin zeigt das Beispiel der USA, wie die Arbeiten von Kinsey und Masters & Johnson für viele religiös und sozial Konservative zum Skandal wurden und so eine große öffentliche Debatte auslösten. Diese wiederum wurde von den Progressiven unterschiedlicher Lager dafür genutzt, ihre eigenen Positionen zu verdeutlichen und zu stärken. Die Sexualforschung selbst geriet dabei bald in den Hintergrund. Indirekt aber hatte sie durch ihre viel diskutierten Entdeckungen doch zu einem neuen, offeneren politischen Klima beigetragen. Dies erlaubte dann eine gegenseitige Wechselwirkung zwischen allen Befreiungsaktivisten, und so entstand ein landesweiter gemischter Chor des Protestes.

Die Sexologie lieferte dazu nur eine Klangfarbe unter vielen. Immerhin konnte sie sich damals - wenigstens für eine gewisse Zeit - an einer ganzen Reihe von amerikanischen Universitäten etablieren. So wurde sie, weithin bemerkbar, Teil einer landesweiten großen Auflehnung gegen überlebte Verhältnisse. Der Psychoanalyse dagegen gelang es nie, Teil einer Massenbewegung zu werden. Sie bot eine geistreiche alte Theorie, aber eben keine neuen unbequemen Tatsachen, die man nicht wegleugnen konnte. So blieb sie auf bestimmte charismatische Persönlichkeiten, deren Anhänger und verschiedene sektenartige Gruppen beschränkt. Das Schicksal Wilhelm Reichs mit seiner Sexpol liefert dafür lehrreiches Anschauungsmaterial.

Im Rückblick erscheint mir allerdings das Eine seltsam und bemerkenswert: Wenn ich für meine Arbeit in Deutschland überhaupt Unterstützung erhielt, so kam sie ausgerechnet von der Sexualmedizin. So lud mich die Gesellschaft für praktische Sexualmedizin in den achtziger Jahren immer wieder als Gastreferenten aus den USA für ihre Jahrestagungen in Heidelberg ein, und meine Einladungen zu Gastprofessuren in Deutschland und der Schweiz kamen aus den jeweiligen medizinischen Fakultäten. In Berlin sorgte der Sexualmediziner Klaus Beier dafür, dass mir der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftungspreis verliehen wurde. Einige meiner Aufsätze wurden auch in deutschen, italienischen und französischen sexualmedizinischen Zeitschriften publiziert. Außerdem hatte die Deutsche Zentralbibliothek für Medizin in Köln mein Archiv einmal das weltweit wohl beste sexualmedizinische Internetangebot genannt. Ich erkläre mir diese relative Aufmerksamkeit damit, dass ich bei der Verfolgung meines Hauptanliegens noch manches andere produzierte, das auch für Mediziner von Interesse war. Aber dieses Interesse blieb am Ende doch sehr auf das Medizinische beschränkt. Im Grunde konnte oder wollte man die eingefahrenen Gleise nicht verlassen.

2. Verpasster Paradigmenwechsel

Das größte Versagen liegt darin, dass man den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiierten Paradigmenwechsel ignorierte, der in den frühen 70er Jahren statt der sexuellen Krankheit die sexuelle Gesundheit zum Zentralthema machte. Zu dieser Zeit schrieb ich noch an meinem Lehrbuch, hatte dabei aber schon Herb Vandervoort kennengelernt, den wichtigsten Pionier der Sexologie in San Francisco, und Ted McIlvenna, den späteren Präsidenten unseres Instituts. Als ich dann dort Fakultätsmitglied wurde, machte man mich sofort auf die für unser Fach so wichtige Wende der WHO aufmerksam und auf ihr entsprechendes Dokument, das zwei Jahre vorher publiziert worden war: Education and Treatment in Human Sexuality – The Training of Health Professionals (1975).

Dieser Technical Report Nr. 572 basierte auf einer Tagung in Genf im Februar 1974 und bot zwei fundamentale Neuerungen:

  • Eine erste Definition sexueller Gesundheit:

    Sexual health is the integration of the somatic, emotional, intellectual, and social aspects of sexual being, in ways that are positively enriching and that enhance personality, communication, and love. Fundamental to this concept are the right to sexual information and the right to pleasure.

    DeutschSexuelle Gesundheit ist die Integration der somatischen, emotionalen, intellektuellen und sozialen Aspekte des sexuellen Seins auf eine Weise, die positiv bereichernd ist und förderlich für die Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe. Grundlegend für dieses Konzept sind das Recht auf sexuelle Information und das Recht auf Lust.


  • Die Forderung, die menschliche Sexualität zum Thema eines eigenen Studien- und Ausbildungsfach zu machen:

    In the long run, it was felt that, depending on local conditions, human sexuality should be encouraged to develop as an autonomous discipline in the education and training of health professionals.

    Deutsch: Auf lange Sicht scheint uns, dass, je nach den lokalen Gegebenheiten, die menschliche Sexualität sich zum eigenständigen Fach für die Ausbildung in den Gesundheitsberufen entwickeln sollte.

So fand sich der bisherige erste Versuch der Universität von Hawai’i im Nachhinein gerechtfertigt und natürlich auch mein Entschluss, ein entsprechendes Lehrbuch zu schreiben. Auch unser Institute for Advanced Study of Human Sexuality arbeitete ja auf der Basis der WHO-Empfehlungen. Durch meine dortige Arbeit lernte ich denn bald auch die wichtigsten Unterzeichner des WHO-Reports persönlich kennen: Coenraad von Emde Boas, Preben Hertoft, John Bancroft, Herbert Vandervoort, Romano Forleo, Jan Raboch, Willy Pasini, Georges Abraham, John Money, Paul Gebhard, Mary Calderone und Harold Lief. Mir fiel allerdings auf, dass das Dokument keine deutsche Unterschrift trug.

Das entscheidend Neue war ja dies: Indem die WHO ihren Focus von der sexuellen Krankheit zur sexuellen Gesundheit verschob, eröffnete sie der Sexualmedizin für Lehre und Studium neue, zusätzliche Forschungsgebiete und Betätigungsfelder. Diese Öffnung zu ignorieren, war ein fundamentaler Fehler. Krankheit ist eben vornehmlich ein medizinisches Problem, die Gesundheit dagegen ist, wie schon Rudolf Virchow als Politiker wusste, ein vielschichtiges gesellschaftliches, ja ein politisches Problem. Deshalb lohnt es sich auch, die stets unverhältnismäßige Verbindung von Sexualwissenschaft und Sexualpolitik bei jedem Anlass neu zu untersuchen. Eines steht jedenfalls fest: Wer sexuelle Gesundheit will, muss allgemeine Aufklärungs- und Präventionsarbeit leisten.

Leider werden selbst heute nur wenige deutsche Programme dem Geist des WHO-Paradigmenwechsels gerecht. Das Beste davon wurde erst 2005 von dem schon mehrfach erwähnten Sexualmediziner Prof. Beier an seinem Institut an der Berliner Charité ins Leben gerufen. Unter dem Namen Dunkelfeld bietet es Pädophilen eine vertrauliche Beratung bzw. Therapie an, die ihnen helfen soll, ihre sexuellen Neigungen zu kontrollieren und nicht straffällig zu werden. So werden beide - potentielle Täter und Kinder - geschützt. Dies Programm hat inzwischen mit entsprechenden Einrichtungen in anderen Städten ein Netzwerk gebildet und so seine Vorbeugungsarbeit bundesweit ausgedehnt. Es hat mit Recht internationale Anerkennung und, dank persönlicher Unterstützung durch seinen Initiator, auch Nachahmung gefunden, selbst im weit entfernten Indien. Allerdings beweist aber dieses Netzwerk, eben durch seine bloße Existenz, dass sein Präventionsprogramm auch ohne ein universitäres Institut für Sexualmedizin durchgeführt werden kann. Es liefert also für ein solches Institut keine Bestandsgarantie. Das gilt selbst für den Fall, dass es sich international weiter ausdehnen sollte. Wie schon erwähnt, wurde es denn auch an der Universität Kiel kurzerhand von der Psychiatrie übernommen, und zwar mitsamt allen anderen Tätigkeiten der dort seit 40 Jahren etablierten, eigenständigen Sexualmedizin. Daraufhin nahm deren Leiter unter Protest seinen Abschied. Ansonsten aber hat sich die deutsche Sexualmedizin wenig um die Prävention gekümmert. So war man denn auch in den achtziger Jahren in keiner Weise auf die AIDS-Krise vorbereitet und hatte nichts Hilfreiches anzubieten.

Die Konzentration auf eine kurative Sexualmedizin war auch insofern kurzsichtig, als sie sich ja mittlerweile in einem wachsenden Umfeld von nichtmedizinischen Sexualtherapien behaupten muss. Eine besondere Zusatzqualifikation Facharzt für Sexualmedizin hilft da auch nicht weiter. Erstens ist ja auch jeder andere Arzt kraft seines medizinischen Doktortitels befugt, auch ohne Spezialstudium sexualmedizinische Behandlungen durchzuführen. Zweitens aber stehen in diesem Punkt heute alle Mediziner in Konkurrenz zu vielen Therapeut(inn)en, die ohne jede medizinische Ausbildung sexuelle Probleme behandeln und dabei oft sehr erfolgreich sind. In der Tat, diese Konkurrenz hat nun einen globalen Charakter. So therapiert zum Beispiel einer meiner früheren Studenten, ein Nicht-Mediziner, von seiner Praxis in San Francisco aus per Skype einen Klienten in Deutschland. Und auch das ist längst kein Präzedenzfall mehr, sondern liegt in einem sich ständig verstärkenden Trend. Das Internet macht eben Formen der Kommunikation möglich, die vorher undenkbar waren. Landesgrenzen zählen nicht mehr, nur noch Sprachbarrieren.

Die Rezeption der neuen amerikanischen Forschung dauerte in Frankfurt zunächst noch eine ganze Weile. (61) Merkwürdig war auch noch etwas anderes: Die dortige Sexualwissenschaft behauptete von sich, kritisch zu sein und meldete diesen Anspruch in ihren Publikationen immer wieder aggressiv und mit sprachlichem Herrschaftsgestus an. In der Praxis aber erwies sie sich als konventionell, rückwärtsgewandt und teilweise sogar als reaktionär, wie im Falle der AIDS-Krise (siehe auch weitere Versäumnisse unten). Im internationalen Vergleich hinkte die deutsche Sexualwissenschaft vielen ausländischen Initiativen hinterher. Und wenn es um Grundsätzliches ging, war sie weder konsequent noch mutig. Im Gegenteil: Ob nun aus Bequemlichkeit oder aus Ängstlichkeit, man mied die großen englischsprachigen Kongresse und deren Fremdeinflüsse. Und: Man einigte sich stillschweigend auf einen Index der erlaubten Bücher, die man las und zitierte. Der geistige Horizont blieb eng, und so schottete man sich auch gegen mögliche interne Störenfriede ab. Ein deutscher Thomas Szasz, der als Insider die stagnierende Szene aufgemischt hätte, ist hier niemals erschienen. So fiel es in Deutschland auch keinem Sexologen ein, den überkommenen psychiatrischen Begriffsapparat in Frage zu stellen. Dafür hatten die Revisionen des auch in Europa einflussreichen amerikanischen psychiatrischen Handbuchs Diagnostic and Statistical Manual (DSM) mehrfach Gelegenheit geboten, aber man nutzte sie nicht. Da waren amerikanische Kollegen sehr viel kritischer (62). Aber sogar an ihnen hätte man noch eine grundsätzliche Kritik üben können. Die blieb jedoch einfach aus. Selbst ein so eindeutig vorwissenschaftlicher Begriff wie Paraphilie wurde in Deutschland völlig kritiklos übernommen und ist hier bis heute noch im Gebrauch.

Die unselige Kombination von Medizin und Psychoanalyse hat die deutsche Sexualwissenschaft über die Jahre immer tiefer in die internationale Isolation geführt. Mittlerweile hat sie auch selbst keine weltweiten Ambitionen mehr. Stattdessen hat sie sich in ihrer provinziellen deutschen Ecke bequem eingerichtet. Die zunehmende Globalisierung der sexuellen Gesundheitsvorsorge blieb ihr gleichgültig.

Die WHO selbst fasste später einige Aspekte ihres Paradigmenwechsels zusammen, und zwar in einem weiteren Report Developing sexual health programmes, A framework for action (2010). Darin heißt es u.a (in meiner Übersetzung):

  • Von vertikalen hin zu horizontalen Programmen.
  • Von der Förderung individueller sexueller Verhaltensänderung hin zur Beeinflussung von Netzwerken und sozialen Kontexten.
  • Von der Betrachtung der Geschlechtsrollendynamik hin zum Verständnis der Rolle, die Macht in sexuellen Beziehungen spielt.
  • Von der Betonung sexueller Bedürfnisse hin zur Betonung sexueller Rechte.
  • Vom Focus auf sexuelle Krankheit hin zum Focus auf Wohlbefinden und Lusterfahrung.

Der Begriff sexuelle Gesundheit ist natürlich, ebenso wie der von sexueller Krankheit, nicht unproblematisch und wurde auch von mir wiederholt kritisiert. In einem meiner Online-Kurse ging ich dann historisch genauer ins Detail. (63) Die WHO selbst modifizierte und präzisierte ihn mehrfach in den folgenden Jahren. Auch der US Surgeon General (2001) lieferte eine eigene Definition. Vor allem aber wurde er von anderen Organisationen um den Begriff der sexuellen Rechte erweitert, so von der American Humanist Association (1976), der International Planned Parenthood Federation (1996) und der World Association for Sexual Health (1999). Entscheidend war am Ende, dass hier die traditionelle Enge der Sexualmedizin aufgebrochen und um sozialwissenschaftliche Sichtweisen erweitert wurde.

Der WHO-Report von 2010 enthält noch viele andere bedenkenswerte Überlegungen, aber das Eine ist sofort überdeutlich: Der Sexualerziehung kommt nun eine entscheidende Rolle zu. Und das gilt auch für die Sexualerziehung auf Universitätsniveau. Deshalb ja auch schon 1974 die Forderung nach einem eigenen Studienfach menschliche Sexualität.

3. Kein eigener Studiengang

Diese Forderung wurde in Deutschland völlig ignoriert. Mein Kollege Wardell Pomeroy und ich schrieben deshalb an einen der damals bekanntesten deutschen Sexualwissenschaftler und luden ihn im Sinne der WHO zur Zusammenarbeit ein. Wir bekamen aber einen überheblichen Brief zurück, der uns Ignoranten darüber belehrte, dass die Sexualwissenschaft als interdisziplinäre Unternehmung niemals ein eigenes Studienfach sein könne. Damit endete die Zusammenarbeit, bevor sie begonnen hatte und - ohne dass der Briefschreiber es bemerkte - damit erledigte sich natürlich auch die deutsche Sexualwissenschaft selbst. Wie sich nämlich am Ende herausstellte, hatte sie ohne ein festes Ausbildungsprogramm mit einem eigenen akademischen Abschluss in der Universität keine Zukunft.

Der Brief, der wohl typisch für das Denken der deutschen Kollegen war, zeigte aber auch ein mangelhaftes Verständnis der Wissenschaftsentwicklung ganz allgemein. Schließlich sind auch Wissenschaften wie etwa die Archäologie und die Kriminologie interdisziplinär und können trotzdem ihre eigenen Fachvertreter hervorbringen. Entscheidend ist eben, dass man entsprechende Studienangebote bereit stellt, die auch eine praktische Anwendung möglich machen. Heute kann man in vielen Ländern für eigene sexologische Studiengänge den Magister- oder Doktorgrad erwerben, so etwa in Australien, Belgien, China, Guatemala, Kanada, Kuba, Mexico, Portugal, Spanien, Südafrika, Taiwan, den USA und Venezuela. (64

Dort bietet man die Programme wohlweislich innerhalb bewusst breit angelegter,  gesundheitsbetonter Abteilungen an, wie etwa einer Academy for Sexology, einem Family Institute, einem Center for Human Sexuality Studies, einer Graduate School of Human Sexuality oder in einer besonderen Faculty of Health Sciences. Die deutsche universitäre Sexualwissenschaft hat nie etwas Vergleichbares entwickelt und das entsprechende Studium einer Fachhochschule in Merseburg überlassen, die nun endlich, um Jahrzehnte verspätet, einen Magistergrad in Sexualpädagogik und Familienplanung anbietet. (65)

4. Kein Lehrbuch

Da die deutsche Sexualwissenschaft von dem internationalen Paradigmenwechsel keine Notiz nahm und sogar einen eigenen Studiengang Sexualität ablehnte, kam sie auch nicht auf den Gedanken, ein entsprechendes Lehrbuch zu verfassen. Zwar erschienen im Laufe der Jahre sehr gute deutsche Lehrbücher der Sexualmedizin (66), aber den von der WHO geforderten breiteren Ansatz bot nur die Übersetzung meines eigenen Buches Die Sexualität des Menschen. Damit konnten auch Nichtmediziner wie Sozialarbeiter, Lehrer oder Polizeibeamte wenigstens ein allgemeines sexuelles Grundwissen erwerben. Da es aber in einigen Teilen allmählich veraltete, schrieb ich es in eine Serie von Open Access Online-Kursen um. Das Buch selbst aber biete ich nun als historisches Dokument in insgesamt 4 Sprachen weiterhin für die Leser kostenfrei im Internet an. In seinen eher theoretischen und historischen Abschnitten ist es ja vielen Lesern weiterhin nützlich.

Mein Lehrbuch in späteren Ausgaben

Es blieb viele Jahre im Handel, sowohl in der amerikanischen wie den deutschen und türkischen Ausgaben. Selbst heute wird es noch, teilweise antiquarisch, im Internet verkauft.
Die türkische Ausgabe kann dort noch ganz regulär bestellt werden.

Mein Lehrbuch 40 Jahre nach der Erstpublikation.

5. Ignorierte Sexualerziehung

Anfang der 1970er Jahre wurde Sexualkunde in den meisten Schulen der Bundesrepublik Deutschland in den Lehrplan aufgenommen. Das wäre nun eine Gelegenheit für die deutschen Sexualwissenschaftler gewesen, sich mit den Pädagogen zu verbünden und gemeinsam entsprechende Lehrpläne zu erarbeiten. Gleichzeitig hätte man dann gemeinsam die Lehrerausbildung gestalten und durchführen können und so für sich selbst eine weitere Verankerung im Universitätsbetrieb erreicht. Aber nichts dergleichen geschah. Ich selbst wurde einmal von  der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtserziehung (DGG) gebeten, einen kleinen Beitrag für ihr Informationsblatt zu schreiben, und ich weiß, dass viele Erzieher mein Lehrbuch nutzten, aber da ich als Bundesbeamter keine feste Universitätsanbindung hatte, konnte ich nicht mehr tun. Bis heute gibt es keine universitäre Ausbildung für die Sexualerziehung. Stattdessen überlässt man das Thema der schon erwähnten Fachhochschule in Merseburg und irgendwelchen außeruniversitären Fortbildungsmaßnahmen, der Pro Familia und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA).

Sexualerziehung in Deutschland

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) gab 1969 zum ersten Mal dieses schmale Buch heraus, das sich allerdings auf die einfachsten biologischen Tatsachen beschränkte. Deutsche Sexualforscher waren nicht beteiligt. Hier die Ausgabe von 1974.

Ein Report der WHO und der Pan-American Health Organization (PAHO), verfasst unter Mitarbeit der World Association for Sexual Health (WAS), hat dafür vor Jahren sogar schon Entwürfe für entsprechende Studiengänge zur Verfügung gestellt: WHO/PAHO/WAS, Promotion of Sexual Health – Recommendations for Action (2001). Siehe auch besonders hier. In Deutschland blieben alle diese Empfehlungen von den Sexologen unbeachtet

6. Verweigerte Sexualumfrage

In den achtziger Jahren bot sich angesichts der AIDS-Epidemie die einmalige Gelegenheit, in der Bundesrepublik Deutschland die erste wissenschaftlich seriöse, umfassende Sexualumfrage durchzuführen. Das Bundesministerium für Gesundheit machte dafür mehrere Millionen D-Mark verfügbar. (Ich selbst arbeitete noch in den USA und kam für das Projekt nicht in Frage.) Natürlich wären die damals führenden deutschen Sexualwissenschaftler in Hamburg und Frankfurt durchaus befähigt gewesen, eine solche Umfrage durchzuführen. Sie lehnten es aber ab mit der Begründung, es handle sich hier um ein Ausspionieren der Gesamtbevölkerung im Staatsauftrag. Das sei weder ethisch noch politisch zu verantworten. Sie sagten also mit anderen Worten: Der Staat bezahlt uns Professoren zwar als Sexualforscher, aber wenn er dann Sexualforschung von uns verlangt, geht er entschieden zu weit. So etwas können wir mit unserem Gewissen nicht vereinbaren. Dabei wollte der Staat hier keinerlei sachfremden Einfluss nehmen. Er suchte nur nach einer wissenschaftlichen Grundlage für sinnvolle Vorbeugungsprogramme. Deshalb wollte er wissen, wie das Sexualverhalten der Bundesbevölkerung aussah. Die deutschen Sexualwissenschaftler aber wollten es nicht wissen, und so verlief das Projekt nach einigen peinlichen Drehungen und Wendungen schließlich im Sande. Also brauchte das Ministerium seine Millionen nicht auszugeben. Es war DIE große, nie wiederkehrende Chance der deutschen Sexualwissenschaft, ihren Sinn und Wert zu beweisen, und ausgerechnet diese Chance verpasste sie! Was hätte Hirschfeld darum gegeben, eine solche Umfrage machen zu dürfen! (Sein eigener Versuch wurde vom Staat verboten.) Und ich fragte mich auch unwillkürlich: Was hätte Alfred Kinsey getan? Die Antwort ist eindeutig: Er hätte das Geld ohne zu zögern dankbar angenommen, geforscht und geliefert. Tatsächlich wurden dann auch in den USA, in Großbritannien und in Frankreich entsprechende landesweite Sexualumfragen durchgeführt. (67)

Wie schwer man sich bei dem Thema tat, wurde auch erkennbar, als Martin Dannecker unter Anfeindungen und Protesten vonseiten seiner sonstigen Unterstützer wenigstens eine kleine Sexualumfrage zu homosexuellem Verhalten begann und erfolgreich zu Ende brachte. (68)

Landesweite Umfrage in den USA

Wegen der AIDS-Krise wurden in den USA, Großbritannien und Frankreich landesweite Sexualumfragen durchgeführt. Ihr Ziel war die Entwicklung von realistischen Vorbeugungsmaßnamen aufgrund aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die hier abgebildete amerikanische Umfrage erschien 1994 im Druck. Ein Mitautor war der Sexualsoziologe John H. Gagnon, ein alter Freund von mir, der 1990 an unserem Kongress im Reichstag teilgenommen hatte. Sein damaliger Beitrag wurde in unseren Sammelbänden Bisexualitäten (1994) und Bisexualities (1997) publiziert.

Tempora mutantur! Heute, im Zeitalter unserer elektronischen Totalüberwachung, sammeln nicht nur staatliche Behörden und internationale Geheimdienste, sondern - viel schlimmer - vor allem auch riesige, unkontrollierbare Privatfirmen wie Google, Facebook, verschiedene Dating Sites, Pornographieanbieter und andere unsere freiwillig gelieferten persönlichen Daten. Diese geben in ihrer Akkumulation an Intimität sehr viel mehr von uns preis, als es die damals geplante anonyme Sexualumfrage je hätte tun können. Die übermächtigen amerikanischen Firmen machen jedenfalls mit der Auswertung unserer auch einzeln zurück verfolgbaren Profile bereits jetzt Milliardengeschäfte. Angesichts dieser Situation wirken die damaligen Bedenken der deutschen Sexualwissenschaftler im Rückblick geradezu rührend naiv.

7. Versagen in der AIDS-Krise

Eine weitere Folge des verpassten WHO-Paradigmenwechsels von der Krankheit zur Gesundheit (d. h. von der Therapie zur Prävention) war das vollständige Versagen der deutschen Sexualwissenschaft angesichts der Bedrohung durch AIDS. (Siehe Anhang.) Man hatte sich eben niemals ernsthaft mit der Vorbeugung sexuell übertragbarer Krankheiten befasst und war sich daher auch nicht über ihre psychosozialen und sozialpolitischen Dimensionen im Klaren. Und so hatte man denn auch den unsachgemäßen AIDS-Bekämpfungsplänen von Peter Gauweiler und Michael Koch nichts Positives entgegen zu setzen. Im Gegenteil: Man verteufelte noch die von schwulen Ärzten in San Francisco entwickelten Empfehlungen zu Safer Sex als sexualfeindlich und repressiv. So kam es, dass deutsche Gesundheitspolitiker sich nach einer Alternative umsahen und dabei auf mich aufmerksam wurden, da ich aus San Francisco kam. Letztlich führte das dann zu meiner Rückkehr nach Deutschland.

8. Fehlende Teilnahme an internationalen Kongressen

Die deutsche Sexualwissenschaft dieser Jahre isolierte sich auch international selbst, indem ihre bekanntesten Vertreter die neuen, bald regelmäßigen Kongresse der World Association for Sexual Health (WAS) und der European Association for Sexology (EFS) demonstrativ ignorierten. Einige deutsche Sexologen besuchten wenigstens die Tagungen der International Academy of Sex Research (IASR), aber diese kleinen Eliteveranstaltungen, an denen ich als  Mitglied ebenfalls teilnahm, konnten den Erkenntnisgewinn der anderen, großen Kongresse nicht ersetzen. Diese brachten nämlich auch viele sexologische Neulinge aus aller Welt und aus allen möglichen Fachrichtungen zusammen und bereiteten so den Weg für eine wissenschaftliche Globalisierung, die nun mit dem Internet zur überwältigenden Wirklichkeit geworden ist. Besonders unverständlich war die Weigerung, am WAS-Kongress 1987 in Heidelberg und am EFS-Kongress 2000 in Berlin teilzunehmen. Auch schon den Bisexualitäten-Kongress 1990 im Berliner Reichstag hatte man bewusst gemieden. Also blieb es dabei: Für die deutsche Sexualwissenschaft bezog sich das Wort international immer nur auf die deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz. Im Grunde lehnte man also eine globale Rolle ab und blieb lieber unter sich.

9. Versäumte Nutzung des Internet

Vor etwa 20 Jahren begann, zuerst noch recht bescheiden, die weltweite Nutzung des Internet. Es hatte im Prinzip schon früher existiert, fand aber nun schnell immer neue Anwender. Mittlerweile hat sein Wachstum einen exponentiellen Charakter. Das Robert Koch-Institut (RKI), an dem ich damals arbeitete, machte seine Gesundheitsinformationen sobald wie möglich auch im Internet kostenlos für die Nutzer zugänglich. Das lag für uns in der Natur der Sache, denn als Bundesinstitut lebten wir ja von Steuergeldern. Die Bürger hatten also schon für unsere Arbeit bezahlt und damit auch das Recht erworben, deren Ergebnisse ohne weitere Kosten für sich selbst zu erfahren. Als ich dann an eben diesem RKI ein Archiv für Sexualwissenschaft aufbaute, machte ich mir dieses Prinzip quasi automatisch zu eigen. So begann der Internet-Auftritt unseres Archivs, das seine eigenen Informationen zunächst nur in deutscher und englischer Sprache anbot und bald eine wachsende Zahl von Online-Besuchern verzeichnen konnte.

Die ebenfalls von Steuergeldern unterhaltenen Universitäten sahen das zuerst überhaupt nicht und dann erheblich anders. Sie fühlten keinerlei Verpflichtung, ihre Forschungen im Netz frei zugänglich zu machen. Für viele Jahre boten sie im Internet nur eigene elektronische Visitenkarten an, und auch diese nur in deutscher Sprache. Da sah man dann z. B. ihr Wappen oder Siegel, ein Organigramm ihrer Verwaltung, eine Liste ihrer Fakultäten und deren Lehrpersonal, eine Beschreibung ihrer Bibliotheken und manchmal auch noch ein aktuelles Vorlesungsverzeichnis. Aber wissenschaftliche Inhalte boten sie nicht. Kurz gesagt, der interessierte Leser in Portugal, Peru oder Pakistan hatte von solchen Internet-Auftritten gar nichts. Und bei den meisten deutschen Universitäten ist das heute noch so.

In den USA aber dachte man sehr bald sehr viel weiter. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) begann schon vor Jahren, Materialien für seine Kurse für alle Interessenten kostenfrei in mehreren Sprachen ins Netz zu stellen. Heute bietet es unter dem Namen OpenCourseWare seine Materialien für über 2000 Kurse in 7 Sprachen an: Chinesisch (2x),Thai, Türkisch, Spanisch, Portugiesisch, Persisch (Farsi) und Koreanisch. Das Angebot verzeichnet nun monatlich 1 ½ Millionen Besucher aus aller Welt. Ermuntert von diesem Erfolg, verbündete sich das MIT darauf mit Harvard University und entwickelte ein umfangreiches Programm von frei zugänglichen Online-Kursen unter dem Namen edX. An diesem Programm sind mittlerweile viele andere Universitäten und Forschungsinstitute beteiligt, auch aus anderen Ländern wie Kanada, Australien, China, Japan, Korea, Indien, Schweden, Belgien und der Schweiz. In Deutschland nimmt bisher nur die Technische Universität München teil. Die Kurse sind, wie gesagt, alle frei zugänglich. Nur für ein Studium mit Prüfung und offizieller Anrechnung (Credits) sind entsprechende Gebühren zu zahlen. Das Gleiche gilt für eine weitere, große Sammeladresse für Online-Kurse: Coursera

Als der eigentliche Erfinder und Pionier der Massive Open Online Courses (MOOCs) fühle ich mich natürlich bestätigt und kann deshalb dem edX-Programm umso herzlicher und ehrlicher gratulieren. Dort hat man eben, wenn auch später als ich, die weitere, logische Entwicklung der akademischen Lehre erspürt. Und man hat auch die moralische Verpflichtung erkannt, dass man seine wissenschaftlichen Erkenntnisse soweit wie möglich mit anderen teilen muss und, dank Internet, nun auch teilen kann. Das gilt besonders für die Millionen hochbegabter, hochmotivierter potenzieller Student(inn)en in den Entwicklungsländern, wo Universitäten und Bibliotheken für sie aus geographischen oder finanziellen Gründen unerreichbar sind. Die dortigen jungen Leute sind unsere Hoffnung für die Zukunft. Ihren Erfolg oder Misserfolg werden wir alle spüren, auch in den USA und Europa.

Das MIT und Harvard haben gleichzeitig begriffen, dass man gerade mit frei zugänglichen Kursen sehr viel Geld verdienen kann. Auch das ist ein - oft unterschätzter - Aspekt des Internet. Ich habe in einem Interview dieses Paradox einmal so formuliert: Nur, wer sein Wissen verschenkt, wird am Ende bezahlt. Ich muss daher meine große Enttäuschung bekennen, dass es in Berlin nicht möglich war, für mein Online-Archiv eine angemessene Heimstadt zu finden. Damit hat man dort auch unnötigerweise auf eine mögliche Einkommensquelle verzichtet.

Meine innovativste Leistung ist also in meinem eigenen Land folgenlos geblieben und kann daher das absehbare Ende der deutschen Sexualwissenschaft auch nicht mehr aufhalten. Deren weltoffene, ruhmreiche Vergangenheit hat man an ihrem Geburtsort einfach nicht verstehen und ihre potentielle große globale Zukunft nicht sehen wollen. Diese Zukunft überlässt man nun ungerührt den Kollegen in China, Indien, Australien, Lateinamerika und den USA. Immerhin habe ich dort viele Leser erreicht, die mein Online-Archiv auf Dauer weiterhin nutzen werden.

Interview mit einer russischen Wirtschaftszeitung

Mein Interview mit der Zeitung эксперт (Expert) vom 2.12.2013 wurde auch in deren
Online-Version angeboten (hier die Überschrift der Titelseite). Eine englische Übersetzung findet
sich unter Publications in meinem Online-Archiv.
Zu dieser Zeit wohnte ich schon in Freiburg und wurde für das Interview nach Berlin eingeladen.
Mein Foto wurde von dem Interviewer vor meinem Hotel auf dem Kurfürstendamm aufgenommen.

Die Mehrheit der deutschen Sexologen aber hat die Möglichkeiten des Internet bisher nicht wahrgenommen. Mein eigenes mehrsprachiges, global orientiertes Internet-Angebot war ihnen nie ein Ansporn, etwas Ähnliches zu versuchen. Sie hätten ja zumindest längst, wie ich es auch getan habe, ihre eigenen Bücher und Aufsätze ins Netz stellen können, von Online-Kursen ganz zu schweigen. Allerdings wäre das größtenteils ein rein deutschsprachiges Angebot gewesen, denn in anderen Sprachen haben sie kaum etwas publiziert. Daher sind sie auf anderen Kontinenten so gut wie unbekannt, so dass die dortigen Sexologen keine Veranlassung haben, deutsche Texte für sie zu übersetzen oder ihnen Materialien für rein deutschsprachige Websites zu Verfügung zu stellen.


Schlussbemerkung

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so sehe ich nun etwas, das mich selber erstaunt:
Ich war wirklich mit Glück gesegnet, und zwar im doppelten Sinne: Ich hatte viel Glück, und ich war und bin sehr glücklich. In meiner frühen Studentenzeit war das nicht vorherzusehen. Im Gegenteil, damals waren meine Zukunftsaussichten düster, ja eigentlich hoffnungslos. Ich führte ein materiell karges und intellektuell desorientiertes Leben, dessen deprimierende Realitäten ich mithilfe eifriger Theaterarbeit verdrängte. Von einem richtigen Studium konnte dabei eigentlich keine Rede sein. Erst als ich nach 7 wenig fruchtbaren Semestern ein Stipendium bekam, gelangte ich endlich auf eine vollakademische Bahn, und erst nach weiteren Stipendienjahren, kam mir schließlich das Glück zur Hilfe, dann allerdings mehr als einmal.

1. Für mich waren es glückliche Zufälle,

  • dass mein bester Jugendfreund aus Bochum in New York Verleger geworden war,
  • dass ich dort das deutsche Jugend-Sexuallexikon entdeckte und davon eine englische Fassung herstellen konnte,
  • dass ich meinen Wohnsitz nach Honolulu verlegte ohne zu ahnen, dass ich dort die Anregung zu meinem sexologischen Lehrbuch bekommen würde,
  • dass ich auf der Suche nach einem Fotografen für dieses Buch den Filmemacher Laird Sutton kennen lernte und durch ihn an das Fortbildungsinstitut in San Francisco kam,
  • dass vor meiner Ankunft am Kinsey-Institut kein Mitarbeiter die frühe deutsche sexologische Literatur hatte lesen können, die dort vollständig vorhanden war,
  • dass ich als Gastprofessor an der Universität Genf gebeten wurde, einen Vortrag über AIDS-Vorbeugung zu halten, was für mich unerwartete, weitreichende Folgen hatte,
  • dass ein mir unbekannter Kollege in Schanghai mich mit der Einladung überraschte, an einer chinesischen Sexualumfrage mitzuarbeiten,

Aber zweimal hatte ich besonders großes Glück, und zwar
zum ersten Mal

  • als meine Neider in Heidelberg mir keine Wahl ließen, als in die USA zurückzukehren,

und zum zweiten Mal umgekehrt

  • als der Frankfurter Sexualmediziner Volkmar Sigusch ungewollt für meine Heimkehr nach Deutschland sorgte, wo man mir in Berlin eine angemessene Stellung anbot, und das auch noch rechtzeitig zum Fall der Mauer.

2. Ich war glücklich,

  • als ich mit 24 Jahren ein Stipendium für Schottland bekam und dann mit weiteren Stipendien sorgenfrei in Deutschland und in den USA studieren konnte.
  • Ich war noch glücklicher, seitdem ich als erfolgreicher Autor keine Geldprobleme mehr hatte.
  • Mein größtes Glück aber war und ist es, dass ich im Alter von 38 meinem 4 Jahre jüngeren, immer heiter und positiv gestimmten Lebenspartner Gene begegnet bin. Einen besseren hätte ich mir nicht ausdenken können. Inzwischen blicken wir nun schon auf über 44 gemeinsame, wunderbar harmonische und produktive Jahre zurück. So sind wir zusammen alt geworden, aber eins hat sich nicht geändert: Vom ersten Tage an habe ich ihn als Vorbild für wahre Lebenskunst bewundert, und so ist es bis heute geblieben. Deshalb gilt für mich nach wie vor: Falls nötig, I’d walk a hundred miles for one of his smiles.


Gene heute im Alter von 78 Jahren

Und: Glücklicherweise blieb ich auch in dem von mir schließlich gewählten Beruf ein kritischer Quereinsteiger, der eben nicht irgendeine gewöhnliche Ochsentour absolviert hatte. Dennoch wurde ich in den USA nicht als Außenseiter behandelt, sondern sehr schnell akzeptiert. Das hing einerseits mit der allgemein offenen, gastfreundlichen amerikanischen Kultur zusammen, andererseits aber auch mit der Neuheit des Fachgebietes, das sich dort erst allmählich auszugestalten begann. In dieser lebendigen, ja aufregenden Gründerphase war zunächst einmal jeder Beitrag willkommen. Ich wurde also in den USA sehr früh – ja, zum bestmöglichen Zeitpunkt - zum Mitglied einer neuen akademischen Bewegung und konnte deren Aufbruchsstimmung teilen. Außerdem war ich von der nur teilweise wiederbelebten, engstirnigen deutschen Sexualwissenschaft in keiner Weise geprägt oder vorbelastet. Wenn einige deutsche Kollegen mich öffentlich angriffen, so lief es im Grunde ja darauf hinaus, dass ich ohne medizinische oder psychotherapeutische Ausbildung kein Recht auf Mitsprache hätte. Damit aber entlarvten sie nur sich selbst als die geistigen Provinzler und Konformisten, die sie eben waren. So verübelten mir auch manche, dass ich mich nicht in der Schwulenszene verankert hatte. Das aber lag mir ebenso fern wie meinem Partner. Wir traten zwar von Anfang an immer und überall offen als Paar auf, vermieden aber bewusst, irgendeinen schwulen Lebensstil anzunehmen oder zu demonstrieren. So etwas ging uns einfach wider die Natur. Wir waren und blieben Individualisten und wollten nie Repräsentanten irgendeiner Gruppe sein. Denn eines hatten wir im wirklich toleranten San Francisco gelernt: Wenn sexuelle Befreiung überhaupt einen Sinn haben soll, dann doch wohl den, dass man den Mut zu sich selber findet und aufhört, die Vorstellungen und Erwartungen anderer zu bedienen.

Und was meine sexologische Berufserfahrung betrifft, so wurde ich von vornherein auf einen anderen, breiteren Weg verwiesen, der schnell ins Internationale, ja ins Globale führte. An dessen Ziel halte ich heute - immer noch selbstfinanziert und praktisch als Ein-Mann-Betrieb - im Internet mit meinem frei zugänglichen Archive for Sexology ein weltweit konkurrenzloses Angebot bereit:

Mein Archiv bietet
frei zugängliche wissenschaftliche Informationen zur sexuellen Gesundheit
in insgesamt 15 Sprachen.


Dazu gehören u.a. Online-Fachbibliotheken in 4 Sprachen:
Deutsch, Englisch, Spanisch (1,2,3) und Ungarisch.

Mein Online-Studiengang Sexual Health von 6 Kursen (6 Semestern) ist nun komplett
in 7 Sprachen verfügbar:
EnglischSpanischPortugiesisch, Chinesisch (in vereinfachter und traditioneller Schrift),
RussischTschechisch und Ungarisch.
Teilweise liegen auch schon Übersetzungen in weitere Sprachen vor.

Außerdem biete ich auf YouTube 23 kürzere und längere Videos zu sexologischen Themen an mit bisher über 400 000 Aufrufen.

Dies Angebot verdankt sich natürlich auch der unbezahlten, enthusiastischen Mitarbeit vieler ausländischer Kollegen. Es stellt somit ein Modell für eine globale fachliche Zusammenarbeit dar, wie sie durch das Internet möglich geworden ist. Ohne den Idealismus dieser Kollegen und ohne deren eigene internationale Ausrichtung wäre ja die Vielsprachigkeit des Archivs niemals zustande gekommen. Ihre Verdienste um unsere gemeinsame Sache sind deshalb nicht hoch genug zu schätzen. Dass ich selbst ihnen unendlich dankbar bin, muss ich nicht besonders betonen.

Als Privatperson kann ich natürlich keinerlei offizielle Anerkennung für das Studium meiner Online-Kurse aussprechen. Das können nur Universitäten, und, wie bereits erwähnt, geschieht das ja auch mit meinen Kursen in China. Was andere mit den anderen Kursübersetzungen machen, kann ich nur vermuten. Allerdings fällt mir nun im Nachhinein auf, dass mein Internet-Angebot von Anfang an hauptsächlich in China geschätzt und genutzt wurde. Die Kollegen in Deutschland und den anderen westlichen Ländern taten sich da viel schwerer und haben teilweise immer noch Hemmungen, die neuen Medien für sich zu nutzen.

Obwohl die Nutzerzahlen meines Online-Archivs seit dem Umzug auf einen privaten Server dramatisch zurückgegangen sind, ist es in vielen anderen Ländern weiterhin beliebt. Das erfahre ich durch die E-Mails, die ich aus aller Welt weiterhin laufend erhalte, und kann es auch aus meinen Besucherstatistiken ablesen. Zurzeit befinden sich die meisten meiner Leser in China, des Weiteren in den USA und Deutschland, Indien, den Philippinen, Ungarn, Großbritannien, Spanien, Tschechien, Kanada, Mexico und Brasilien.




http://www.sexarchive.info

Prof. Dr. Erwin J. Haeberle

E-Mail: HaeberleE@web.de

The Archive for Sexology is devoted to the world-wide promotion of sexual health by collecting and disseminating scientific information, especially in the internet. Following guidelines and recommendations of the World Health Organization (WHO) and UNESCO, it offers a complete online curriculum in sexual health in seven languages, large online libraries of scientific literature in four languages, a complete history of sexology from ancient times to the present, and many other relevant materials. The Archive offers scientific information in 15 languages.
It is committed to the principle of open access and is therefore freely accessible to everyone everywhere at all times.

Bei alledem bin ich mir aber auch der wirtschaftlichen und politischen Probleme bewusst, die mit dem weltweit zunehmenden Gebrauch von Online-Kursen (MOOCs) verbunden sind. Meinen Aufsatz zu diesem Thema kann man in meinem Archiv lesen: Higher Education for Lower Expectations? …. Auch diese, nun unausweichliche Entwicklung des eLearning, die ich selbst mit angestoßen habe, hat ihre negative Seite. Besorgniserregend ist vor allem die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence AI). Sie könnte bald eine vollautomatisierte akademische Lehre möglich machen, und dies wiederum könnte profit-orientierte, von Big Data gespeiste Firmen als konkurrenzlose Wissenbesitzer auf den Plan rufen. In der Tat, zukünftig könnte selbst die akademische Wissensvermittlung vollständig von den Universitäten in eine übermächtig gewordene Privatwirtschaft übergehen. Leider fehlt in Deutschland immer noch die nötige Diskussion darüber. Überhaupt gehen die deutschen Universitäten weiter ihren gewohnten Gang mit überfüllten Hörsälen und schlecht oder gar nicht erreichbarer Literatur. Diese Probleme sind aber durch das Internet längst überflüssig geworden. Man müsste seine Möglichkeiten nur nutzen. Eben das tut man aber nicht, und niemand rebelliert dagegen. Es ist eine provinzielle Welt von Gestern, zunehmend ungemütlich, aber nicht aus ihrer trügerischen Ruhe zu bringen.

Dabei hat uns die elektronische Revolution nun an die Schwelle einer neuen Epoche geführt, in der sich die Gewohnheiten und Bildungsmöglichkeiten, ja die Lebensentwürfe, Hoffnungen und Vorlieben vieler Menschen radikal verändern werden. Die heutige Jugend wird neue Interessen, Talente und Fähigkeiten entwickeln müssen, die für uns Ältere noch nicht erforderlich waren. Das gilt z.B. auch für die höhere Bildung, die durch eine fortschreitende Verschulung und Digitalisierung der Universitäten immer stromlinienförmiger und oberflächlicher wird.

Mir selbst ist schon durch die bloße Niederschrift dieser Erinnerungen klar geworden, dass es ein Leben wie das Meine in Zukunft nicht mehr geben wird. Ich bin in einer Periode transatlantischer Harmonie aufgewachsen, in der es auch für einen völlig unbemittelten Studenten noch möglich war, in relativer Freiheit viele verschiedene Interessen zu verfolgen und mit mannigfaltiger Unterstützung erfolgreich einen ungewöhnlichen Weg zu gehen. Das war natürlich auch für mich nicht immer leicht. Bei aller Zielstrebigkeit musste ich mich mehrmals umorientieren und unerwartete, sehr schwierige Situationen meistern. Aber: Trotz eines langdauernden kalten Krieges mit seinen Gefahren und mehrfachen politischen Rückschlägen war es doch eine Zeit des allgemeinen Aufbruchs und des Optimismus, sowohl in Westeuropa wie in den USA. Diese Zeit ist jetzt vorbei. Was man, zumindest seit 1918, das amerikanische Jahrhundert genannt hat, geht zu Ende, und ein asiatisches Jahrhundert unter der Führung Chinas zieht herauf, auf das wir hierzulande alle nicht vorbereitet sind. Das ist, gerade auch für mich, sehr bedauerlich. Mein Partner Gene und ich hatten durch unsere wiederholten China-Besuche schon vor Jahren erkannt, dass die Chinesen am Ende bei uns alles übernehmen werden, sowohl materiell wie intellektuell. Wir fanden aber für unsere Warnungen noch nicht einmal bei meinen engsten Kollegen Gehör. Das Thema interessierte einfach niemanden, und so verschläft man die unausweichlich kommende Entwicklung bis heute. Das Endresultat wird für den Westen, unnötig überraschend, viel Altgewohntes verändern oder sogar völlig beseitigen. Das Beste und Schlimmste davon werde ich nicht mehr erleben. Als alter Mann sehe ich aber schon heute deutlicher denn je, dass ich selbst einer Welt angehöre, die nun zunehmend schnell verblasst und entschwindet. Bald wird sie für viele und schließlich für alle eine fremd gewordene Vergangenheit sein, in die man sich, wenn überhaupt, nur noch mit Mühe hineindenken kann. Meine eigene Karriere ist dann jedenfalls als Muster nicht mehr tauglich.

Die Sexualwissenschaft, so wie sie zu Anfang des 20. Jhdts. einmal konzipiert und von den Nazis zerstört worden war, wurde nach dem Kriegsende 1945 in Deutschland nicht wieder aufgebaut. Sie erlebte aber bald darauf in den USA eine vorübergehende Renaissance, von der ich profitierte, und die ich selber durch eigene Arbeit unterstützen konnte. Damals war es uns Sexologen möglich, durch unsere Publikationen, Organisationen und Kongresse direkt und indirekt einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität vieler Menschen zu leisten. Einiges davon strahlte auch auf andere Länder aus und wirkt heute noch fort.

Ich selbst habe kürzlich in englischer Sprache noch ein neues, privat finanziertes Online-Projekt entwickelt: Einen Netzort für faktische Informationen: The Sexology Expert. Dort fasse ich einen erheblichen Teil meines bisherigen elektronischen Angebots zusammen, nutze aber auch Videos für Webinars, d.h. kurze Lektionen zu speziellen Themen. Dies dient u.a. dazu, auf meine Open Access-Ressource Archive, hinzuweisen und so neue Lesergruppen dafür zu erschließen.

Ich mache mir keine Illusionen über die Bedeutung meiner Arbeit oder überhaupt der Sexualwissenschaft. Im großen Zusammenhang der heutigen Weltprobleme gibt es zweifellos Wichtigeres als die Erforschung des menschlichen Sexualverhaltens und die Förderung der sexuellen Gesundheit. Andererseits: Aus der turbulenten Zeit, die ich in den USA erlebte, stammen auch die Anfänge des Internet, das aber erst in den 80er und 90er Jahren für weitere Nutzerkreise verfügbar wurde. Nun ist es dabei, die ganze Welt radikal zu verändern. Als Nebeneffekt erlaubt es auch uns, den sonst kaum beachteten minderen Brüdern der etablierten Wissenschaftler, unsere Erkenntnisse weltweit zu verbreiten, und damit erhalten wir zum zweiten Mal eine Chance, uns nützlich zu machen.

Ich will aber keine Forschung an ihrer Nützlichkeit messen. Jede noch so kleine Einsicht, die uns das Verständnis unserer Welt erleichtert, ist Rechtfertigung genug für jede Wissenschaft. Eines weiteren Nutzens bedarf es dafür nicht. Sicherlich: Mein eigenes Leben wäre anders und weniger glücklich verlaufen ohne die sexologischen Einsichten, auf die der Zufall mich stieß. Aber ist Glück ein im Voraus kalkulierbarer Nutzen?

Was für mich zählt, ist dies: Ich habe unter den von mir vorgefundene Umständen meine Pflicht erfüllt, soweit ich es konnte. Das mir Mögliche habe ich geleistet. Dabei habe ich immer getan, was ich wollte, nicht, was andere wollten, und deshalb hat mir die Arbeit auch immer Freude gemacht. Ja, ich kann heute sagen: Für meine Bemühungen um die Sexualwissenschaft, so bescheiden sie insgesamt auch waren, wurde ich mit einem abwechslungsreichen, erfüllten Leben belohnt. Ich bin nich stolz, aber zufrieden. Wie man salopp zusammenfassen könnte: Mehr war für mich nicht drin. Hat es gereicht? Wofür und für wen? Und wird davo etwas bleiben? Auf diese Fragen müssen in Zukunft andere, wenn sie dann noch so geneigt sind, ihre eigenen Antworten finden.

EJH
Freiburg im Breisgau, 2018





Danksagung

Es ist mir ein Bedürfnis, zusätzlich meinen folgenden Unterstützern zu danken, die in meinen Erinnerungen nicht namentlich genannt sind, die mir aber an wichtigen Punkten meines Lebens uneigennützig geholfen haben:
Prof. Rudolf Germer † (Köln), Prof. Rolf Winau † (Berlin),
Prof. Jekatherina Lebedewa (Heidelberg).




Unser neues Leben im Alter

Vor meinem 77. Geburtstag zogen wir von Berlin nach Freiburg Br. in eine Seniorenresidenz. Diese anspruchsvolle Wohnanlage mit großem Garten und Karpfenteich liegt im Grünen am Rande der Stadt mit direkter Straßenbahnanbindung ins Zentrum (12 Minuten). Sie bietet alle Annehmlichkeiten eines 4-Sterne Wellness-Hotels mit Halbpension (wahlweise auch mit Frühstück und Abendessen): 24-stündiger Empfang, Restaurant, Café-Terrasse, Club-Räume, Fitness-Räume und Trainer, Massagen, Physiotherapie, Schwimmbad, Sauna, Kältesauna, Bibliothek, Boccia-Bahn, Kegelbahn, Friseur, Lebensmittelgeschäft, wechselnde Kunstausstellungen und ein öffentliches Theater für Gastspiele, Filmvorführungen, Vorträge und Konzerte.
Eine Arztpraxis ist im Hause, ebenso Pflegepersonal.
Wir bewohnen hier eine selbstmöblierte Suite mit Küchenzeile, Bad und Balkon.

Die Fotos von oben und von links: Blick auf die Anlage mit Teich und Café-Terrasse, Empfangsbereich, Restaurant, Schwimmbad, Theater.


Unsere heutige Wohnung

Oben: Ecke unseres Wohnzimmers. Die offene Tür links führt zu unserem Balkon.
Mitte: Eine andere Ecke unseres Wohnzimmers mit Blumen und Gratulationskarten an meinem 82. Geburtstag. Außerdem sieht man hier einen Teil unserer asiatischen Möbel, die wir aus San Francisco schon nach Berlin mitgebracht hatten, und die nun, zusammen mit chinesischen Kalligraphien als Wandschmuck, an den anderen Wänden dieses Zimmers und auch in unserem Schlafzimmer stehen. Auf dem niedrigen Regal einer unserer beiden TV-Flachbildschirme.
Unten: Eine Ecke unseres Schlafzimmers mit seiner verspiegelten Schrankwand. Außerdem befindet sich hier (im Foto nicht sichtbar) - neben einem Schreibtisch, einem Aktenschrank und einem Bücherregal - auch noch ein weiterer großer TV-Flachbildschirm.
Das Geheimnis einer glücklichen Zweierbeziehung: Zwei Fernsehgeräte.


Ein Blick aus unserem Flurfenster zeigt die Landschaft,
in die unsere Seniorenanlage eingebettet ist.


Curriculum Vitae

1936Geboren in Dortmund.
1956-63Studiert Theaterwissenschaft, deutsche, englische, französische und amerikanische Literatur in Köln, Freiburg Br., Glasgow und Heidelberg.
1964M. A. Cornell University, Ithaca, N.Y.
1966Dr. phil. in amerikanischer Literatur, Heidelberg.
1966-68 und 1969-70Postdoctoral Fellow in American Studies, Yale University.
1968-69 und 1970-71Postdoctoral Fellow in Japanese & Korean Studies, UC Berkeley.
1977Ed.D. in Sexology, Institute for Advanced Study of Human Sexuality, San Francisco
1977-88Full Professor, The Institute for Advanced Study of Human Sexuality, San Francisco, mit folgenden Zusatztätigkeiten bzw. Unterbrechungen:
1982-84Research Associate, Kinsey Institute, Indiana University, Bloomington, IN.
1983-84Gastprofessor, Medizinische Fakultät der Universität Kiel.
1984Distinguished Visiting Professor, Department of Biology, San Francisco State University.
1984-85Professeur invité, Medizinische Fakultät der Universität Genf.
1988-94Direktor, Information & Dokumentation, AIDS- Zentrum, Bundesgesundheitsamt (BGA), Berlin.
1991Mitgründer und Generalsekretär der European Federation of Sexology (EFS).
1992-94Gastprofessor, Humboldt Universität zu Berlin.
1994-2001Gründer und Direktor, Archiv für Sexualwissenschaft, Robert Koch-Institut, Berlin.
2001-2013Pensioniert vom Robert Koch-Institut. Führt sein Projekt an der Humboldt-Universität auf eigene Kosten fort als Magnus Hirschfeld Archive for Sexology.
2003Januar: Publiziert den weltweit ersten open access online course (MOOC): Basic Human Sexual Anatomy and Physiology.
2004Oktober: Spricht auf Einladung zum 10. Jahrestag der China Sexology Association als Hauptredner in Pekings Großer Halle des Volkes und führt dabei auch seine Online-Kurse vor. Als Resultat werden sie alle ins Chinesische übersetzt und in China zur Ausbildung von Sexualerzieher(inne)n genutzt.
2005-2007Honorarprofessor, Department of Psychiatry, Faculty of Medicine, University of Hong Kong
2008-Honorarprofessor, American Academy of Clinical Sexologists (AACS)
2008-2012Honorarprofessor, Family Institute, University of Hong Kong
2013Juli: Verlässt den Server der Humboldt-Universität und setzt die Arbeit an seinem weiterhin privat finanzierten Online-Archiv auf eigenem Server fort. Zieht von Berlin nach Freiburg Br.
2017Oktober: Präsentiert ein weiteres, privat finanziertes Online-Angebot in englischer Sprache - The Sexology Expert - offering factual information online.


Publikationen


Anmerkungen

1. Viel Material zu diesem Thema findet sich in meinem Online-Archiv:
Was in Berlin bisher zum Gedenken an Magnus Hirschfeld geschehen ist, habe ich in einem besonderen Aufsatz zusammengefasst: Berlin erinnert an Magnus Hirschfeld. Englisch: Berlin remembers Magnus Hirschfeld.

2. Alfred C. Kinsey begann seine bahnbrechenden Forschungen in den USA schon 1938, also nur fünf Jahre nach der Schließung von Hirschfelds Institut. Weitere neun Jahre später, 1947, gründete er sein eigenes Institute for Sex Research, und noch ein Jahr später, 1948, legte er den ersten seiner berühmten Reports vor: Sexual Behavior in the Human Male. William H. Masters und Virgina Johnson publizierten ihre erste, ebenso revolutionäre Studie 1966: Human Sexual Response. Die Berliner Sexologen Hans Lehfeldt und Ernst Gräfenberg entkamen nach New York. Gräfenberg , schrieb 1950 einen später berühmten Aufsatz über die Rolle der Harnröhre beim weiblichen Orgasmus und damit über eine erogene Zone an der Scheidenvorderseite. (Nachträglich von Perry und Whipple als Graefenberg spot oder G-spot  bezeichnet.) Siehe auch hier und hier. Auf Lehfeldts Initiative fand der erste internationale Sexologenkongress nach dem 2. Weltkieg in 1974 Paris statt. Der nächste Kongress folgte 1976 in Montréal. Drei Jahre später, 1979, führten diese Aktivitäten dann zum Weltkongress in Rom und zur Gründung einer World Association for Sexology (WAS), die ab 1981 im Zweijahresrhythmus weitere Kongresse organisierte. Der vor 1933 in Berlin tätige Wilhelm Reich floh über Dänemark und Norwegen schließlich ebenfalls in die USA. Seine dortigen Forschungen über den Orgasmus und eine angebliche Orgon-Energie verleiteten ihn dazu, sogenannte Orgon-Boxen zu vertreiben, denen er Heilkräfte zuschrieb. Dies brachte ihn in Konflikt mit der Food and Drug Administration (FDA). Im daraus entstandenen Strafprozess wurde er verurteilt und starb im Gefängnis. Seine Schriften wurden zum zweiten Mal offiziell verbrannt, diesmal von der US-Regierung.

3. Ich war nie in Russland und kenne daher auch die Eremitage in St. Petersburg nicht, dafür aber alles in Berlin und Potsdam, München, Dresden, Wien, Rom, im Vatikan, in Florenz, Venedig, Istanbul, Madrid, Cordoba, Lissabon, Colmar, Paris and Versailles, Brüssel, Amsterdam, Kopenhagen, London, New York, Washington DC,Chicago, Cleveland, St. Louis, Mexico Stadt, Peking, Schanghai, Taipeh, Kairo, im Tal der Könige, Luxor und Assuan. Zudem sah ich noch alle bedeutenden Theatertruppen meiner Zeit, in den meisten Fällen mehrfach: Das Berliner Ensemble (noch mit Helene Weigel, Ernst Busch und Ekkehard Schall), das Burgtheater (noch mit Josef Meinrad und Inge Konradi), die Kammerspiele in München, das Schauspielhaus Zürich, das Schillertheater Berlin (noch mit Ernst Schröder und Curt Bois), die Ruhrfestspiele, die Comédie Francaise (noch mit Paul-Emile Deiber, Georges Descrières, Jacques Charon, Robert Hirsch und Jean Piat), die Compagnie Renaud-Barrault (beide noch auf der Bühne), das Théatre National Populaire (TNP) mit Jean Vilar und Maria Casarès, das Theater aus Lyon mit Roger Planchon, das Piccolo Teatro Mailand unter Giorgio Strehler, und die Royal Shakespeare Company. (mit Paul Scofield, Eric Porter, Ian Richardson, Paul Rogers und den damals sehr jungen Judy Dench und Vanessa Redgrave). Dazu kamen noch Gastspieltruppen in Deutschland und in den USA mit Ernst Deutsch, Elisabeth Bergner und Rudolf Forster, Hildegard Knef, Anthony Hopkins, Alec Guiness, die originalen Vier von Beyond the Fringe, die Monty Pythons auf dem Broadway, und Solo-Abende mit John Gielgud, Harald Kreuzberg, Marcel Marceau, Klaus Kinski, Léonide Massine (mit seinem damals 12-jährigen Sohn), Emlyn Williams (als Charles Dickens, Victor Borge und vielen anderen.    

4. Haeberle, E. J., Das szenische Werk Thornton Wilders, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1967

5. E. H. Haeberle, Nestroy oder Der gerade Umweg der Satire, in: Neue Rundschau, Heft 2, 1970, pp. 302 - 314

E. H. Haeberle , John Steinbecks "The Grapes of Wrath", in: Der amerikanische Roman, edited by H.-J. Lang, August Bagel Verlag, Düsseldorf 1972, pp. 301 - 332

E. H. Haeberle , Norman Mailers Reportagen, in: Geschichte und Gesellschaft in der amerikanischen Literatur, K. Schubert u. U. Müller-Richter, Heidelberg, eds. 1973, pp. 232 - 351

6.  Haeberle, E. J., The Sex Book (with Martin Goldstein und Will McBride), Herder & Herder, New York 1971 (Acht Jahre später, 1979 machte mir Günter Amendt das Kompliment, diesen Titel zu entlehnen.)

7. Stewart Brand: We owe it all to the hippies, in TIME, Special Issue Spring 1995, Volume 145, No. 12 

8. Der bekannte Autor Tom Wolfe, der übrigens in American Studies an der Yale-Universität bei Norman Pearson promovierte hatte, schrieb damals eine bissig-satirische Reportage über eine solche Party in New York: Radical Chic & Mau-Mauing the Flak Catchers (1970) 

9. Auch die USA hatten ihre gewalttätige politische Gruppe, die Weathermen (ca. 1969-77). Sie verübte sogar verschiedene Bombenattentate, bei denen aber außer 3 eigenen Mitgliedern niemand zu Tode kam. Das war keineswegs mit der viel radikaleren deutschen RAF zu vergleichen, die sich in mit ihrer lebensfremden Ideologie in einen Tötungswahn hineinsteigerte. 
Ich selbst wurde schon zwei Jahre im Voraus gegen die eifernde deutsche 68er-Bewegung immunisiert, und zwar durch ein persönliches Erlebnis: Als überzeugter Linker demonstrierte ich im Frühsommer 1966 in Frankfurt/M mit vielen Mitbewohnern aus unserem Heidelberger Collegium Academicum, dem Roten CA, einem sozialistisch selbstverwalteten Studentenheim, gegen die drohenden Notstandsgesetze. Dabei bejubelten wie alle Herbert Marcuse und andere begeisternde Redner, zogen mit Protestplakaten und Sprechchören durch die Strassen und kehrten danach stolz und zufrieden nach Heidelberg in unser "linkes Heim" zurück. Aber dann: Ich hatte meinem dortigen besten Freund, Peter, geholfen, erfolgreich seinen Wehrdienst zu verweigern. Als er seine Freundin bei sich übernachten ließ, wurde er deswegen von einem anderen Heimbewohner denunziert. Also wurde er von unserem "Hohen Rat" wegen Regelverletzung zum Auszug gezwungen - ein Desaster für ihn bei der Dauerknappheit von Studentenbuden. Mir aber brachte das einen Schock der Erkenntnis: So waren sie also, meine idealistischen Mitdemonstranten: Grandiose Theorien über die Verbesserung der Welt und eine kleinliche, repressive Praxis gegenüber dem unmittelbaren Nächsten! Damit hatte ich genug von diesen linken Spießern und wartete nur darauf, bald wieder in die USA zurückzukehren. Was ich noch außerhalb unseres konformistischen Heimes von den ersten Regungen einer neuen sexuellen Befreiung mitbekam, wirkte auf mich ideologiegesteuert und künstlich, ganz anders als ich es dann schon im folgenden Jahr bei den lockeren, spontanen Hippies erleben sollte. Und Rudi Dutschke fand ich von Anfang an unsympathisch. Mit seinem eifernden Redestil machte er mir den Eindruck eines fundamentalistischen Erweckungpredigers, wie ich sie aus dem amerikanischen Fernsehen kannte. Außerdem erinnerte er mich, schon in seinem Aussehen, mehr als nur ungefähr an Savonarola. 

Und was hat Deutschland damals zur Schwulenbefreiung beigetragen? Zunächst hingen die 68er als Linke quasi-automatisch und unkritisch dem ebenfalls linken, schwulenfeindlichen Wilhem Reich an, dessen Werke ausgegraben und auch noch als Raubdrucke populär wurden. In seinem Sog stützten sie sich auf eine angeblich kritische, in Wirklichkeit aber längst überlebte, dogmatische Psychoanalyse. Erst im Juni 1969 kam das Signal für den Wandel, und zwar nicht aus Deutschland, sondern aus New York. Im Juni 1969 kämpften die Gäste einer Schwulenbar (Stonewall Inn an der Christopher Street)offen gegen ihre Belästigung durch ständige Polizeikontrollen, und zum ersten Mal verlor diesen Kampf die Polizei. Ironischerweise war genau hundert Jahre früher (1869) die Krankheit Homosexualität an der Charité in Berlin erfunden worden. Siehe auch hier. Aber 1973 strich die American Psychiatric Association (APA) auf Druck von Schwulenaktivisten diese Krankheit aus ihrem Diagnosehandbuch. Damit heilte sie über Nacht Millionen von Frauen und Männern in der ganzen Welt, auch in Deutschland. Jedenfalls feiern heutzutage auch die deutschen Schwulen und Lesben mit Recht jährlich den amerikanischen Christoper Street Day (CSD) als Beginn ihrer eigenen Befreiung.

10. E. J. Haeberle: Historical Roots of Sexual Oppression, in: The Sexually Oppressed, H. and J. Gochros eds., Association Press, New York 1978, pp. 3 – 27 und E. J. Haeberle: Youth and Sex in Modern Western Societies, in: Sexual Problems of Adolescents in Institutions, H. Gochros u. D. Shore eds., Charles C. Thomas, Springfield, IL 1981, pp. 3 – 16

11. Haeberle, E. J., The Sex Atlas, The Seabury Press, New York 1978, second edition 1981, rev. ed. 1983; Dutch edition: Spectrum Sex Atlas, Amsterdam 1981; German edition: Die Sexualität des Menschen, Handbuch und Atlas, Berlin 1983, rev. ed. 1985; Turkish edition. Ausg.: Cinsel Atlas, 1985

12. Katchadourian A. Herant und Lunde T. Donald, Fundamentals of Human SexualityHolt Rinehart Winston, 1972

13. SIECUS, Annotated Bibliography: 35 Books That Have Influenced Our Understanding of Sexuality. Siehe auch hier

14. Phyllis Lyon: Both Lyon and ihre Partnerin Del Martin gründeten die erste lesbische Organization in den USA : The Daughters of Bilitis und publizierten den ersten lesbischenNewsletter : The Ladder im Jahre 1956.

15. Maggi Rubenstein. Siehe auch hier

16. Pomeroy publizierte sein Seminar über das Kinsey Interview auch als Buch: W. B. Pomeroy, C.C. Flax, C.C. Wheeler: "Taking a Sex History - Interviewing and Coding", New York 1982. See also here

17. Erwin J. Haeberle, Sex - Health or Sickness? in: Medical Sexology - The Third International Congress, R. Forleo u. W. Pasini eds., Littleton, MA 1979

18. "Der transatlantische Pendler - ein Interview mit Harry Benjamin", in: Sexualmedizin, 1985, Bd. 14, No. 1, pp. 44-47

19. Erwin J. Haeberle, Fertility and Infertility - A Historical Overview, in: Reversibility of Sterilization - Psych(patho)logical Aspects, Proceedings of the International Symposium, P. Nijs u. I. Brosens eds., Acco, Leuven 1981, pp. 37 - 50

20. Erwin J. Haeberle, --, Sexualtherapie in den USA - Einfache Verfahren für die Praxis, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 4, H. J. Vogt, V. Herms u. W. Eicher eds., Medical Tribune, Wiesbaden 1981, pp. 236 - 244, also in: Sexualmedizin, Bd. 10, 1981, pp. 339 – 343,

 --, Audiovisuelle Hilfsmittel in der sexualtherapeutischen Praxis, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 5, V. Herms, H.J. Vogt u. W. Eicher eds., Medical Tribune, Wiesbaden 1982, pp. 39 - 52

--, Therapeutischer Fortschritt und terminologischer Rückstand in der Behandlung von Sexualproblemen, in: Mitteilungen der Gesellschaft für praktische Sexualmedizin, Vol. 1, No. 1, May 1981, pp. 4 – 5

--, Neuere Forschungen über die weibliche Ejakulation, in: Mitteilungen der Gesellschaft für praktische Sexualmedizin, vol. 2, no. 2, 1982, pp. 2 - 3

 --, Audiovisuelle Hilfsmittel zur Therapie sexueller Störungen, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 6,. W. Eicher, V. Herms u. H. J. Vogt eds., Medical Tribune, Wiesbaden 1983, pp. 175 - 182

--, Audiovisuelle Hilfsmittel in der Sexualtherapie II, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 7,. H. J. Vogt, W. Eicher u. V. Herms eds., Medical Tribune, Wiesbaden 1984, pp. 157 – 178

--, Audiovisuelle Hilfsmittel in der Sexualtherapie III, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 8,. H. J. Vogt, V. Herms u. W. Eicher eds., Medical Tribune, Wiesbaden 1985, pp. 159 – 174

--, Die Rolle des Arztes bei der AIDS-Vorbeugung, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 12, Medical Tribune, Wiesbaden 1989, pp. 41 – 49

--, AIDS-Vorbeugung - Das Modell San Francisco, in: Praktische Sexualmedizin, H. J. Vogt, V. Herms u. W. Eicher eds, Medical Tribune, Wiesbaden 1986, pp. 238 - 251, Nachdr.: AIDS zwischen Angst und Verdrängung, SPD-Parteivorstand ed., Bonn 1986, pp. 19 – 22

--, Problemkreise in der AIDS-Beratung, in: Praktische Sexualmedizin, Bd. 10, H. J. Vogt, V. Herms u. W. Eicher eds., Medical Tribune, Wiesbaden 1987, pp. 185 - 194

21. Laumann, E. O, Gagnon, J, Michael, R. T. Michaels, S., The Social Organization of Sexuality: Sexual Practices in the United States, (1992) University of Chicago Press, 1994

22. Haeberle, E. J., The Birth of Sexology, A Brief History of Documents, private edition, San Francisco 1983; Deutsche Ausgabe: Anfänge der Sexualwissenschaft, Walter de Gruyter,  Berlin 1983. Siehe auch hier

23. Haeberle, E. J., Der verbotene Akt – Unzüchtige Fotos von 1850 - 1950, in: Das Aktfoto: Geschichte, Ideologie, Ästhetik, M. Köhler, Gisela Barche, eds., C. J. Bucher, München 1985, pp. 240 – 252 . Später hiehlt ich auf Einladung noch einen Vortrag zum Thema Pornographie im Allgemeinen.

24. Bisher liegen an einschlägigen Werken vor: 

a.) Annemarie und Werner Leibbrand, Formen des Eros. Kultur- und Geistesgeschichte der Liebe, 2 Bde. Karl Alber Verlag, Freiburg/München 1972

b.) Peter Gay, The Bourgeois Experience: Victoria to Freud, 5 Bde., 1984-1998,] einschl. "The Education of the Senses" (1984), "The Tender Passion" (1986), "The Cultivation of Hatred" (1993), "The Naked Heart" (1995), and "Pleasure Wars" (1998). Verschiedene amerikanische und britische Verlage 

c.) Michel Foucault: Histoire de la sexualité / Sexualität und Wahrheit: Bd. 1: La volonté de savoir. Gallimard, Paris 1976, (Der Wille zum Wissen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983). Bd. 2: L’usage des plaisirs. Gallimard, Paris 1984 (Der Gebrauch der Lüste. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986). Bd. 3: Le souci de soi. Gallimard, Paris 1984 (Die Sorge um sich. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986). Inzwischen ist noch postum ein weiterer Band hinzugekommen: Sexualität und Wahrheit: Bd. 4. Les aveux de la chair, (Bekenntnisse des Fleisches) Paris 2018. Da dieser sich jedoch mit der Sexualität des frühen Christentums und der Rolle der Kirchenväter beschäftigt, kann er zur Entstehungsgeschichte der Sexualwissenschaft wenig beitragen.

d.)
 Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008

e.) Vern Bullough, Science in the Bedroom. In spanischer Übersetzung: Ciencia en la alcoba

f.) Eine kurze Geschichte der Sexualwissenschaft befindet sich frei zugänglich in meinem Online-Archiv unter dem Titel A Brief History of Sexology:

Außerdem findet sich dort eine Chronologie und einige Kurzcharakterisierungen sexologischer Pioniere.

Haeberle, E.J. Sexology: From Italy to Europe and the World, in: C. Simonelli et al., Sessualità e terzo millenio, Milan, FrancoAngeli, 1997, pp. 13-22. See also here

Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang auch noch auf ein Interview verweisen, das ich einem britischen Blog gegeben habe.

25. Details in E. J. Haeberle: Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, in: Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung 3. (ed. by R. Gindorf, E. J. Haeberle), Berlin, New York, Walter de Gruyter, 1992, pp. 3-14

26.. Szasz, Thomas: Sex by Prescription - The Startling Truth About Today's Sex Therapy, Garden City, New York: Anchor Press/Doubleday, 1980 und Erwin J. Haeberle, The Manufacture of Gladness - Some Observations on Sex Therapy, in: Challenges in Sexual Science, A SSSS Monograph, C. M. Davis ed., Syracuse, N.Y. 1983, pp. 8 - 15

27. Als Präsident der DGSS organisierte ich mit Rolf Gindorf die folgenden Kongresse: 

1. Die Sexualität des Menschen: ein sozialer Tatbestand? (Düsseldorf 1984) 
2. Sexualitäten in unserer Gesellschaft (Düsseldorf 1986) 
3. Sexualwissenschaft und Sexualpolitik / Schwerpunkt: AIDS (Düsseldorf 1988, unter der Schirmherrschaft der Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit) 
4. Bisexualitäten / Bisexualities (Berlin 1990, als III. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft, unter der Schirmherrschaft des Minsters für Gesundheit [DDR] und des Senators für Wissenschaft und Forschung [West-Berlin]) 
5. Sexualität, Recht und Ethik (Berlin 1992, als IV. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft, unter der Schirmherrschaft des Berliner Senators für Wissenschaft und Forschung)
6. Vom Sinn und Nutzen der Sexualwissenschaft (Berlin 1994, als V. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft)
7. 100 Jahre Schwulenbewegung (Berlin 1997, als VI. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft)
8. For a Millennium of Sexual Health (Berlin 2000, zusammen mit dem 5. Kongress der European Federation of Sexology (EFS)
9. 
Sexualitäten im 3. Jahrtausend: Neuere Entwicklungen in der Sexualforschung (Lüneburg 2002)

Mit Rolf Gindorf entstanden auch die folgenden Publikationen:

1. Erwin J. Haeberle, (mit Rolf Gindorf) Die menschliche Sexualität - ein sozialer Tatbestand?, Schriftenreihe sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Bd.I, Walter de Gruyter, Berlin 1985

2. --, (mit Rolf Gindorf) Sexualitäten in unserer Gesellschaft, Schriftenreihe sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Bd. II, Walter de Gruyter, Berlin, 1989

3. --, Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, Schriftenreihe sozialwissenschaftliche Sexualforschung, ed. mit Rolf Gindorf, Walter de Gruyter, Bd. III, 1992, pp. 434

4.--, (ed. mit R. Gindorf), Sexualwissenschaft heute: Ein erster Überblick, Düsseldorf, Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, 1992, pp. 71

5.--, (ed. mit R. Gindorf), Bisexualitäten: Ideologie und Praxis des Sexualkontaktes mit beiden Geschlechtern, Stuttgart, Gustav Fischer Verlag, 1994, pp. 359

6. -, (ed. mit R. Gindorf), Bisexualities: The Ideology and Practice of Sexual Contact with both Men and Women, New York, Continuum, 1997, pp. 288

in E. J. Haeberle: Auguste Forel - Der erste schweizerische Sexologe, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.02.1986, also in English translation online under the title Auguste Forel - The First Swiss Sexologist

28. Siehe M. Marschick u. G. Spitaler, Leo Schidrowitz: Autor und Verleger, Sexualforscher und Sportfunktionär, Jüdische Miniaturen Bd. 167, Hentrich & Hentrich, Berlin 2015

29. Der Vortrag wurde im folgenden Jahr vom Institut der Universität Heidelberg als Sonderpublikation herausgegeben: Die Anfänge der Sexualwissenschaft in Berlin, Bericht aus dem Archiv für Geschichte der Psychologie, Heft 12, April 1985

30. Erwin J. Haeberle, Sexuelle Minderheiten in San Francisco, in: Lust und Liebe, Hg. Christoph Wulf, Verlag R. Piper, München 1985, S. 151-180. (Volkmar Sigusch sprach über Trieb und Bewusstsein, S. 74-90)

31. Erwin J. Haeberle, USA: Erfolge der Aufklärung in San Francisco, in: AIDS - die gesellschaftliche Dimension einer Krankheit, Broschüre, hrsg. von Die Grünen, Landesverband Bayern, pp. 30 - 31

32. SPD, Abt. Presse und Information, Bonn: AIDSzwischen Angst und Verdrängung ; Werkstattgespräch, 24. Februar 1986

33. Erwin J. Haeberle, -, AIDS als politisches Problem (Teil I). Erfahrungen in den USA, Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Nr. 3, 1988, pp. 272 – 277. 
--, AIDS als politisches Problem (Teil II). Anwendung der US-Erfahrungen in West-Europa, Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Nr. 4, 1988, pp. 392 - 394

34. Erwin J. Haeberle, -, Prevenzione AIDS: Il punto di vista sessuologico, in: Quaderni di sessuologia e scienze psico-biologiche, I, 1, 1986

35. Erwin J. Haeberle, AIDS-Vorsorge und die Sozialwissenschaften, in: AIDS geht jeden an: Ergebnisse der Internationalen AIDS-Tagung im November 1986 in Berlin, ed: Der Senator für Gesundheit und Soziales, Berlin 1987, pp. 59 - 73, Nachdruck in: Sexualität in unserer Gesellschaft, Bd. II, R. Gindorf, E.J. Haeberle eds., Walter de Gruyter, Berlin 1989, pp. 85 – 108

36. Niklas Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen. In Haeberle/Gindorf Hg.: Sexualitäten in unserer Gesellschaft , Schriftenreihe sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Bd. II, 1989, S. 127-138.

37. Erwin J. Haeberle, 1. AIDS - Eine Krankheit breitet sich aus, SFB Schulfunk, Berlin, 3.2.1986, 
- --, 2. AIDS - Eine Krankheit wird bekämpft, SFB Schulfunk, Berlin, 10.2.1986 

38. Auf Einladung der Süddeutschen Zeitung nahm ich in München an einem Streitgespräch teil, bei dem auch Peter Gauweiler anwesend war. Die Diskussion wurde dann auch publiziert: Die Rezeptwahl bleibt kontrovers: Zum Beispiel San Francisco und Bayern - Prognosen, Überlegungen, Meinungen. Öffentliches Streitgespräch mit Peter Gauweiler und anderen, in: Wehrlos vor der globalen Bedrohung? AIDS. SZtexte, Süddeutsche Zeitung Dokumentation, no. 2, November 1987, pp. 36 - 49 

39. Volkmar Sigusch, Hg.Operation Aids: das Geschäft mit der Angst. Sexualforscher geben Auskunft, Konkret Sexualität, Nr. 71986

40. San Francisco war von Anfang an eine Stadt der Oper und der Opernstars. Am 17. April 1906, dem Abend vor dem großen Erdbeben und Feuer in San Francisco, hatte Enrico Caruso dort den Don José in Carmen gesungen. Im Schlafanzug und Bademantel frühmorgens durch die Trümmer umherirrend, schwor er, nie wieder in dieser Stadt zu singen und hielt Wort. Beim Wiederaufbau der Stadt sang 1910 die nicht minder berühmte Luisa Tetrazzini kostenlos unter freiem Himmel auf der größten und wichtigsten Straße (Market Street). Das jetzige Opernhaus wurde 1932 eröffnet - mit Claudia Muzio und Dino Borgioli in Tosca. Während meiner Zeit in San Francisco sah und hörte ich als Abonnent, neben dem Standard-Repertoire, u.a. sehr bedeutende Opern, die in Deutschland kaum jemals gespielt werden, z.B. Hérodiade Cendrillon und Esclarmonde von Massenet sowie - beide ungekürzt und in Originalsprache - Rossinis Guillaume Tell und Prokofiews Война и мир (Krieg und Frieden). Und keine einzige dieser Aufführungen wurde von eitlen, halb- oder viertelgebildeten Euro trash-Regisseuren umgedeutet, sinnentstellend aktualisiert oder anderweitig verhunzt! So war ich viele Jahre lang nur das Allerbeste gewöhnt. Außerdem veranstaltete die San Francisco Opera jeden September bei dann immer warmem, sonnigem Wetter und freiem Eintritt ein Freiluft-Konzert mit ihren größten Stars im Golden Gate Park. (Dabei sah und hörte ich auch den jungen Luciano Pavarotti zum ersten Mal.) Die folgenden Stars erlebte ich auf dem jeweiligen Höhepunkt ihrer Karrieren, die meisten davon mehrfach, d.h. in mehreren Opern, z. B: Birgit Nilsson in Tristan und Isolde (mit Jess Thomas). Magda Olivero in Tosca. Joan Sutherland in Norma, Semiramide, Esclarmonde, Merry Widow. Beverly Sills in Thais, I Puritani, Manon. Leontine Price in Aida, La Forza del Destino, Ariadne auf Naxos, Renata Scotto in Trovatore, Madame Butterfly, La Gioconda, Werther (mit Alfredo Kraus). Kiri Te Kanawa in Rosenkavalier, Nozze di Figaro, Otello. Luciano Pavarotti in Aida, La Bohème, Turandot, La Gioconda, Placido Domingo in Otello, Fanciulla del West, Carmen, Samson et Dalila, L’Africaine, Hérodiade. Peter Hofmann in Lohengrin, Walküre. Samuel Ramey in Nozze di Figaro,Don Giovanni, La Sonnambula, Mefistofele. Hier eine Liste der damaligen Stars, die ich live erlebte (nach Stimmtyp aufgezählt): Sopran: Sutherland, Sills, Caballé, Scotto, Freni, Crespin, Te Kanawa, Nilsson, Silja, Olivero, Jones, Marton, Rysanek, Cotrubas, Riciarelli, Fleming, Tomova-Sintow, Popp, Millo, Battle, Benackova, Lorengar, Vishnevskaya, Miricioiu, Margaret Price, Leontyne Price. Mezzo: Horne, Cosotto, Verett, Fassbänder, von Stade, Obraztsova, Schwarz, Troyanos, Zajick, Tociska. Tenor: Pavarotti, Domingo, Bergonzi, Carreras, Kraus, Aragall, King, Merritt, Ochman, Bonisolli, Shikoff, Dvorsky, Burrows, Lima, Araiza, Chauvet, Tappy, Jess Thomas, Peter Hofmann. Bariton: Adam, Wixell, Evans, Prey, Capucilli, Pons, Bruson, Manuguerra, Bruscantini, Shimell, Stewart, Diaz. Bass: Siepi, Ramey, Ghiaurov, Ridderbusch, Moll, Morris, Montarsolo, Tozzi, Lloyd, Furlanetto, Talvela, Nesterenko, Plishka.

41. E. J. Haeberle, with D. Liu, M.L. Ng, L.P. Zhou, Sexual Behavior in Modern China: Report on a Nationwide Survey of 20 000 Respondents, Shanghai, Joint Publishers, 1992, pp. 866 (in chinesischer Sprache) und in englischer Sprache: E. J. Haeberle, with D. Liu, M.L. Ng, and L.P. Zhou, Sexual Behavior in Modern China: Report on the Nationwide Survey of 20,000 Men and Women, New York, Continuum, 1997, pp. 568; excerpts published in: Blum, S.D., Jensen, L.M. (eds.), China Off Center: Mapping the Margins of the Middle Kingdom, University of Hawai'i Press, 2002

Reisen nach China

1. E.J. Haeberle: Reise 1989
2. E.J. Haeberle: Reise 1990
3. E.J. Haeberle: Reise 1992
4. E.J. Haeberle: Reise 1999
5. E.J. Haeberle: Reise 2004
6. E.J. Haeberle: Reise 2007

 42. Alfred c. Kinsey«Homosexuality: Criteria for a Hormonal Explanation of the Homosexual», in: The Journal of Clinical Endocrinology, Vol. 1, No. 5, S. 424-428. Siehe hier

43. E. J. Haeberle (hg. mit R. Gindorf), Bisexualitäten: Ideologie und Praxis des Sexualkontaktes mit beiden Geschlechtern, Stuttgart, Gustav Fischer Verlag, 1994, pp. 359 und (hg. mith R. Gindorf), Bisexualities: The Ideology and Practice of Sexual Contact with both Men and Women, New York, Continuum, 1997, pp. 288. Siehe Foto. Besonders auch hier.

44. Zur Geschichte der Hirschfeld-Medaillen.

45. E. J. Haeberle, Sexualwissenschaft an der Humboldt-Universität: Eine verpaßte Chance, in: Kleinhempel, F., Möbius, A., Soschinka, H.-U., Waßermann, M. (Hg.): Die Biopsychosoziale Einheit Mensch - Begegnungen, Festschrift für Karl-Friedrich Wessel, Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie & Humanontogenetik, Band 10, Bielefeld, Kleine Verlag, 1996, S. 233-237 Siehe hier

46. Erwin J. Haeberle, Ein neues Institut für Sexualwissenschaft - Ideal und Wirklichkeit , in: Sexualwissenschaft heute - Ein erster Überblick,Deutsche Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS), Düsseldorf 1992, S. 48-53 Siehe hier

47. Josef Hynie, Zur Geschichte der Sexualforschung in der Tschechoslowakei, in: "Sexualwissenschaft und Sexualpolitik" (hg. von Rolf Gindorf und Erwin J. Haeberle), Berlin 1992, S. 91-117, Siehe hier

48. Founders of the European Federation of Sexology. Siehe auch hier

49. Erwin J. Haeberle, Berlin und die internationale Sexualwissenschaft, Humboldt- Universität, Öffentliche Vorlesungen Heft 9, 1993

50. E. J. Haeberle: HIV/AIDS-Aufklärung in der Arbeitswelt – Materialien und Materialbeschreibungen, AIDS-Zentrum beim Bundesgesundheitsamt, Berlin 1991, AZ-Hefte 9, pp. 132

E. J. Haeberle: HIV/AIDS-Aufklärung in der Arbeitswelt – Materialien und Materialbeschreibungen, AIDS-Zentrum beim Bundesgesundheitsamt, Berlin 1991, AZ-Hefte 10, pp. 389

--, HIV/AIDS-Aufklärung in der Arbeitswelt, in: Infektiologie Diagnostik, Therapie, Prophylaxe (ed. by F. Hofmann), Landsberg/Lech, ecomed Fachbuchverlag, 1992, II, 12.1

51. 5000 Jahre Sexualkultur in China

52. Über Dr. X. Siehe auch hier. Außerdem siehe: Martin Bauml Duberman About time - exploring the gay pastNew York 1986. Das Buch enthält Beiträge über Mr.X im New York Native 1981-83.

53. 1. Yohanan Meroz: Mein Vater Max Marcuse

      2. Adain Talbar: Mein Vater Felix Theilhaber

54. Irgendwann in den achtziger Jahren, als ich noch in San Francisco wohnte, suchte ich mit meinem Freund John De Cecco an der nahen Stanford University geeignete Gesprächspartner über die Geschichte der Schwulenbewegung, ein Versuch, der am Ende leider vergeblich war. Die Details sind mir entfallen und wurden in meiner Erinnerung ohnehin durch ein bizarres Erlebnis überlagert. Im Laufe unserer Bemühungen fanden wir nämlich auf dem Campusgelände ein sehr ungleiches Paar - einen etwa 80-jährigen, schlanken, weißhaarigen Herrn deutscher Abstammung und seinen Begleiter, einen etwa 20-jähringen hübschen, sehr bescheiden auftretenden Amerikaner, der allerdings kaum ein Wort sprach. Ich ärgere mich heute noch, dass wir damals keine Fotos und keine Aufzeichnungen gemacht haben. Ja, ich verfluche mein schlechtes Gedächtnis, denn ich kann mich heute noch nicht einmal mehr an den Namen des alten Herrn erinnern. Was wir von den beiden erfuhren, war nämlich sehr interessant:

Der weißhaarige Alte hatte als junger Mann in den wilden zwanziger Jahren in Berlin gelebt, und dort hatte ein reicher Schwede sich in ihn verliebt. Aus irgendeinem Grunde, den ich nicht gleich mitbekam, blieb diese Liebe aber unerwidert, so dass der Schwede sich entschloss, durch die Einpflanzung heterosexueller Hoden normal zu werden, um sich so von seiner Obsession mit dem vergeblich angebeteten Jüngling zu befreien. Durch die Vermittlung Hirschfelds wurde dann die gewünschte Hodentransplantation auch ermöglicht. Wie der alte Mann uns nun erzählte, besuchte er damals den Genesenden im Krankenhaus und fragte ihn nach dem Erfolg der Operation. Dieser tat denn einen Ausspruch, der mir bis heute nicht aus dem Kopf geht. Er sagte: Mein  Körper verlangt jetzt nach dem Weibe, doch meine Seele schreit immer noch nach Dir. Bei diesen Worten fiel der Erzähler tatsächlich von seinem bisherigen Englisch zurück ins originale Deutsch, das er erst danach ins Englische übersetzte. Wir Zuhörer waren verblüfft. Was für ein paradoxer, pathetischer Hilferuf!  Hatte der Alte diesen einprägsamen, altertümlichen Satz vielleicht erfunden? Das glaube ich nicht. Offensichtlich aber konnte er ihn noch über 60 Jahre später auswendig hersagen und muss daher gleich beim ersten Hören von ihm beeindruckt gewesen sein. Die Wortwahl und die Satzkonstruktion hatten allerdings etwas Künstliches, Literarisches, so als ob ein Theaterdichter sie effekthaschend für ein Rührstück am Schreibtisch ausgeklügelt hätte. Wahrscheinlich aber hatte der schwedische Patient selbst den genauen Wortlaut tagelang vorher ausformuliert und für seinen jungen Besucher eingeübt. Jedenfalls bleibt mir der Satz in seiner Melodramatik bis heute im Gedächtnis. Und natürlich kann ich auch die erzählten Ereignisse in ihrer ganzen wissenschaftlichen Absurdität nicht vergessen. Sie werfen ein erschreckend grelles Licht auf eine heute peinlich wirkende Experimentierphase der frühen Sexologen. Aber es hilft nichts, solche Peinlichkeiten zu verdrängen. Auch sie gehören zu unserer Geschichte.

Und wie ging es damals weiter? Der Schwede kehrte dann angeblich in seine Heimat zurück und machte dort seinem Leben ein Ende. John und ich waren von alledem fasziniert und fragten den Alten weiter nach seiner Bekanntschaft mit Magnus Hirschfeld, über den er uns noch einiges erzählte. Aber davon behielten wir dann kaum etwas, weil wir nun Näheres über das Paar erfuhren, das da vor uns saß: Die Beiden wohnten mietfrei in einem Zimmer auf dem Campus und schliefen im gleichen Bett. Wie das zustande kam, warum sie ausgerechnet in Stanford gelandet waren, warum sie zusammen lebten, und wie intim ihr Verhältnis wirklich war, fanden wir nicht mehr heraus. Ich sagte es ja schon: Wir hätten unbedingt ein zweites Treffen organisieren und die Berichte dieser ungewöhnlichen Menschen dokumentieren sollen. Auch John de Ceccos Journal of Homosexuality hätte davon profitieren können. Es ist ein Versäumnis, das ich mir heute selbst kaum verzeihen kann. Aber wie das im akademischen Betrieb manchmal so geht: Wir wurden jeweils von anderen, unmittelbar dringenden Angelegenheiten abgelenkt, und so versäumtem wir beide diese nie wiederkehrende Gelegenheit.

55. Außerdem wird hier und da immer noch nach der Ursache von Homosexualität gesucht, weiß der Teufel, warum. Das Problem hat sich ja eigentlich schon vor Jahrzehnten erledigt. Bereits der Mediziner Hirschfeld hatte immer betont: Geschlechtsunterschiede sind Gradunterschiede, und das betrifft nicht nur das körperliche Geschlecht (Stichwort: Intersexualität) und die Geschlechtrolle (Stichwort: Transgender), sondern eben auch die sexuelle Orientierung (Stichwort: Bisexualität). Wie dann der Biologe Kinsey später definitiv nachweisen konnte, ist die Homosexualität keine Frage von schwarz oder weiß, sondern liegt, wie das allermeiste andere in der Natur, auf einem Kontinuum. Sie ist also keine Ausnahme von der Regel, sondern deren Bestätigung: Die sexuelle Orientierung ist einfach ein weiteres Beispiel der Variationsbreite, die uns überall in der Natur begegnet, und die keiner weiteren Erklärung bedarf. Auch bei Vögeln und Säugetieren in freier Wildbahn findet sich homosexuelles Verhalten. Es ist dann ebensowenig allgemein oder typisch wie beim Menschen, kommt aber natürlich bei einer Minderheit der Tiere eben doch vor. Wenn man also eines Tages in irgendwelchen Chromosomen und Genen Anhaltspunkte für Einflüsse auf die sexuelle Orientierung finden sollte, so könnte man das sicherlich begrüßen, aber an dem auch hier herrschenden Prinzip eines natürlichen biologischen Spektrums ändert es nichts. Man hätte dann eben erklärt, wie ein gewisser Teil dieses Spektrums zustande kommt. Gänzlich uninteressant wäre das nicht, aber in Wirklichkeit geht es ja gar nicht um solche Teilabschnitte, sondern um die Bereitschaft, das Spektrum als ganzes überhaupt wahrzunehmen. Aber gerade daran fehlt es. Ein eingefahrenes Kästchendenken, auch unter Wissenschaftlern, produziert hier bis heute eine falsche Alternative. Ihr eigentliches Motiv ist aber gar nicht die taxonomische Abgrenzung, sondern die soziale Ausgrenzung von Homosexuellen. Ein anderes Beispiel macht das deutlich: Der Nachweis, dass die menschliche Hautfarbe genetisch bedingt ist, hat noch nie und nirgendwo den Rassismus beendet. Das Spektrum der Hautfarben reicht bekanntlich von sehr hell über verschiedene Brauntöne bis hin zu tief dunkel. Von welcher Stelle dieses Spektrums an eine dunkle Färbung zum Objekt des Rassismus wird, hängt von den Vorurteilen der betreffenden weißen Gesellschaft ab. Es ist immer die Gesellschaft, nicht die biologische Forschung, die hier irgendwo eine willkürliche Grenze zieht und eine klare Unterscheidung will. Ganz so verhält es sich auch bei der angeblich wissenschaftlichen Abgrenzung von Homosexuellen vom Rest der Bevölkerung.
Das wird auch von schwulen Forschern nicht immer erkannt, die aus sozialpolitischen Gründen selbst an einer Abgrenzung arbeiten. Sie suchen unverdrossen weiter nach einer biologischen Ursache der Homosexualität und verkennen dabei, dass die Biologie ihnen die Antwort längst geliefert hat, und diese Antwort heißt: Natürliche Vielfalt. Das aber wollen diese Forscher nicht hören, denn sie wollen ihre Suche nach einer klaren Unterscheidung für einen noblen sozialpolitischen Zweck nutzen: Im Kampf um ihre Rechte fordern sie von möglichst vielen Betroffenen ein klares Bekenntnis zur Homosexualität und hoffen so, die Zahl ihrer Mitstreiter zu vergrößern. Als sichtbare, große sexuelle Minderheit wollen sie dann den notwendigen Reformdruck auf die Gesellschaft zu erhöhen. Diese Strategie hat sich in den Ländern des Westens auch als durchaus erfolgreich erwiesen.
In der Sexualwissenschaft aber geht es nicht um politischen Erfolg oder Misserfolg, sondern allein darum, die sexuelle Wirklichkeit zu entdecken, zu beschreiben und zu verstehen. Und diese Wirklichkeit besteht nun einmal nicht in einer Dichotomie hetero - oder homosexuell, sondern in einem Kontinuum von Orientierungen. Und so liegen auch die Bisexualitäten selbst wiederum auf einer gleitenden Skala von Zwischenstufen. Eine wirkliche gesellschaftliche Toleranz ist erst dann erreicht, wenn die gesamte Skala akzeptiert wird, von einem Ende bis zum anderen. Das muss das Endziel auch der schwulen Forscher sein. Die Befreiung von Homosexuellen allein genügt nicht. Im Gegenteil: Die irrige Vorstellung, es gäbe eine solche, eindeutig erkennbare und klar definierbare Gruppe, kann leicht zu neuer Verfolgung führen. Repressive Regierungen in Afrika und in manchen islamischen Ländern, nutzen heute die angebliche Existenz von klar identifizierbaren Homosexuellen, um genau damit ihre Repression zu rechtfertigen. So verlangt man etwa für die juristische Verschonung von Homosexuellen den Nachweis, dass sie als solche geboren sind, oder man führt absurde und demütigende Homosexualitätstests durch, die völlig willkürlich einige der Getesteten be- und andere entlasten. Auch in Europa wurden teilweise von Asylsuchenden solch ein Nachweis verlangt, wenn sie ihre Homosexualität als Verfolgungsgrund in ihren Heimatländern angaben. Auch hier wurde versucht, verschiedene Tests anzuwenden, die aber allesamt wissenschaftlich unsinning sind. Die Behauptung: Ich bin homosexuell ist eben grundsätzlich weder zu beweisen, noch zu widerlegen. Dafür ist der Begriff der Homosexualität zu unscharf und zu vieldeutig. Deshalb hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Luxemburg auch keine Wahl, als solche Tests für unzulässig zu erklären (im Dezember 2014). 
Der gesellschaftliche Widerstand gegen die Wahrnehmung der sexuellen Realitäten ist aber immer noch erheblich und wird am Ende wohl nur durch beharrliche Aufklärung zu überwinden sein. Wie mein alter Freund, der Biologe Milton Diamond, nicht müde wird zu wiederholen: Nature loves variety, unfortunately society hates it. (Die Natur liebt die Vielfalt, doch die Gesellschaft hasst sie leider.) Damit ist eine unserer wichtigsten Aufgaben als Sexologen beschrieben: Wir müssen die Erkenntnisse unserer Wissenschaft weltweit so leicht wie möglich zugänglich machen und so eine echte Toleranz befördern. Ohne sie kann es keine sexuelle Gesundheit geben.

56. Einige dieser Forschungen erscheinen regelmäßig in der Zeitschrift der International Academy of Sex Research (IASR) Archives of Sexual Behavior Ed. K. Zucker, Verlag Springer, New York, N.Y. Ein neueres Beispiel für eine gute sozialhistorische Studie ist Victor Minichiello and John Scott eds.: Male Sex Work and Society, Harrington Park Press, New York 2014, pp. 489

57. Pornhub Insights: 2017 Year in Review
Plus: 50 Shades of Pornhub
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Infidelity site Ashley Madison hacked as attackers demand total shutdown
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58. Ein typisches Werk ist z. B. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft - Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt 1965, Suhrkamp. Ursprünglich Englisch: Eros and civilization. A philosophical inquiry into Freud. The Beacon Press, Boston 1955

59. Reiche, Reimut. Sexualität und Klassenkampf: zur Abwehr repressiver Entsublimierung. Vol. 9. Verlag Neue Kritik, 1968.

60. Charles Socarides: Der offen Homosexuelle, Reihe: Literatur der Psychoanalyse, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1971, Hg. Von Alexander Mitscherlich. Ursprünglich The Overt Homosexual, New York 1968. Dem Autor Socarides selbst widerfuhr übrigens später eine gewisse poetische Gerechtigkeit: Sein Sohn Richard wurde als offener Homosexueller Präsident Bill Clintons amtlicher Berater für schwul-lesbische Belange.

61. Noch 1985 warf mir Volkmar Sigusch vor, ich sein ein wissenschaftlich unqualifizierter Medienheroe, der Millionen Bisexuelle erfindet. (Sexualmedizin 10/1985, pp 538-539). Ich konnte daraus nur schließen, dass er die Reports des bisexuell aktiven Alfred Kinsey von 1948 und 1953 entweder nicht gelesen oder nicht verstanden hatte. Es geht hier ja nicht um eine bestimmte größere oder kleinere Menschengruppe, sondern um ein durchaus nicht seltenes Sexualverhalten. Das beweisen ja auch die jahrzehntelang penibel geführten persönlichen Statistiken des Dr. X, die allerdings bisher noch auf ihre genaue Auswertung warten. Ich selbst hatte schon eine reale Tragödie erlebt, denn ein bisexueller guter Freund war inzwischen an AIDS gestorben. Was Sigusch dann fünf Jahre später von meinem Bisexualitäten-Kongress 1990 hielt, kann ich nur erahnen. Dafür lieferten auch mehrere Mitglieder der International Academy of Sex Research (IASR) wichtige Beiträge. (Siehe auch unter Anmerkung 42)
Was mich betrifft, so war ich mir schon seit meiner Studentenzeit grundsätzlich über das Problem im Klaren, einfach durch die Lektüre von Voltaires Candide. Darin wird eine ursprünglich rein homosexuelle Übertragungsbahn der Syphilis durch einen bisexuellen Pagen in eine heterosexuelle Richtung abgezweigt, die dann schließlich auch Candides Philosophielehrer Pangloss erreicht. Was also im 18. Jhdt. allen Lesern Voltaires noch völlig geläufig gewesen war, hatte ausgerechnet der Sexualforscher Volkmar Sigusch im 20. Jhdt. inzwischen vergessen. Später wurde ich über die bisexuelle Infektionsbrücke von AIDS durch meine CDC-Besuche in Atlanta GA weiter aufgeklärt und ganz besonders auch durch den eminenten Epidemiologen Don Francis. Schließlich gaben die epidemiologischen Erhebungsbögen -  nicht nur in den USA -  die irreführenden Unterscheidungen von Homosexuellen, Heterosexuellen und Bisexuellen ganz auf. Stattdessen konzentrierte man sich auf das konkrete Sexualverhalten, das bei solchen Pauschalkategorisierungen leicht aus dem Blickfeld gerät. Zur näheren Erläuterung siehe auch den Abschnitt Praktische Folgerungen in meinem Aufsatz über Bisexualitäten.

62. Dabei braucht man gar nicht auf Thomas Szasz und seine Fundamentalkritik an der Psychiatrie zu verweisen. Auch ansonsten systemkonforme amerikanische Fachleute übten immer wieder Kritik an der Medikalisierung der SündenEin gutes Beispiel ist das Buch des amerikanischen Psychiaters und DSM-Kritikers  Allen Francis: Saving Normal: An Insider's Revolt against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life, New York,William Morrow 2013

63. Sexual Health ff.

64. Sexological Training Programs

65. Fachhochschule Merseburg, Sexualpädagogisches Zentrum Merseburg

66. z.B. W. Eicher: Sexualmedizin in der Praxis 1980; K. M. Beier, H. Bosinski, U. Hartmann und K. Loewit: Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis 2000; V. Sigusch: Praktische Sexualmedizin 2005. Meine frei zugängliche Online-Bibliothek bietet in englischer Sprache ein gründliches, praxisorientiertes sexualmedizinisches Lehrbuch

67. Die wichtigste dieser Umfragen war die amerikanische: Edward O. LaumannJohn H. GagnonRobert T. Michael, and Stuart MichaelsThe Social Organization of Sexuality, University of Chicago Press 1994. Die britischen und französischen Umfragen wurden nicht von Sexualwissenschaftlern durchgeführt und hatten deshalb erhebliche methodische Mängel: K. Wellings , J. Field , A. M. JohnsonSexual Behaviour in Britain: The National Survey of Sexual Attitudes and LifestylesPenguin Books, 1994, und D. Acheson, Anne M. Johnson, J. Wadsworth and J. Field: Sexual Attitudes and Lifestyles, Blackwell 1994. Die französische Umfrage, durchgeführt an einer viel zu kleinen Stichprobe, teilweise per Telefon und teilweise in persönlichen Interviews durch ungeschulte Interviewer, war wissenschaftlich praktisch wertlos: Analysis of sexual behaviour in France (ACSF). A comparison between two modes of investigation: telephone survey and face-to-face survey. ASCF principal investigators and their associates. In AIDS, Official Journal of the International AIDS Society, March 1992

68. M. DanneckerHomosexuelle Männer und AIDS. Eine sexualwissenschaftliche Studie zu Sexualverhalten und Lebensstil, Köln: Kohlhammer, 1990. (Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Bd. 252).


Anhang

Das Folgende ist eine Anmerkung in einem meiner Aufsätze, in der ich das Versagen bekannter amerikanischer und deutscher Sexologen angesichts der AIDS-Epidemie beklage.

Aus: Erwin J. Haeberle, AIDS und die Aufgaben der Sexualwissenschaft, in: Sexualitäten in unserer Gesellschaft, Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung 2, Hg. R. Gindorf, E.J. Haeberle, Walter de Gruyter, Berlin/New York, 1989, S. 63-84, Anmerkung 19:

19. In den USA … hat Helen Singer Kaplan, eine sonst sehr angesehene Sexualtherapeutin, in ihrer Zeitschrift Journal of Sex & Marital Therapy (vol. 11, Nr. 4, Winter 1985) einen sehr kurzsichtigen und in Einzelheiten medizinisch unsinnigen Leitartikel zum Thema AIDS verfaßt. (Er wurde außerdem von ihren Mitherausgebern Clifford Sager und Raul Schiavi unterschrieben.) Kaplan behauptet hier u.a., daß "65% der asymptomatischen Virusträger niemals die (?) Krankheit bekommen werden." Für diese Behauptung gibt es keine Beweise (und kann es bisher auch nicht geben!) Kein ernsthafter Forscher hat heute solche gesicherten Zahlen zur Verfügung oder würde entsprechende Voraussagen machen. Kaplan behauptet ferner, daß "immunopositive (?) Individuen niemals mehr Sexualkontakt haben ("have sex") können, ohne das Leben ihrer ... Partner zu gefährden." Sie behauptet auch: "Ansteckungssicheren Sex ("safe sex") gibt es nicht". Diese Behauptung ist nicht nur offensichtlich falsch, sondern verrät auch ein sehr beschränktes Verhältnis von den Möglichkeiten des Sexualkontakts - bei einer Sexualtherapeutin besonders seltsam. Zur Vorbeugung fällt ihr dann das Folgende ein: "Alle ledigen Männer und Frauen sollen mit Partnern aus den Hochrisikogruppen nur noch sexuell verkehren, wenn diese einwilligen, sich testen und abklären zu lassen". Dieser Ratschlag ist leider weitgehend unsinnig, da jede "Abklärung" durch einen HIV-Antikörpertest nur nach mehrwöchiger (oder gar mehrmonatiger) Wiederholung Sicherheit böte, und dann auch nur für den einen Tag, an dem der zweite Test "erfolgreich bestanden" ist. Solch ein Test kann eben sehr leicht ,falsch negativ' ausfallen, da nach einer Infektion die gesuchten Antikörper einige Zeit brauchen, um sich zu bilden. Andererseits sind sie bei einigen schweren Fällen von AIDS auch gar nicht mehr auffindbar, obwohl das Virus selbst natürlich durchaus noch übertragen werden könnte. Wichtiger als jeder Test bleiben daher die auch von der WHO empfohlenen Techniken des ,ansteckungssicheren' Sexualkontakts. (S. Anm. 10 supra.) Kaplan fordert dann weiter, daß "alle Personen, die Sexualkontakt mit multiplen Partnern haben, getestet werden. Dies schließt besonders sexuell aktive schwule ("gay") Männer ein, die nicht in monogamen Beziehungen leben, und Prostituierte". Folgerichtig fährt sie dann fort: "Die Sexualkontakte aller Infizierten sollten ermittelt und getestet werden". Kaplan schließt mit diesem erhebenden Appell: "Als Therapeuten fühlen wir Empathie und Mitleid mit den Patienten, die AIDS haben oder das AIDS-Virus in sich tragen, oder die Partner solcher Individuen sind ... Aber außerdem haben wir als Sexualtherapeuten jetzt eine viel schwerere Verantwortung. Wir sind in der besonderen Position, zahllose zukünftige und völlig unnötige Todesfälle zu verhindern, und unsere erste Priorität sollte sein, zu helfen, daß sich AIDS nicht weiter durch sexuellen Kontakt ausbreitet, indem wir an die Vernunft und das gute Gewissen von hochgefährdeten Individuen appellieren." - Als Kommentar zu diesem Leitartikel genügt es vielleicht, darauf hinzuweisen, daß Kaplan die sozialpolitischen Implikationen von Massentestungen ignoriert. Eine "Erfassung" aller Virusträger muß zwangsläufig zu konterproduktiven Repressionsmaßnahmen führen, besonders, wenn es stimmt, daß, wie sie behauptet, ansteckungssicherer Sex nicht existiert. (Gottseidank gibt es ihn aber doch!) Außerdem versteht Kaplan nicht, daß die Ermittlung von Sexualkontakten bei AIDS ohnehin zu keinem sinnvollen Ergebnis führen kann. Da zu erwarten ist, daß alle amtlich bekanntgewordenen Virusträger zu Opfern erheblicher Diskriminierung werden, werden die zunächst ermittelten ,Testpositiven' ihre wirklichen Partner nicht nennen. Sie werden im Gegenteil - kurz und drastisch gesagt - zu 90% behaupten, sie hätten sich auf einer Geschäftsreise bei einer ihnen unbekannten ,fixenden Nutte' angesteckt. Unter den Umständen schadet ein solcher Leitartikel nicht nur Kaplans eigenem Ansehen, sondern auch dem ihrer sexologischen Kollegen, denn sie alle geraten nun unter den Verdacht, mögliche Handlanger für Diskriminierung und staatliche Repression zu sein. Und leider nicht nur das: Die medizinischen Fehlinformationen und die verengte Sicht sexueller Möglichkeiten, die aus dem Artikel spricht, müssen in der Öffentlichkeit erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Sexologen wecken. Für die unmittelbar Gefährdeten aber, die es besser wissen, klingen Kaplan's hochtönende Worte von ,Empathie', ,Mitleid', Verantwortung', ,Vernunft' und ,gutem Gewissen' wie reiner Hohn. Für eine ausführliche Kritik an Kaplans Leitartikel siehe Erwin J. Haeberle: "AIDS and the Sex Therapist - A Rebuttal", Sexuality Today, vol. 9, Nr. 18 (17. Februar 1986).

Mangelndes Fachwissen verrieten leider auch einige deutsche Sexualwissenschaftler, die in einem Sonderheft Konkret-Sexualität (März 1986) verschiedene apodiktische Erklärungen zum Thema ,Operation AIDS: Das Geschäft mit der Angst - Sexualforscher geben Auskunft' anboten. Wo Kaplan aber unnötig dramatisiert und - bewußt oder unbewußt - repressiven Maßnahmen das Wort redet, versuchen ihre deutschen Kollegen, die Gefahr überhaupt zu verharmlosen. So behauptet dort etwa Gunter Schmidt (S.9): "Die Hochrechnungen sind sozialpsychologisch falsch, weil sie in den nichtriskierten Gruppen (die ja über 95% der Bundesbevölkerung ausmachen) die gleichen Sexualgewohnheiten voraussetzen, wie bei den männlichen Homosexuellen." Dies tun die Hochrechnungen jedoch nicht. Sie setzen nur voraus, daß das Virus durch infizierten Samen sexuell übertragbar ist, und daß viele Homosexuelle und ,Fixer' bereits infiziert sind. Laut Schmidt machen nun aber alle Mitglieder aller heute hoch gefährdeten Gruppen (homosexuelle und bisexuelle Männer und Drogenabhängige beider Geschlechter) und deren Sexualpartner und -Partnerinnen alle zusammen weniger als 5% der Bevölkerung aus. Dazu ist zu sagen: 1. Schmidt suggeriert hier, daß AIDS ein ,Minderheitenproblem' ist und bleiben wird, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sich also keinerlei Sorgen um eine eigene Ansteckung zu machen braucht und die weniger als 5% betroffenen' schlimmstenfalls ausgrenzen könnte. 2. Schmidts Prozentzahl steht in eklatantem Widerspruch zu jeder sexualwissenschaftlichen Erkenntnis schon allein über bisexuelles Verhalten unter Männern. Laut Kinsey (s.o.) reagieren 46% der männlichen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens körperlich oder seelisch irgendwann bisexuell, und 37% haben wenigstens eine reale homosexuelle Erfahrung bis zum Orgasmus zwischen Adoleszenz und hohem Alter. 30% aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren. 25% haben mehr als einzelne solcher Erlebnisse in diesem Zeitraum, 18% haben mindestens genau so viele homosexuelle wie heterosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen, und 10% aller Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten durch mindestens drei Jahre im Alter von 16-55 Jahren. (Kinsey: Sexual Behavior in the Human Male, S.650-651 und 656) Selbst wenn man nun bedenkt, daß Kinsey keine absoluten Zahlen für potentiell infektionsträchtige bisexuelle Konktakte liefert, und selbst wenn man seine Prozentzahlen als ,übertrieben' herunterschraubt, so bleiben dennoch die Behauptungen von Schmidt völlig außerhalb jeder wissenschaftlich begründbaren Diskussion. Schmidt fragt darauf anklagend (S.10): "Wo bleibt die Dimension der AIDS-Angst angesichts des Hungers und des Elends in der sogenannten Dritten Welt?" - Ein seltsamer Vorwurf, da man ja andererseits weiß, daß in einigen Gebieten der Dritten Welt AIDS heute schon ein größeres Problem darstellt als in den westlichen Industrieländern. - Ulrich Clement kritisiert, daß die üblichen AIDS-Kurven in der Presse einen kumulativen Inzidenzverlauf zeigen, wo doch ein zeitlicher Inzidenzverlauf sehr viel weniger bedrohlich wirkt (S.38-39). Das ist aber durchaus Ansichtssache, wie die zeitlichen Inzidenzraten etwa für San Francisco und die USA insgesamt zeigen:

San Francisco USA insgesamt
1981 neue AIDS-Fälle: 24 260
1982 neue AIDS-Fälle: 94 994
1983 neue AIDS-Fälle: 294 2719
1984 neue AIDS-Fälle: 501 5331
1985 neue AIDS-Fälle: 760 ca. 7000 (genaue Meldung steht z.Zt. noch aus)
1986 (erstes Viertel) 240

Wie man sieht, flacht die Kurve der AIDS-Neudiagnosen nach einem ersten, rapiden Anstieg in der Tat etwas ab (obwohl sie weiter steigt). Dies Bild ist aber insofern trügerisch, als die Neudiagnosen von ARC hier fehlen (schätzungsweise zehnmal soviel) und natürlich auch die Neuinfektionen (schätzungsweise hundertmal soviel). Bei der langen Inkubationszeit der verschiedenen durch das Virus hervorgerufenen Krankheiten, die sich im Laufe der Jahre sowohl zeitweilig bessern wie auch verschlimmern können, ist diese Kurvenabflachung also nur ein schwacher Trost. In Deutschland jedenfalls wird sie nicht sofort eintreten, denn dort steht zunächst einmal der anfängliche rapide Anstieg bevor. - Martin Dannecker wendet sich gegen eine massive Propagierung von ,Safe Sex', die eine Ehrenrettung der Masturbation einschließt. Diese "neue Sexualmoral" lehnt er ab, da "diese autistische und auf sich selbst zurückgeschmissene Sexualität... ein unreifes Verhalten ist und bleibt." (S.17) Und wie ein Psychiater des 19. Jahrhunders pathologisiert er weiter: "Ich bin inzwischen davon überzeugt, daß bei ungefähr fünfzehn Prozent der Homosexuellen das promiske Verhalten zwanghaft ist. Für diesen Teil kann man mit aller Vorsicht auch von einem süchtigen Sexualverhalten sprechen." (S. 19) Lassen wir die Frage beiseite, wie Dannecker zu seiner Prozentzahl kommt (sie ist als subjektiver Eindruck aus der Luft gegriffen), und bemerken wir nur den pseudowissenschaftlichen Versuch, wenigstens einen Teil der Homosexuellen wieder als krankhaft hinzustellen. Eine solche neuerliche Diffamierung - da nützt auch ,alle Vorsicht' nichts - würde von den amerikanischen ,Schwulen' jedoch mit Recht bekämpft werden. Ob die deutschen sich so etwas gefallen lassen, muß die Zukunft zeigen. Streng wissenschaftlich gesehen, bewegt sich Dannecker hier jedenfalls auf den Spuren von Krafft-Ebing im Bereich kulturspezifischer Werturteile. Moralisch tadelnde Begriffe wie "Süchtigkeit" und "Promiskuität" gehören nicht mehr in eine moderne, sich vor allem als empirisch verstehende Sexualwissenschaft. - Auch Volkmar Sigusch klammert sich an die romantische Ideologie unserer Vorväter und möchte "auf dem unabstellbar Triebhaften beharren" (S.72). Ja, er stellt befriedigt fest: "Die hiesige Sexualwissenschaft ... hat ... in Sachen "Safer Sex" vollkommen versagt, erfreulicherweise" (ibid.). Dem ist leider nichts hinzuzufügen außer, daß hier wenig Anlaß zur Freude besteht. Wer auf eine Vorbeugung gegen AIDS durch Verhaltensänderung rechnet, darf sich nicht mehr an deutsche universitäre Sexualforscher wenden. Sigusch hält aber ohnehin die Angst vor AIDS angesichts der Hunderttausend für übertrieben, die "jedes Jahr ... an Herzversagen, Krebs, Alkohol, Nikotin und anderen Drogen sterben" (S. 70). Ja, er fragt vorwurfsvoll: "Wer denkt... schon daran, ... daß mehr junge Frauen ... an der sogenannten Pille gestorben sind als Riskierte an AIDS?" (S.71). Kurz: wenn Epidemiologen zwischen Infektions- und anderen Krankheiten unterscheiden, dann sind sie gedankenlos; statistisch ist das Human Immunodeficiency Virus immer noch harmloser als ,die Pille', und wer auf schnell ansteigende Fallzahlen verweist, erzeugt nur unnötige Panik. Die von amerikanischen ,Schwulen' für sich selbst entwickelten Schutzmaßnahmen sind unter diesen Umständen repressiv, oder, wie Günter Amendt - sachlich falsch - formuliert: ,"Safe Sex' ist eine Sexualkampagne, die von oben kommt und aus den USA. ,Safe Sex' ist eine Hygiene-Kampagne, die eine neue repressive Sexualordnung propagiert. ,Safe-Sex' ist Ausdruck des US-amerikanischen Moral-Imperialismus ... Buchstabiert man AIDS von hinten, dann gelangt man mitten ins SDIAmerika" (S. 26). Hier nun werden sexualwissenschaftliche Inkompetenz und ein quasi automatischer Antiamerikanismus lebensgefährlich, denn sie können, wenn von Konkretlesern ernst genommen, bei vielen zu Sorglosigkeit, Unvorsichtigkeit, dann zu einer Infektion, zur Krankheit und endlich zum Tode führen. An diesen Beispielen - dem amerikanischen und dem deutschen - wird deutlich, wie wir sexologisch Interessierten uns nicht verhalten dürfen. Nach Kaplan "gibt es keinen 'Safe Sex'"; nach Amendt gibt es ihn zwar, er ist aber repressiv. In beiden Fällen ist die Ausrede perfekt - von beiden Seiten wird nichts für die Vorbeugung getan.

Und hier der Kontrast: Noch im gleichen Jahr des Konkret-Heftes, 1986, übernahm der US-Surgeon General, Dr. Everett Koop, die von schwulen Ärzten entwickelte und von den Centers for Disease Control (CDC) empfohlene Vorbeugungsstrategie. Er schickte eine entsprechende Broschüre an alle amerikanischen Haushalte. Darin empfahl er eine allgemeine Sexualerziehung und den Gebrauch von Kondomen. Siehe auch hier